Syffelheim war kein angenehmer Ort. Das Dorf lag in einem öden Landstrich, nördlich der letzten Ausläufer des Bärenmarker Walds, und damit fast am Fuß der Gebirgskette der Steilen Zähne, die nach der Meinung der meisten zivilisierten Menschen das Ende der Welt markierten.
Der Boden um Syffelheim war steinig und unfruchtbar, die
wenigen Pflanzen, die dennoch hier wuchsen, hatten den Liebreiz einer rostigen Streckbank
und stanken schlimmer als Jauche.
Wer in Syffelheim lebte, tat das, weil er sich sonst
nirgendwo mehr blicken lassen durfte. Von fast jedem Bewohner Syffelheims gab
es in den Städten der südlichen Reiche öffentliche Aushänge wenig
schmeichelhafter Portraits, auf denen auch immer eine Geldsumme angegeben war,
die jeder bekommen sollte, der zumindest die abgebildeten Teile der Anatomie
vorzeigen konnte.
Diese Eigenheit Syffelheims war allerdings auch die Quelle
des erstaunlichen Wohlstands des Dorfes. Wenn eine Person eine Angelegenheit erledigt
wissen wollte, die nur jemand erledigen würde, der nichts mehr zu verlieren
hatte, dann schickte diese Person über einen Vermittler einen Vermittler zu
einem Vermittler nach Syffelheim, und Goldmünzen wechselte den Besitzer. Die
Angelegenheit wurde erledigt.
Achtzehn der einundzwanzig Gebäude Syffelheims beherbergten Betriebe,
die offiziell unter Namen wie 'Gasthaus', 'Bierkeller' oder 'Weinschänke'
liefen, in denen aber hauptsächlich Vergnügungen angeboten wurden, die selbst
einem Berserker aus der Horde Hauleif des Schänders die Schamröte ins narbige
Gesicht getrieben hätten. Die drei restlichen gehörten einem Waffenschmied,
einem Giftmischer und der Totengräberin; jede von ihnen eine vielbeschäftigte Person.
Die Bewohner Syffelheims waren schon grundsätzlich ein
niederträchtiger, reizbarer und gewalttätiger Haufen – die Einwohnerzahl des
Dorfes änderte sich beinahe stündlich, meist nach unten. Aber nachdem seit nun
fünf Wochen eine geradezu unnatürliche Hitze herrschte, Bier und Wein knapp wurden
und sogar erste Menschen eines natürlichen Todes starben, war die Stimmung
vergleichbar mit einem Tornado, der seinen Rüssel noch nicht ganz auf den Boden
gesenkt hat. Syffelheim war wirklich kein angenehmer Ort.
*
Der niedrige Schankraum im Gasthaus 'Zur rohen Blutwurst'
war dunkel, heiß und feucht. Schwere, mürrische Männer, von denen die meisten
es an Größe, Gewicht, Geruch und Behaarung mit einem Bären aufnehmen konnten,
schwitzten in ihre Bierkrüge. Niemand sprach. Es war Mittag, und durch die
Löcher in den Vorhängen vor den Fenstern stachen gleißend weiße Speere aus
Sonnenlicht, als sei draußen der Jüngste Tag angebrochen.
Obwohl es nach dem Kalender bereits der Monat der Brotmutter
war, brannte die Sonne auf Syffelheim herunter wie im Mittsommer auf die
Scharrende Wüste, die mehr als zweihundertfünfzig Tagesmärsche weiter im tiefen
Süden lag.
Hätten sie davon gewusst, wäre dieser Vergleich den Männern
in der 'Rohen Blutwurst' völlig egal gewesen. Ihnen war es im Jetzt und Hier
viel zu heiß, und ihre Stimmung als 'gereizt' zu bezeichnen, war etwa so
passend, wie einen hundert Stein schweren wilden Eber mit Zahnschmerzen ein
'aufgeregtes Ferkel' zu nennen.
Es bedurfte nur noch eines kleinen Auslösers, eines
Katalysators, vielleicht nur der Erhöhung der Temperatur des Schankraums durch
die Wärme eines einzigen Körpers mehr, um die wuterfüllte Trägheit in rohe,
blutige Gewalt zu wandeln. Oder Schlimmeres.
Syffelheim war kreativ in seinen Exzessen.
Ein möglicher Auslöser von Exzessen war gerade unterwegs,
sein Ziel war die Tür der 'Rohen Blutwurst'.
Allerdings war er kein kleiner Auslöser, sondern ein
fast dreihundert Pfund schwerer Barbar aus den eisigen Gebieten jenseits der Steilen Zähne (die zurecht nach der Meinung der meisten zivilisierten Menschen
das Ende der Welt markierten). Nichts von seinen dreihundert Pfund hatte etwas
mit Fett zu tun. Ihm war heiß. Er hatte sich verlaufen. Bei dem Versuch, eine
Wildkatze zu seinem Mittagessen zu machen, war er in den linken Zeigefinger
gebissen worden. Dann hatten ihn noch drei Wespen gestochen.
Er hatte Hunger, Durst, ein zwei Meter langes Breitschwert und
ein Gemüt wie eine Springflut.
Sein Name war Barn.
*
Die Tür der 'Rohen Blutwurst' war – natürlich – dunkelrot
gestrichen. Ein besonders kreativer Anstreicher hatte mit einem Schwamm noch
weiße Quadrate darauf getupft, um den Speck darzustellen.
Barn der Barbar zögerte kurz. Er blickte auf zu dem großen,
hölzernen Schild, das über der Tür hing.
Jedes Haus in diesem Dorf hatte ein Schild über der Tür und
gab sich damit als Wirtshaus zu erkennen, aber kein Schild sprach ihn so an wie
dieses hier. Es zeigte alles, was ihm am Leben gefiel – Würste, Mädels,
Schweinebraten, Rosenkohl, Gewalt, Speck, Waffen und Bierkrüge – und das in
einer so verwirrenden Mischung, dass er nicht wusste, wo das eine anfing und
das andere endete.
Zivilisierte Menschen hätten das Schild als 'absolut
unerträglich, ekelhaft und widerwärtig' bezeichnet. Barn fand es
vielversprechend.
Ein Schweißtropfen rann die kräftige Nase des Barbaren
hinab. Er wusste, dass in seinem Geldbeutel – wie so oft – Leere herrschte, und
die Wahrscheinlichkeit, dass er hinter der dunkelroten Tür etwas zu essen und
zu trinken bekam, sehr gering war. Aber er war in den lebensfeindlichen Eisöden
des hohen Nordens groß geworden, und 'Wahrscheinlichkeit' gehörte nicht zu
seinem ohnehin recht beschränkten Wortschatz.
Mit einem kräftigen Tritt stieß er die dunkelrote Tür auf.
*
Jedes Gesicht in der 'Rohen Blutwurst' drehte sich zum
Eingang der Schänke, als die Tür nach innen flog und weißes Licht, Hitze und
Staub wie ein höllischer Fanfarenstoß in die Schankstube explodierten.
Der schwarze Umriss eines riesenhaften Mannes stand inmitten
des gleißenden Infernos im Türrahmen, und für einen Augenblick regte sich
selbst im Herzen des abgebrühtesten Mörders abergläubische Furcht vor dem Ende
der Welt.
Die Furcht schwand allerdings schnell, als der schwarze
Umriss mit rauer, tiefer Stimme rief: "Ho, gute Leute, hab't ihr'n Schluck
Bier für'n Wanderer, der sich verlaufen hat?"
Ibram Schkritz, genannt 'der Salzer' wegen der Methode, mit
der er Menschen zum Reden brachte, rollte ein dumpfes Grollen in der Kehle. "Wir
sin' keine guten Leute, un' wenn die Tür nich' gleich wieder zu is', beweisen
wir's dir auch."
Der Barbar, vertraut mit den Ritualen des Eintritts in eine
Schänke voller Schurken, trat ein und drückte die Tür hinter sich zu.
Durch das gewaltsame Auftreten war allerdings ihr Schloss
beschädigt worden. Die Tür blieb leicht verkantet, so dass ein Lichtstrahl
genau auf das Gesicht eines Mannes mit nur noch einem Auge fiel. "Ey,
Depp, mach' das Licht aus meiner Fresse!" brüllte 'Klops' Freydmann, der
aus beruflichen Erwägungen keine Augenklappe trug, sondern das narbige Loch
seiner leeren Augenhöhle zur Einschüchterung seiner Zeitgenossen jeden Morgen
mit roter Farbe ausmalte.
Barn rammte eine Schulter wuchtig gegen die Tür. Das Holz
stöhnte gequält, der Lichtstrahl verschwand. Klops grunzte und senkte sein
Gesicht wieder in seinen Bierkrug.
Barn blinzelte ins Dunkel – nach der grellen Helligkeit des
Tages draußen, die in seinen Augen immer noch als unfarbener Sternenschleier
tanzte, war es, als sei er in tiefes, kühles Wasser getaucht. Es dauerte eine
Weile, bis er Schatten von Schatten unterscheiden konnte: die breiten,
gebeugten Rücken wildhaariger Männer über klobigen Tischen; die blassen,
schweißnassen Ovale ihrer erschöpften Gesichter; weiter hinten, in rotem Licht,
eine Bühne, auf der sich verschlungene, nackte Leiber umeinander wälzten wie
ein Nest schlüpfender Schlangen. Dazu blies ein dicker Mann auf einem
dreibeinigen Hocker trüb in eine Nasenflöte.
Bei Gruunz, was war denn
das für ein Wirtshaus?
Aber für einen Rückzug war es längst zu spät. Einer
Gesellschaft, wie sie hier in der Schankstube versammelt war, wandte man nicht
den Rücken, wenn man am Leben hing.
"Ho, Wirt, ein kühles Bier!" rief Barn, während er
nach einem freien Tisch Ausschau hielt.
Er war während seiner zahlreichen ziellosen Wanderungen
schon in einige üble Spelunken geraten, hatte Prügel empfangen und ausgeteilt,
war meistens siegreich gewesen, manchmal aber auch mit schmerzendem Schädel und
völlig nackt in der Gosse aufgewacht. Was allerdings hier mit ihm passieren
würde, das war ihm unklar.
Auch wenn er nach den Maßstäben der meisten sich als
zivilisiert betrachtenden Menschen als ein rüder, brutaler und hemmungsloser
Barbar galt, so hatte er doch Prinzipien und einen simplen Ehrenkodex, und
nichts davon hatte hier irgendeinen Wert, das spürte er in jeder Faser seines
rüden, brutalen und hemmungslosen Wesens.
Endlich sah er einen freien Stuhl an einem kleinen Tisch
unweit der dunklen Klippe des Tresens, hinter denen ein dicker, glatzköpfiger
Mann all seine Wut darauf verwendete, fleckige Bierkrüge mit einem speckigen
Lederlappen noch unansehnlicher zu machen.
Mit einem Seufzer ließ Barn sich langsam auf den Stuhl
sinken, zog nebenbei seinen riesigen Dolch Schinkenschneider aus dem
Gürtel und rammte ihn energisch in die Tischplatte. Damit war allen Ritualen in
einer solchen Situation Genüge getan, jetzt konnte er nur noch warten.
"Was soll's denn sein, Fremder?" Wie ein Irrlicht
war ein blasses Mädchen neben ihm erschienen. Ihr nackter, magerer Körper war
mit obszönen Tätowierungen bedeckt wie die Wände einer Latrine.
Barn lächelte mühsam, die leeren schwarzen Augen dieser
dunklen Fee jagten ihm einen Schauer über den breiten Rücken.
"Ho, Mädel, ein kühles Bier wär' jetzt recht",
sagte er leise.
"Ey, Flyrr, ich kümmer' mich selbs' um den Gast,
verschwinde!", kam da eine tiefe Stimme, fast tonlos, als hätte man ein
Messer zu viel an diese gequälte Kehle gehalten und vielleicht auch einmal zu
fest zugedrückt. Der dicke, glatzköpfige Wirt hatte Bierkrüge und Lederlappen
auf dem Tresen gelassen und schwankte jetzt auf Barn an seinem kleinen Tisch
zu. Flyrr verschwand, und dann stand der Mann vor dem Barbaren, gewaltig wie
ein gestrandeter Wal.
"Was also", der Wirt beugte sich vor und schenkte
dem Mann aus dem Norden eine volle Ladung aggressiven Atems aus einer Mundhöhle
voll fortgeschrittener Zahnfäule, "was also soll es sein für jemanden, den
wir hier noch nie gesehen haben?"
Er stemmte Arme, die dick, haarig und narbig waren, auf den
Tisch.
"Hm, ein Bier?" versuchte Barn und zeigte seine
zwei Reihen weißer Zähne. "Es is' heute ziemlich heiß, und ich hab'
Durst..."
"So? Hm, lass mich ma' nachdenk'n..."
Der Wirt starrte den Barbaren aus seinen kleinen, irren
Augen an. Der Barbar starrte zurück, da ihm nichts anderes einfiel.
Nach einer Ewigkeit zuckte der Wirt die fleischigen
Schultern, hob seine Arme vom Tisch und schwankte langsam zurück zum Tresen.
"Ein Bier, ein Bier..." murmelte er dabei, als
fürchte er, den Wunsch auf dem kurzen Weg zu vergessen. "Ein Bier also..."
Barn schloss kurz die Augen, erleichtert über den Ausgang
dieser ersten Herausforderung. Aber sein Frieden währte nicht lang, an einem
benachbarten Tisch wurde lautstark ein Hocker zurückgeschoben, und eine
gewaltige Gestalt stand auf.
"He, du!", brüllte ein Mann in einem schmutzigen
Bärenfell, dass ihm ganz offensichtlich zu klein war, obwohl es dem Bären
sicher gut gepasst hatte. Er richtete einen dicken Zeigefinger auf den
Barbaren. "Du bis' nich' von hier, wo bist'n du her?"
Barn zog Schinkenschneider aus der Tischplatte und
ließ den schweren Dolch durch die Finger wirbeln. Dabei bemühte er sich um ein
entspanntes Lächeln.
"Ho, Mann, ich bin Barn von Täppenwinkel, aussem
Norden, und ich bin durstig." antwortete er freundlich.
"Kannste würfeln?", brüllte der Bären-Mann.
"Hm?" machte Barn irritiert. Diese Frage entsprach
nicht dem üblichen Ablauf. Der Dolch fiel aus seinen Fingern.
"Obde Würfel werfen kanns', willich wiss'n?" Die
Stimme des gewaltigen Mannes überschlug sich, offenbar war Gebrüll seine
einzige Art zu kommunizieren, und sie tat seinen Stimmbändern nicht gut.
"Ho, ich würfel' besser als die Würfel selbs', Mann!",
prahlte der Barbar, unsicher, wohin ihn das führen würde.
Im Bart des Bären-Mannes brach ein Lächeln auf wie ein Riss in
einer Felswand.
"Dann bistu der richtige Kerl für uns!", dröhnte
er. "Rukker hier", er deutete mit einem schwieligen Daumen auf eine
zusammengesunkene Gestalt an dem Tisch, den er gerade verlassen hatte, "Rukker
is'n bisschen zu warm geworden, kein Wunner bei all der Hitze hier überall, un'
wir brauchen noch'n Mann, um unser Spiel fertich zu mach'n. Da wär's recht,
wenn du uns helfen könntst..."
Barn starrte eine kurze Zeit in das Spiegelbild seiner
blauen Augen im Metall seines makellos geschärften Dolches, dann stand er auf
und folgte dem gewaltigen Mann an den Tisch der Würfler.
Rukker roch bereits sehr streng und würde nie wieder an
einem Würfelspiel oder einer anderen Aktivität teilnehmen. Barn stieß ihn von
seinem Hocker und setzte sich selbst darauf.
Dann grinste er herausfordernd in die Runde von Gesichtern,
von denen jedes einzelne ausgereicht hätte, einem Heiligen allen Glauben an das
Gute im Menschen auszutreiben.
"Wir spiel'n Frau
Horst!", brüllte der Bären-Mann. "Das kennste doch?"
Barn nickte.
*
Barn erwachte am nächsten Morgen unter einem Tisch in der
'Rohen Blutwurst'. Neben ihm lag jemand, ein schmaler, weißer Körper, unruhig
atmend in der schweren Luft. Er rieb sich die brennenden Augen, bis er scharf
sah: es war die dunkle Fee.
Schaudernd zog er seine Hose hoch, schloss den Gürtel und
wuchtete sich unter der Tischplatte hervor. Der Schankraum stank nach Schweiß,
Hitze und Verzweiflung. Ein trüber Nebel lag über allem, nur als Schemen konnte
er weitere Tische und die geschwollenen Schatten auf ihnen erkennen.
Nichts regte sich, während Barn auf Zehenspitzen zur Tür
schlich. Er zog vorsichtig am Griff, doch die Tür bewegte sich nicht. Nur ein
leises Knarren des Holzes drohte wie ein gereizter Hund damit, dass es ziemlich
laut und hässlich werden würde, wenn er weitermachte.
Barn presste die Lippen zusammen.
Mit beiden Händen packte er den Türgriff – er war geformt
wie eine üppige Frau und bot guten Halt – und holte tief Luft. Dann begann er
zu ziehen. Die Tür stöhnte. Barn zog stärker. Das Holz begann zu zittern, es
schien sich anzuspannen, um Widerstand zu leisten. Die Nackenhaare des Barbaren
sträubten sich, während er immer mehr Kraft einsetzte. Er hatte jäh das Gefühl,
gegen ein lebendes Wesen zu kämpfen.
Hinter sich hörte Barn Ächzen und Murmeln – die Schläfer
erwachten. Er musste sich beeilen.
Mit aller Kraft riss er die Arme zurück an den Körper,
während er den Griff eisern umklammert hielt. Die Tür schrie schrill und
bösartig, wölbte sich, schwoll an – doch dann gab sie nach und löste sich in
einer Wolke aus Holzsplittern und uraltem, eisenhartem Schmierfett aus dem
Rahmen.
Der Barbar schleuderte die Trümmer beiseite. Morgensonne
überspülte ihn wie Meeresbrandung an einem südlichen Strand. Er sog die warme
Luft der Außenwelt gierig ein, dann lachte er dröhnend und rannte hinaus auf
die Straße. Dort war kein Mensch, nur die Häuser von Syffelheim funkelten ihn
unter den dunklen Buckeln ihrer hängenden Dächer aus kleinen Fenstern boshaft
an.
Barn machte eine rüde Geste mit der linken Hand.
Selbst das öde, steinige Land zwischen dem Bärenmarker Wald
und den Steilen Zähnen wirkte auf ihn
einladend und frisch, als er Syffelheim verließ und sich, laut und falsch
singend, in Richtung Norden aufmachte.