Der zweite Mond

Die eine Mondin allein ist Inspiration einer solchen Zahl von Mythen, Sagen und Legenden, von Märchen und gelehrten Analysen, Zaubern, Flüchen, Gebeten und Beschwörungen, ist Ursprung und Anlass von Besessenheit, Wahn und Ekstase.

Wir könnten eine zweite nicht verkraften.

 

Iltigarta do Bingium

 

"Na, heute keine zweite?"

Der Bratwurstverkäufer betrachtete seinen Kunden mit dem andächtigen Blick eines Gläubigen. Es war das Jahr des Untiers, der Monat des lgels und der Tag der Kröte. Aber dieses Datum nach imperialer Zeitrechnung hat nichts mit der Geschichte zu tun.

Das Mahlen der mächtigen Kiefer des Mannes auf der nicht ganz frischen Ware war ein beängstigendes und zugleich faszinierendes Schauspiel. Wie das Erleben einer Naturkatastrophe aus sicherer Entfernung.

Das Objekt der Betrachtung, Barn der Barbar, schüttelte kauend den Kopf und deutete auf den schlaffen Geldbeutel an seinem Gürtel.

"Ho, Mann, bin pleite", nuschelte er durch Brocken trockenen Brötchens und zweifelhafter Wurst. "Kein einen Kupfer mehr."

Der Bratwurstverkäufer hob seinen Kopf und betrachtete mit milder Miene den Abendhimmel, der ein paar goldschimmernde Wolken vor violettem Pastell bot. Normalerweise erlosch sein Interesse an Menschen im Augenblick der Erkenntnis ihrer Zahlungsunfähigkeit. Aber Barn, der massive Norländer, war über Monate hinweg ein Stammkunde gewesen, und auch wenn die beiden Männer in dieser Zeit kaum mehr als ein Dutzend belangloser Worte gewechselt hatten, hatte sich zwischen ihnen so etwas wie Mutualismus entwickelt. Barn aß, was ihm verkauft wurde, und stellte keine Fragen. Der Bratwurstverkäufer verkaufte und genoss das Gefühl, zumindest diesen einen Kunden niemals belogen zu haben.

"Ja", seufzte der Bratwurstverkäufer und hob die Schultern. "Geld ist wie das Wohlwollen der Götter – man hat es nie, wenn man es braucht."

Nebenbei wendete er die Würste auf seinem Bauchladengrill mit einer hölzernen Zange, die fast so verkohlt war wie die Produkte selbst.

"Aber", er hob die Brauen und die Zange, "ich hab' gehört, dass jemand aussem Süden ein paar Leute sucht, für eine Explosi… Expido… hm, so eine Reise halt. Soll gut bezahlt sein."

Barn sah den Bratwurstverkäufer an, grunzte und schluckte. Dann leckte er seine dicken, fettigen Finger ab. Der Bratwurstverkäufer verstand das als Aufforderung, fortzufahren.

"Bewerben ist heute Abend, in der Gans im Glück, dem Haus von Hammo Fekunde am Kleinen Markt. Kanns ja mal vorbeischaun."

Der Mann aus dem Norden runzelte die Stirn.

"Un' da gibt's dann Bratwurst?", fragte er.

Der Bratwurstverkäufer verdrehte die Augen. Vielleicht sollte er seine Kundenbeziehungen doch auf eine weniger emotionale Plattform stellen.

"Nee, Mann, aber vielleicht die Münzen, um eine zu kaufen!"

 

*

 

Die Gans im Glück war ein Wirtshaus der gehobenen Art, was bedeutete, dass Speisen und Getränke hier zwar nicht besser waren als in schlechteren Lagen, aber erheblich teurer. Und dass es im Eingangsbereich einen Teppich und eine Topfpflanze gab.

Vor den blechbeschlagenen Doppeltüren, die ins Innere der Gans im Glück führten, warteten auf dem Teppich neben der Topfpflanze ein paar Leute in einer annähernd ordentlichen Reihe. Der Teppich war einmal aprikosenfarben gewesen, hatte aber unter den Füßen zahlloser Gäste den Ton eines zu stark angebratenen Koteletts angenommen. Die Topfpflanze… schweigen wir von der Topfpflanze. Kein Lebewesen hat ein solches Schicksal verdient.

 

Barn beachtete weder Teppich noch Pflanze, sondern betrachtete das Schild, das über dem Eingang hing. Es war aus Holz und zeigte einen fetten Vogel, dem ein Messer und eine Gabel tief im Rücken steckten, und der trotzdem breit grinste. Schilder dieser Art hatte Barn schon an anderen Gasthäusern gesehen, auch vor Fleischerläden – und nie genau verstanden, warum die abgebildeten Tiere Spaß an dem Metall in ihrem Leib haben sollten.

 

Der Mann aus dem Norden erinnerte sich, dass er in der Gans im Glück vor langer Zeit – als er noch neu in der Stadt gewesen war – einmal ein Bier bestellt hatte. Nur die Geschwindigkeit seiner muskulösen Beine hatte ihn damals vor dem Schuldpranger bewahrt, denn offenbar erwartete der Wirt – Hammo Fekunde, eine gelenkige, dauergrinsende Gestalt von Südländer – dass seine Gäste ihre Bestellungen vollständig bezahlten.  

Barn schüttelte den Kopf, um die Erinnerung loszuwerden. Es machte keinen Sinn, alten Groll in neue Zeiten zu tragen. Es ging um Geld. Um Geld und Wurst.  Er schloss die Augen und atmete tief ein.

Es war ein schöner Abend, die Luft samtig warm und schwer vom süßen Duft der Herbstblumen, den Aromen der Nachtessen der Bürger und dem harzigen Rauch von Tempelfeuern. Ein wenig Nachttopf und der feuchte Dunst aus den Rübenfeldern jenseits der Stadtmauern rundeten das Potpourri ab.

Zikaden zirpten in den Kiefern zwischen den Häusern, ein liebeskranker Jüngling spielte auf einer miserabel gestimmten Maudeline ein trauriges Lied, und Mengen männlicher Feuerkäfer opferten sich bei dem Versuch, die flatternden Flammen der traditionellen Öllampen auf den Häusergiebeln zu begatten.

 

Gerne wäre Barn jetzt am Südturm gewesen, zusammen mit den drei Kolleginnen von der Nachtwache – Ella, Hanani und Vronicka – deren Interesse an ihm im Laufe der Zeit vom erfolgreichen Unternehmen, den einfältigen Barbaren mit gezinkten Würfeln von seinem Sold zu trennen – sie waren der Grund seiner derzeitigen finanziellen Notlage – in weitaus persönlichere Bereiche vorgedrungen war.

Die Vronicka hatte das letzte Mal tatsächlich versucht, beim Spiel ihre Rüstung und alles Zeug, das sie sonst noch so trug, zu verlieren. Hätte die Rebellengruppe, die sich Die Sandmänner nannte, nicht genau diesen Zeitpunkt für einen Überfall auf den Südturm gewählt, wären die Dinge vielleicht interessant geworden.

 

Barn griff nach der Tür zur Gans im Glück.

"He, du Depp, stell' dich hinten an!", kreischte eine dünne Stimme.

Verwundert musterte der Mann aus dem Norden die dürre Gestalt, die sich vor ihm sträubte wie ein wütender Igel. Außer einer Masse von verklebten Haaren, rußschwarzer Haut und einem Kleid aus Sackleinen – alles an unerwarteten Stellen ineinander übergehend – gab es wenig zu sehen, aber Barn erkannte den Geruch, und er kannte die Stimme.

"Welklöffel?", fragte er.

"Genau die, du Riesenlümmel!", schrie die Gestalt. "Und du wartest hinter mir, wenn dir deine Klöten was wert sind!"

Barn grunzte. Arissa Welklöffel war die Lieblingstochter des Kaisers Sucidal Panem Orgiastor III., hatte drei Mal hintereinander den Titel der 'erregendsten Person der Welt' gewonnen und dazu noch Shainman Shatten in der Arena von O'bah Dungg bezwungen.

Falls man ihr glaubte.

Aber selbst Barn, der den Geschichten seiner Gegenüber stets ein großes Maß an gutem Willen – man konnte es auch Gleichgültigkeit nennen – entgegenbrachte, zweifelte ein wenig an Arissa.

Arissa war nicht schön und nicht mehr jung, und was man unter dem Schmutz und den Haaren von ihrem Gesicht erkennen konnte, wirkte müde und verzweifelt. Man sagte, sie habe ein Auskommen mit der Herstellung kleiner Andenken aus den Fußnägeln von Verstorbenen, aber wann immer Barn ihr begegnete, lag sie rotäugig in Straßengräben und führte Streitgespräche mit Personen, die nicht anwesend waren.

Der Barbar senkte den Kopf und seufzte – dass er in letzter Zeit so etwas wie Mitgefühl für andere Menschen empfand, ging ihm auf die Nerven. Es musste der Süden sein – diese ständige Hitze machte einen Nordmann weich wie eine Kerze in einer Schwitzhütte.

"Schon gut", brummte er und ordnete sich hinter Arissa ein.

 

"Er ist natürlich ein Geisterbeschwörer aus Raad oder einem anderen dieser südlichen Teufelsreiche", raunte Arissa, während Barn und sie in der Schlange der Bewerber vor der Gans im Glück warteten und der Abend um sie dunkler wurde. "Seine Haut soll so schwarz sein wie die der Nyktele! Er sucht einen Pakt mit den Dämonen des Waldes. Und wir alle sollen Opfer sein! Aber ich – ich bin bereit!"

Arissa drehte sich zu ihren wirren Worten wie ein Schatten unter dem Licht einer sterbenden Fackel. Ein zögernder Mond ging hinter ihrer linken Schulter auf. Im Gegensatz zu Arissa war er noch nicht voll, aber auf dem Weg dorthin.

"So ein Quatsch!", widersprach der quadratische Mann vor ihr. Barn kannte auch ihn. Kworrn Kantstein war ein Schläger, der in der Stadt üblicherweise die schmutzige Arbeit für die Gewerkschaft der Karrenschieber erledigte – Deichseln oder Rückgrate brechen, fünfzehn Kupfer pro Auftrag, keine Fragen. "Der Typ is'n reicher Kaufmann aus Rawasnittah, er will nur mal seh'n, wie der Norden so is'! Weiber austesten. Er sucht'n Aufpasser, nix sonst. Einfaches Geld."

"Der Nächste!", rief jemand. Der Bewerber vor Kworrn, eine gebückte, grauhaarige Gestalt in rostiger Kettenrüstung, keuchte, nickte und eilte durch den Eingang.

Barn grunzte. Er begann sich zu fragen, ob es eine gute Idee gewesen war, herzukommen. Es sah so aus, als müsse man sich eventuell anstrengen, um hier Erfolg zu haben. Das lag ihm eher wenig.

Um ihn wandelte sich auf den Straßen der Stadt die Wärme des Abends in feinen, weichen Nebel, duftend nach Lavendel, Zimt, Fischlaich und Eisenspäne. Wie kalte Seide schmiegte er sich an die Wangen der Wartenden.

 

Barn steckte den kleinen Finger seiner linken Hand in das rechte Nasenloch und befreite es von einer leichten Blockade.

"Das war Danno Floricker", sagte Kworrn voll Verachtung. "Rausgeworfen ausser Legion. Hat kein anständiges Geld seit zehn Jahren verdient. Hat's einfach nich' mehr drauf."

Barn hob die Brauen, betrachtete seinen kleinen Finger und kam zu dem Schluss, dass Kworrn den Mann im rostigen Kettenhemd gemeint hatte.

Kworrn hob die dicken Arme und grinste. Seine Zähne waren, dem Brauch extrem geschmackloser Gewalttäter seiner Generation folgend, spitz zugefeilt. Und, der natürlichen Reaktion der Zahnfäule folgend, dunkelbraun bis schwarz.

"Gleich bin ich dran, danach müsst ihr euch keine Gedanken mehr machen", rief er. "Ihr könnt alle nach Hause gehen. Ich. Bin. Der. Mann!"

Zur Bestätigung tanzte er einen albernen, kleinen Tanz, der selbst einem in höchster Not balzenden Auerhahn peinlich gewesen wäre.

 

*

 

Barn hob die Augenbrauen, als Kworrn Kantstein kurze Zeit später mit einem 'frag-mich-und-dir-passiert-etwas-sehr-sehr-Schmerzhaftes'-Gesichtsausdruck an ihm vorbeistürmte.

Offenbar war er nicht der Mann gewesen.

"Nächster!"

Arissa Welklöffel setzte sich in Bewegung.

 

Lange Minuten später wurde Barn herbei gewunken.

"Hier entlang", rief ihm jemand zu, und er spürte den Druck einer Hand auf seinem Rücken. Das mochte er nicht. Kurz überlegte er, Schläge zu verteilen, verwarf den Gedanken aber wieder. Es ging um Kupfer, vielleicht sogar um Silber. Und damit um eine Menge Bratwürste.

Dielenbretter knarrten unter seinen Stiefeln. Er wurde an der Schankstube vorbeigeführt. Dort saßen Frauen und Männer, die langsam Steine über Spielbretter schoben, Bratenstücke in ihre Backen stopften und Humpen voll Bier in die Gesichter hoben. Glückliche Menschen in der Gans im Glück.

Eine Tür schlug hinter ihm zu.

 

Dann stand er in einem dunklen Raum, der nach Schweiß, Staub und Pfirsich roch. Pfirsich? Er blinzelte. Es war unmöglich, mehr zu erkennen als Schatten innerhalb von Schatten.

"Hm, hallo, ich bin der Barn, Barn aus Täppenwinkel. Is' im Norden", sagte er irgendwann, als ihm das allgemeine Schweigen unangenehm wurde.

"Ihr wollt also mit mir reisen?", fragte eine Stimme aus der Finsternis.

Barn grunzte unverbindlich. Wollte er?

"Is' dunkel hier", stellte er fest.

Das Geräusch zweier applaudierend aufeinanderschlagender Hände verwirrte ihn.

"Ja, hier ist es dunkel", sagte die Stimme. Sie war leise, freundlich und weich gedehnt wie ein Karamellbonbon in hochsommerlicher Nachmittagssonne. "Stockdunkel sogar. Gut erkannt. Ein Punkt für dich. Was denkst du vom Mond?"

Barn zog die Augenbrauen zusammen. Der Mond? Was war das für eine Frage? Der Mond war der Mond. Er war Mond, so wie Wasser nass war, Steine hart und Wind windig. Darüber musste man nicht nachdenken.

"Hm, weiß nich'?", versuchte er.

"Und sonst noch?"

Barn zuckte hilflos mit den Schultern.

"Keine Ahnung, Mann", gab er zu.

"Du trägst ein Schwert, ein ziemlich langes." Eine andere Stimme, höher, schärfer, weiblich. "Wenn du angegriffen wirst, welche Position nimmst du zuerst ein?"

Der Mann aus dem Norden grunzte. Er wusste, dass die Leute im Süden verschiedenen Schwerthaltungen Namen gaben. Grundsätzlich hielt er das für Unsinn, man schlug zu, wie es gerade passte. Aber diesen Namen hatte er sich ausnahmsweise gemerkt. Wahrscheinlich, weil er nach etwas klang, aus dem man einen Braten machen konnte.

"Ochse", sagte er. "Stechen, schlagen, alles von oben. Nutzt das Gewicht der Waffe."

"Zeig mir."

Barn runzelte die Stirn. "Jetzt?", fragte er.

"Wann sonst? Mach."

In einer flüssigen Bewegung riss der Norländer sein gewaltiges Schwert Windmacher aus der Hülle über der Schulter, ließ es zweimal wirbeln und hob es dann über den Kopf, die Spitze nach vorne. Hart, scharf, klar. Kein Zittern. Ein perfekter Ochse, und so schnell gezogen, dass selbst die Besten kaum mitgekommen wären. Hinter ihm fiel etwas zu Boden und zerbarst krachend.

"Ho!", grunzte er.

"Er ist gut", stellte die Frau fest. "Er ist sogar sehr gut."

"Aber er macht sich keine Gedanken über den Mond."

"Barimov, wenn dich ein Bär anfällt, wen hast du dann lieber bei dir, einen Philosophen oder einen Schwertkämpfer?"

"Das kommt auf den Bären an."

Ein Geräusch, als ob eine kleine Faust präzise den Schwachpunkt einer holzvertäfelten Wand träfe, und die Wand dabei eine Menge an Integrität verlor.

"Ja", sagte die Frau dann, alle Emotionen unter Kontrolle. "Natürlich. Der Bär. Ich denke trotzdem, wir nehmen ihn."

Jemand seufzte.

"Ich vertraue dir, Slinni. Wir nehmen ihn."

"Ich bin Slif."

"Oh. Entschuldigung, Slif. Es ist so dunkel hier."

 

 

*

 

Barn stand in der schmalen Gasse hinter der Gans im Glück und starrte auf das Objekt in seiner Handfläche. Es war länglich, schwer und kalt, und im Licht des blauweißen Mondes schimmerte es silbern. Aber es war nicht aus Silber. Es war aus Gold. Purem Gold.

Eine gruunz-verfluchte, myr-mamonische zwanzig Ähren-Münze lag in seiner Hand, vermutlich mehr Geld, als er je zuvor in seinem Leben besessen hatte.

Die Menge der Bratwürste, die man mit dieser Münze kaufen konnte, überstieg mit Sicherheit die Anzahl der Sterne, die er im Moment über sich funkeln sah. Auf jeden Fall sprengte sie den Zahlenraum eines einfachen Nordmanns, der sich die Stiefel ausziehen musste, wenn er bis zwanzig zählen wollte.

Und er hatte nicht mehr dafür tun müssen, als sein Schwert zu ziehen und damit herumzufuchteln – Dinge, die er manchmal tat, wenn er nachts auf Wache nicht schlafen konnte.

Es war absurd. Was noch absurder war – er würde noch vier weitere dieser Goldstücke erhalten, wenn er morgen früh bei Sonnenaufgang am Nordtor erschien und den gelehrten Barimov Kaskatan auf seine Reise in die westlichen Wälder begleitete. Als Leibwächter. Danach war er ein reicher Mann – jemand, der sich einen rot lackierten Streitwagen oder sogar ein Rittergut in den goldenen Weinhängen über den Ufern des Dysenterion in Myr Mamon kaufen konnte. Und natürlich Bratwürste bis zum Lebensende.

 

Barn hatte Barimov Kaskatan, seinen neuen Arbeitgeber, kennengelernt, nachdem endlich jemand in dem dunklen Raum in der Gans im Glück ein paar Kerzen angezündet hatte. Barimov Kaskatan, so hatte sich herausgestellt, war ein kleiner und wohlgenährter Mann mit einem adrett gestutzten Bärtchen, keinen Haaren auf dem Kopf und einer Haut wie eine polierte Kastanie. Außerdem war er, wie er betont hatte, ein Privatgelehrter. Ein Mann unabhängigen Geistes.

Das war auch der Grund, warum er Menschen anwarb, die ihn auf seiner kommenden Reise beschützen sollten.

"Ich könnte einer Spinne keine Flügel ausreißen, selbst wenn sie welche hätte", hatte er erklärt, und seine beiden Begleiterinnen entschuldigend angeblickt. "Man muss auf mich aufpassen."

Die Begleiterinnen hatten dazu nichts gesagt. Im Gegensatz zu Barimov Kaskatan hatte ihr Anblick dem Mann aus dem Norden einen Schauder über den Rücken gejagt. Nicht weil sie abstoßend waren, im Gegenteil, selten waren ihm solche perfekten Gesichtszüge und Körper begegnet. Aber wenn Waffen menschliche Gestalt annehmen könnten, würden sie wohl aussehen wie diese beiden Frauen. Abgesehen von ihrer Kleidung waren sie identisch – tödlich schlank, die Haut blass und schimmernd wie weißer Marmor im Mondschein, schräge, violette Augen und lange, glatte Haare aus gesponnenem Silber. Während die eine von ihnen eine Tunika aus grauer Wolle über einer nicht ganz sauberen Leinenhose trug, war die andere in ein durchsichtiges, dunkelgrünes und mit Silberfäden besticktes Kunstwerk gehüllt, das wirkte, als sei sie von taufeuchtem Efeu überwachsen.

Barn hatte von solchen wie ihnen gehört, und auch ein oder zwei gesehen, aus der Ferne bei Paraden in Ybris, der Hauptstadt von Myr Mamon: Kriscarae aus Dawodaso, Frauen und Männer, geboren und erzogen zum Töten, vielleicht sogar ruchloser als die Gewissenlosen der Joiren, des Stillen Volks. Die besten – und teuersten – Gewalttäter der bekannten Welt.

Ihr extremes Aussehen erhielten sie angeblich durch alchymiotische Tränke, die sie in früher Jugend verabreicht bekamen, um sie schneller, stärker und widerstandsfähiger zu machen als gewöhnliche Menschen. Es hieß, das Sucidal Panem Orgiastor III., der gegenwärtige Kaiser von Myr Mamon, jedem seiner Prätorianer einen solchen Todeskünstler zur Seite stellte, vordergründig als Unterstützung, in Wahrheit aber, um jegliche Loyalitätsschwankungen innerhalb seiner Leibgarde im Keim zu ersticken, zu erstechen oder zu erschlagen. Oder was der Kriscaria sonst einfiel.

 

Ein intelligenterer Mann als Barn hätte sich gefragt, warum Barimov Kaskatan noch weitere Leibwächter benötigte, wenn er bereits diese beiden hatte. Aber Barn war kein intelligenterer Mann als Barn, und er fragte sich auch nichts. Er starrte nur mit großen, blauen und relativ unschuldigen Augen in eine Welt, in der sich der Wunsch nach ein paar Kupfermünzen, Vronicka und einer zweiten Bratwurst in etwas sehr viel Komplizierteres gewandelt hatte.

Dann hatte ihm die Frau in Grün das Goldstück in die Hand gedrückt.

"Du gehörst jetzt uns", hatte sie gesagt. "Du bist morgen früh beim siebten Schlag am Nordtor. Alles klar?"

Barn hatte gegrunzt, geschluckt und genickt.

"Gut", hatte die Frau gesagt. "Ich bin Slinni. Die da drüben ist meine Schwester Slif. Barimov kennst du ja schon."

Ihr Lächeln war vermutlich das Bedrohlichste, das dem Mann aus dem Norden je begegnet war, selbst wenn er das Fass in Tummeln, die Grauen des Bamsfelds, die Dinge am Alten Tanzplatz oder das Täppen berücksichtigte.

Es war ein Lächeln, dessen Gegenteil man niemals erleben wollte.

 

Zurück in der Gegenwart, atmete Barn langsam aus und blickte der Wolke seines Atems nach, hoffend, in ihrer Auflösung Ruhe zu finden.

Es würde nur ein Auftrag sein, eine kurze Sache, und dann war er wieder frei, konnte sich aussuchen, wohin er gehen und mit wem er reden wollte.

Violette Augen. Ihn schauderte.

Ein Schwarm Heckenfeen – die kleine, hartgesichtige Art mit den großen Zähnen, die sich auch in Städte traute – spürte sein Unbehagen, umschwirrte ihn kurz und verschwand dann kichernd, ohne gebissen zu haben. Ein gutes oder schlechtes Omen?

Über ihm versteckte sich der Mond kurz hinter einer Wolke, nur um dann blass und weißblau wieder sein narbiges Gesicht zu zeigen.

Barn grunzte. Der Gelehrte hatte ihn nach dem Mond gefragt. Was dachte er vom Mond?

Er starrte die bleiche Scheibe lange an. So weit oben musste es kalt sein. Und einsam. Es gab keinen zweiten Mond, der ihm Gesellschaft leistete. Der einzige andere runde Körper im Himmel, die Sonne, machte sich jedes Mal davon, bevor er auftauchte, und ließ ihn alleine in der Dunkelheit. Die beiden waren sicher keine Freunde.

Der Mond war ein armer Sack: das dachte er von ihm.

Dann rieb er sich die Arme unter seinem dünnen Hemd aus schlecht gegerbtem Ziegenleder. Auch hier unten war es kalt.

Tatsächlich roch es schon nach Herbst.

Er fröstelte. Vielleicht waren die drei Mädels vom Südturm noch wach. Wärme, wenn auch nur geheuchelte, war, was er jetzt brauchte.

"He, Großer, warst du auch bei Kaskatan vorsprechen?", hauchte eine Stimme hinter ihm. Heißer Atem streichelte die Haare seines Nackens. "Magst du mir davon erzählen, bei einem Glas Wein vielleicht?"

 

*

 

Barn erwachte. Es war kein schönes Erwachen – sein Schädel schmerzte schlimmer als das Beil eines Scharfrichters, die Zunge fühlte sich an, als sei sie gepökelt worden, und wichtige Teile seines Körpers brannten wie Feuer. Irgendetwas war letzte Nacht sehr schief gegangen. Er war nackt, ihm war kalt, und er hatte keine Ahnung, wo er sich befand – spürte aber das dringende Bedürfnis, vor Schlag Sieben am Nordtor zu sein.

"Ho", grunzte er in die Welt. "Is' schon sieben?"

Jemand neben ihm regte sich.

"Halt's Maul, Barbar", knurrte eine Stimme. "Is' noch nich' mal sechs – Sonne is' noch nich' oben. Wennde mich nochma' weckst, bevor Morgenruf is', bring ich dich um!"

"Vronicka?", fragte Barn.

Statt einer Antwort erhielt er einen Tritt in Bereiche, in denen es besonders wehtat. Das Reich Myr Mamon mochte seine Soldatinnen schlecht bezahlen, aber es bildete sie gut aus, vor allem was die empfindlichen Bereiche der männlichen Anatomie anging.

"Vronicka!" Die Frau neben ihm schnaubte verächtlich. "Vronicka is' Fußvolk. Ich bin Fernaufklärung!"

 

Eine Viertelstunde später hatte Barn das meiste seiner Kleidung und seine Waffen gefunden und auch erfolgreich angelegt. Nur die dottergelben, geblümten Fußlappen, die Prilla ihm damals in einer albernen Laune auf dem Markt in Brucken gekauft hatte, blieben verschwunden.

Die Frau von der Fernaufklärung – Barn hatte keine Idee, wie sie hieß, wie er in ihrem Bett gelandet war, und nur eine vage Vorstellung, was sie zusammen getrieben hatten – hatte ihm noch ein paar mörderische Blicke aus großen, grünen und blutunterlaufenen Augen zugeworfen, war aber sonst nicht weiter gewalttätig geworden.

"Ho, Mädel, mach's gut!", rief er ihr zum Abschied zu. Er bekam keine Antwort.

 

Aber kurz nachdem der Barbar gegangen war, glitt die Frau geschmeidig aus dem Bett und stellte sich vor einen kleinen Spiegel aus poliertem Silber, um ihren drahtigen Leib auf Tauglichkeit für den neuen Auftrag zu untersuchen. Es gab kein Problem mit dem, was sie sah – außer dem Mangel an Begeisterung in ihrem Gesicht. Eigentlich hätte sie in der Stadt nur eine heruntergekommene Prinzessin und einen versoffenen Deserteur erwürgen sollen, etwas, was sie zwischen einem exzellenten Mittagessen und einem Besuch in den Thermen hätte erledigen können.

Aber jetzt musste sie wohl hinaus, hinaus in die Wildnis der westlichen Wälder. Langsam wickelte sie zwei ungeschickt geknotete, dottergelbe Bänder von ihren Handgelenken.

 

*

 

Der rechte Turm des Nordtors war vor einem halben Jahr bei einem Angriff der Sandmänner beschädigt worden und stand noch immer in Gerüsten, denn die Finanzierung des Wiederaufbaus war ebenso gebrechlich wie die Fundamente des Gebäudes. Als Konsequenz der damals unerwarteten Attacke hatte man das Ziegeldach des linken Turms abgerissen und auf der freien Fläche einen Tribok installiert. Der massive, ungespannte Wurfarm der Waffe ragte in den Morgenhimmel wie ein riesiger Löffel. Er erinnerte den Magen des Nordmanns daran, dass er noch kein Frühstück gehabt hatte.

 

"Du bist früh", sagte jemand aus dem Schatten. Barn fuhr herum, und seine Linke hob sich zum Schwertgriff. Ein heiseres Kichern ertönte.

"Nervös?"

Barn grunzte, dann begann er zu knurren. Ein Nordmann wurde nie nervös, hatte keine Angst vor Irgendetwas und war auch sonst nicht aus der Ruhe zu bringen. Aber es gab gewisse Grenzen der Geduld, vor allem an einem Morgen ohne Frühstück nach einer Nacht, an die er sich nicht erinnern konnte.

Er riss seinen Dolch Schinkenschneider vom Gürtel und hob ihn in einer eleganten Kurve – wissend, dass er genau auf die weiche Unterseite eines bleichen, schmalen Kinns zielte. Er runzelte die Brauen, als er synchron etwas Spitzes und Kaltes an der gleichen Stelle seines eigenen Gesichts spürte.

Das heisere Kichern wiederholte sich.

"Hu, wusste nicht, dass ihr großen, schweren Jungs so schnell sein könnt." Zwei violette Augen funkelten im Morgenlicht. "Hast du Hunger? Ich hab' noch zwei glasierte Hörnchen mit Pfirsichfüllung von dem Bäcker am Galgenplatz. Bisschen zerdrückt jetzt, aber sehr lecker."

 

Barn, der zuckriges Backwerk ungefähr so gut vertrug wie Kritik an seinem Kampfstil oder seiner Zahnhygiene, musste sich eine Hand vor den Mund halten, während sein neuer Arbeitgeber – Barimov Kaskatan – jeden einzelnen Teilnehmer seiner Expedition freundlich begrüßte, um dann eine lange, wortschwere und für den Mann aus dem Norden komplett unverständliche Rede zu halten.

Währenddessen ging die Sonne auf. Rosa Wolken flockten über den Himmel wie aufgeregte Lämmer, gejagt vom Wolf des Windes.

"Es gibt ein Geheimnis jenseits der westlichen Wälder, ein altes Geheimnis", rief Barimov Kaskatan abschließend. "Und wir, meine Freunde, werden es gemeinsam ergründen!"

Außer Barn waren noch drei weitere Personen aus der Stadt an diesem frühen Morgen erschienen. Der Mann aus dem Norden sah voll Überraschung Arissa Welklöffel, Danno Floricker und – den Bratwurstverkäufer.

"Barn." Der Wurstmann nickte ihm zu. "Hab' mir ausgerechnet, dass ich ohne dich nicht kostendeckend arbeiten kann. Also hab' ich den Job hier angenommen. Bin für die Vorräte zuständig, und fahr'n Karren. Is' mal was anderes als die ewige Braterei. Vielleicht krieg ich sogar den Fettgeruch aus den Klamotten."

Weder Arissa noch Danno nahmen Notiz von Barn – an ihren glasigen Augen konnte man erkennen, dass es für beide noch zu früh war, etwas vom Leben mitzubekommen, geschweige denn, daran teilzuhaben.

 

*

 

Die Expedition von Barimov Kaskatan bestand, abgesehen vom menschlichen Personal, aus drei grellbunt bemalten, vierrädrigen Reisewagen und achtzehn Ponys, die sie zogen – jeweils sechs per Wagen. Die gedrungenen Zugtiere trugen einen Gesichtsausdruck erfahrener Bosheit, den man sonst nur bei alten Ziegenböcken findet.

Wie Barn später erfuhr, hatte Barimov Kaskatan sie sechshundert Meilen tiefer südlich von einem Mann erworben, dessen Kerngeschäft der Verkauf von in Kupferlampen gebannten Teufeln war.

 

Während die Sonne noch in milchigem Morgendunst badete, rasselte die Kolonne durch das weit offene Nordtor, unbeachtet von den Wachen, die um diese Zeit noch mehr von ihren Spießen gehalten wurden als umgekehrt. Es war kein Wunder, dass die Sandmänner ihre antiimperialistischen Aktionen gerne kurz vor Sonnenaufgang begannen.

Im saffranfarbenen Himmel flog ein Keil fetter Anser nasal trötend nach Süden, unbeeindruckt von allem menschlichen Mumpitz, und in freudiger Erwartung wärmerer Gegenden.

Gleich hinter dem Tor schlug der Zug den Weg nach Westen ein, der durch die weiten Rübenfelder jenseits der Stadt führte. Rüben waren das wichtigste Exportgut dieser entlegenen Gegend des Imperiums, und jetzt zur Erntezeit standen Gruppen von Arbeitern in der verschlissenen Kleidung von Leibeigenen zwischen den Pflanzen und hackten mit überschaubarem Eifer auf sie ein.

Die bunten Wagen waren ein willkommener Anlass, die Werkzeuge ruhen zu lassen und laute, abfällige Bemerkungen über Ponys und Passagiere zu machen, vor allem die weiblichen.

 

 

Den ersten Wagen steuerte Slinni, jetzt in praktischer Reisekleidung aus derbem Filz statt im Efeugewand, aber immer noch blattgrün. Ihr Gesicht war eine bleiche Maske strenger Schönheit, akzentuiert durch kantige Wangen und scharf geschnittene Brauen von schneeweißer Farbe.

Als Waisen in der Obhut der Gilde – die Mutter war kurz nach der Geburt gestorben; vom Vater wussten sie nichts – hatten die Zwillinge keine Nachnamen, aber Slinnis Gildenname war, wie der nicht übermäßig interessierte Barn von ihrer gesprächigen Schwester Slif erfuhr, Atropa. Slif selbst hatte auf einen Gildennamen verzichtet. Dafür trug sie einen körperbetonten Einteiler aus weichem Seidentrollleder und einen flachen Ranzen auf dem Rücken, aus dem die Griffe von zwei Kurzschwertern und vierzehn Wurfmessern ragten.

"Und ich hab' noch mehr, vielleicht lass' ich dich mal danach suchen, Muskelmann."

Sie zwinkerte ihm zu.

Der zweite Wagen wurde geführt von Arissa Welklöffel, die eine dicke Tonflasche auf der Kutschbank festhielt, aus der sie sich seit der Abfahrt regelmäßig bediente.

Den dritten steuerte der Bratwurstverkäufer mit allem Gleichmut eines unabhängigen und überbezahlten Freiberuflers. Danno Floricker saß auf dem Wagendach über ihm, schnitzte an einem Stock und ließ die Beine baumeln, die in verfallenden Sandalen nach der Art der kaiserlichen Legionen endeten.

 

Slif und Barn waren von Barimov Kaskatan mit bewegenden Worten zur Vorhut der Expedition in die westlichen Wälder erklärt worden und gingen daher den Wagen zu Fuß voraus; keine Herausforderung, denn die achtzehn Ponys schienen nicht motiviert, auch nur Schrittgeschwindigkeit zu erreichen.

 

*

 

"Sag mal, du bist doch der Typ, der damals Ärger mit den Pala-Dienern hatte, oder? Wegen dem großen Brand in Tummeln?"

Danno Floricker hatte sein Wagendach verlassen und Barns Nähe gesucht. Er besaß die unangenehme Eigenschaft, sehr lautstark mit Menschen zu sprechen, sie dabei aber nicht anzusehen, wie ein schlechter Schauspieler.

"Hm?", machte Barn, der etwas abgelenkt war, weil er eine Gruppe junger Mägde bei der Arbeit auf einem Rübenfeld beobachtete. Er war sehr angetan von der Art, wie sich der weiche und leicht transparente Stoff ihrer Röcke um die gebückten Hinterteile schmiegte.

"Die Sache mit dem Brand, Mann! Die ganze Stadt abgefackelt!", rief Danno Floricker, und man hätte glauben können, dass er den kümmerlichen Dornbusch neben dem Weg anbrüllte. "Du warst mit Aprilia Inari Hoher Freifrau von Otterbach zusammen, damals! Die Füchsin der Westermark! Ich würde mein linkes Auge geben dafür, mit der auch nur einmal ein Ding zu drehen!"

Auf diese Aussage hätte es eine Menge sehr schlagfertige Antworten gegeben, die mit fehlenden linken Augen, Prillas Abneigung gegen ihren Geburtstitel und vor allem ihrer Leidenschaft, Leuten, die sie nicht mochte, kräftig an ihren Dingen zu drehen, zu tun hatten. Nur leider fiel Barn keine davon ein.

"Maul, Mann!", knurrte er stattdessen, dann presste er seine Lippen zusammen und beschleunigte den Schritt.

"Wer ist denn Aprilia Inari Hohe Freifrau von Otterbach?", fragte Slif hinter ihm. "Darf man so heißen?"

Barn zuckte mit den Schultern. "Keine Ahnung", antwortete er, zumindest auf die zweite Frage bezogen wahrheitsgemäß.

 

*

 

Nur langsam kam der Zug der drei Wagen auf den schlammigen Feldwegen im fruchtbaren Land um die Stadt voran. Glücklicherweise gab es kaum anderen Verkehr, nur einmal begegnete den Reisenden ein mit Rüben beladener Karren, dessen Zugtier und Fahrer in einem Wettbewerb um die verdrießlichere Miene zu stehen schienen, und dann war da der zerlumpte Mann, der auf einer steinernen Bogenbrücke über einen schlammbraunen Bach eine Schubkarre quergestellt hatte und Zoll verlangte. Slifs spektakuläres Grinsen überzeugte ihn innerhalb weniger Herzschläge, dass das eine ungewöhnlich dumme Idee war.

Quietschend und knarrend gaben er und sein Gefährt den Weg frei und verzogen sich unter die Brücke.

 

Gegen Mittag wurden die bewirtschafteten Flächen spärlicher, die Wege etwas trockener, und weit voraus kündigte ein dunkler Schatten unter dem Horizont den Beginn der westlichen Wälder an.

Eine scharlachrote Sylphe erhob sich anmutig aus einem nahen Gebüsch, flatterte für ein paar Herzschläge hektisch mit ihren Schmetterlingsflügeln und sank seufzend wieder zurück zwischen die Blätter, um dort zu tun, was immer scharlachrote Sylphen zwischen Blättern tun.

"Bei Moloss!", rief Danno Floricker. "Habt ihr die gesehen? Hatte gar nix an!"

Er wurde ignoriert.

Im Norden zogen Wolken auf.

Barimov Kaskatan trat aus der Tür an der Rückseite des ersten Wagens, blickte in den Himmel und hob dann eine Hand.

"Wir werden hier rasten, meine lieben Freunde!", rief er. "Erlaubt mir, euch zum Mittag ein Gericht aus meiner Heimat Moh Dawon zu präsentieren – scharfes Huhn in grünem Pfeffer!"

Er hob einen schwarzen, schmiedeeisernen Kessel in die Höhe.

"Ist fast schon fertig!" Er lächelte. "Alles, was wir jetzt noch brauchen, ist Feuer, um es noch heißer zu machen!"

 

Das scharfe Huhn in grünem Pfeffer war ein Erlebnis, das Barn seinen schlimmsten Feinden gewünscht hätte. Als Mann aus dem Norden war er milde Gerichte gewohnt, mit Mengen zerlassener Butter, langen Kochzeiten und kremigen Sahnesoßen.

Das Huhn aber war wie ein Brandangriff auf ein Bauerndorf – heiß, brutal und gnadenlos. Beim dritten Bissen hatte Barn schon Atemnot verspürt, nach dem vierten war er überzeugt, keinen Mund mehr zu besitzen.

Aber natürlich hatte er nicht aufhören können – die grinsende Slif hatte direkt neben ihm gesessen und ungeheure Mengen des dämonischen Essens in sich hineingelöffelt. Sich dann mit einer langen, hellrosa Zunge lasziv die Lippen geleckt und ihn aus ihren großen, violetten und leicht schrägen Augen herausfordernd angeschaut.

"Scharf, aber köstlich", hatte sie gesagt. "Am besten ist es, wenn man sich danach richtig anstrengt. Wenn man es ausschwitzt. Hast du Lust, dass wir beide ein wenig trainieren, bevor es weitergeht, Muskelmann?"

Selbst das unverbindliche Grunzen hatte Barn im Hals so geschmerzt, als habe ihm Flabbergasst, Herr der flammenden Gruben, persönlich glühende Kohlen in den Schlund gerammt.

 

*

 

"Wohie!", schrie Slif. Sie hatte ihr silbernes Haar zu einem dicken Zopf gebunden, der wie der Stachel eines Skorpions hinter ihrem Kopf abstand. Sie grinste irre, ihre Augen waren riesengroß und schienen zu leuchten. Insgesamt wirkte sie wie ein Kind, das an Allmutters Abend endlich das ersehnte Pony geschenkt bekommen hat und sich schon aufs Sezieren freut. "Wuha!"

Mit Zweigen war ein Kampffeld abgesteckt worden, zehn Schritte weit und zehn Schritte breit. Weder Barn noch Slif trugen Waffen. Barn hatte Umhang und Hemd abgelegt, und Slif ihre Stiefel ausgezogen. Als Schiedsrichter hockte Barimov Kaskatan auf der linken Seite des Feldes, und rechts saß Slifs Schwester Slinni, im Gesicht das träge Lächeln eines Raubtiers, das eine Mahlzeit verdaut und schon die nächste plant.

Der Bratwurstverkäufer stand, etwas entfernt, im Schatten einer kleinen Birke und war offensichtlich beunruhigt. Vielleicht hatte er Angst, seinen besten Kunden zu verlieren. Arissa und Danno waren nicht zu sehen.

Eine Gruppe von fünf Wandermönchen des Ordens von Ottwanz, erkennbar an ihren zerschlissenen, feldbraunen Kutten und den hochgezogenen Kapuzen, zog eilig vorüber – wohl, um dem allzu weltlichen Spektakel so schnell wie möglich zu entkommen.

 

Barimov Kaskatan schenkte erst Slif, dann Barn einen Blick voller Wärme und Anerkennung. "Ich muss sagen, es gefällt mir, dass ihr zwei schon miteinander spielt", sagte er. "Spiele sind wichtig, wenn es darum geht, das Leben zu erkunden."

Dann klatschte er in die Hände.

"Los geht's, meine Freunde!", rief er. "Tut euch nicht allzu sehr weh!"

Slif schoss kometengleich auf Barn zu. Der Mann aus dem Norden, der kein brillanter Taktiker war, aber ahnte, dass die Frau höchstens ein Viertel seines Gewichts besaß, blieb einfach stehen.

Mit der Gewalt einer Mücke, die auf die Stirn eines Zugochsen prallt, schlug Slif in Barns mächtige Form ein und ging zu Boden. Barn grinste. "Ho, Mädel!", rief er und stellte sich breitbeinig hin. Seine dicken Finger spreizten sich erwartungsvoll. Auch wenn sie für seinen Geschmack etwas zu mager war, wollte er die Frau ein wenig abtasten, bevor sie aufgeben musste.

Slif antwortete nicht, sondern kam mit einer Bewegung, die sowohl zu komplex als auch zu schnell für den Norländer war, wieder auf die Beine.

"Wudda-Dudda", sagte sie, und schien dann vier Personen gleichzeitig zu sein, die Barn von allen Seiten kräftig traten und schlugen.

Dem Mann aus dem Norden machte das nicht allzu viel aus, er hatte seine Jugend mit einer Schwester verbracht, die sowohl schneller als auch gemeiner gewesen war als er. Doch niemals massiver.

Aber dann hakte Slif einen Fuß hinter seine rechte Ferse, traf ihn in der linken Kniekehle und brachte die gewaltige Festung des Nordmannes zum jähen und unerwarteten Einsturz. Barn fiel wie ein Turm, sein Hinterkopf traf den Boden hart. Er sah ein paar Sterne, wo um diese Zeit noch keine sein durften.

"Wohie!", schrie Slif, riss die Arme über den Kopf und stellte einen schmutzigen nackten Fuß auf Barns Brust.

Barimov Kaskatan applaudierte langsam.

"Gut gemacht! Slif, großer Mann, euer Duell war eine Augenweide, und sehr, sehr erbaulich", sagte er. "Aber versteht bitte, Kraft und Geschick sind komplementär, nicht antagonistisch. Bleibt Freunde. Und jetzt müssen wir los, ich will den Waldrand heute Abend noch erreichen."

Slif nickte, entfernte ihren Fuß aus Barns Muskeln, und Barn grunzte.

"Und jetzt, Mädel?", fragte er, während er aufstand.

"Bleiben wir Freunde", sagte Slif und zeigte ihre Zähne. Sie waren noch weißer als ihre Haut. "Morgen Mittag nochmal? Dann mit Waffen?"

Barn zuckte mit den Schultern.

"Is' dein Leben, Mädel."

Er rieb sich das Kinn. Scheinbar war diese Slif an ihm interessiert. Er überlegte, ob das umgekehrt genauso war.

 

*

 

Die Wolken im Norden schwollen im Laufe des Nachmittags zu einer massiven Front, gegen Abend war der gesamte Himmel eisengrau. Erste Regentropfen fielen, als die Reisenden den Waldrand erreichten.

Hier waren die Reste von eingefallenen Schuppen und Häusern als kantige Schatten im wuchernden Gras noch sichtbar – aufgegebene Höfe von Grenzbauern, denen das Reich einst eine Menge Silber bezahlt hatte, um die unfreundliche Öde zu besiedeln. Nur die Götter wussten, was ihnen widerfahren war.

Wie ein Symbol menschlicher Beharrlichkeit stand ein einzelnes Wagenrad aufrecht am Rand des Weges, das Holz gut erhalten und der eiserne Radreifen kaum verrostet. Es zeigte abblätternde Reste schwarzer Farbe – vielleicht war es einmal so etwas wie ein Ortsschild gewesen.

Mit breitem Grinsen nahm Danno Floricker Anlauf, um es umzutreten.

Dann sprang er eine Weile fluchend auf einem Bein, denn er hatte sich den großen Zeh geprellt. Das Wagenrad blieb aufrecht, wie Symbole der Beharrlichkeit es tun sollten.

 

"Wir bleiben hier", entschied Barimov Kaskatan und deutete mit einer umfassenden Geste auf das, was von einer Viehweide nach Jahrzehnten der Vernachlässigung noch übrig war. "Stellt die Wagen im Dreieck auf, nehmt euch etwas Wein aus den Vorräten. Habt einen guten Abend. Lasst euch nicht vom Blitz erschlagen – und hört nicht auf die Heckenfeen."

Er legte einen Arm um Slinnis Hüfte und führte sie ins Innere des ersten Wagens. Bevor er die Tür schloss, winkte er seinen Angestellten noch einmal huldvoll zu.

"Keine weiteren Prügeleien, bitte", rief er freundlich. "Und kümmert euch um die Ponys."

 

Ein harter Regen bestimmte die Nacht. Barn, der Bratwurstverkäufer und Danno Floricker verbrachten die Zeit im dritten Wagen, das beständige Dröhnen des fallenden Wassers auf dem gebogenen Blechdach wie ein Heer hysterischer Trommler über ihren Köpfen.

Zunächst hatten sie versucht, sich den Abend mit Würfeln zu vertreiben, dann hatte Danno speckige Spielkarten aus seinem Beutel geholt, aber die drei Männer waren zu müde und zu gereizt, um Spaß an Regeln zu haben. Sie hatten sich noch eine Weile angestarrt, durchaus bereit, gegeneinander gewalttätig zu werden, schließlich aber aufgegeben und sich auf den Boden des Wagens gelegt. Betten gab es keine. Über ihnen hingen Schinken, Würste und gerupfte Hühner von der Decke. Der Geruch von Geräuchertem war scharf wie ein Messer an der Kehle.

Der Bratwurstverkäufer war schnell eingeschlafen, aber Danno hatte noch eine Weile gegrunzt und gegrummelt.

"Bezahlt'n Haufen Geld. N' Haufen. Frag' mich, was wir dafür bezahlen müssen", hatte er abschließend gesagt und war dann in einer Orgie massiven Schnarchens versunken. Barn hatte nichts geantwortet, aber eine lange Zeit über die Frage gegrübelt.

Mit dem üblichen Ergebnis.

 

*

 

Der Morgen des nächsten Tages präsentierte sich wässrig grau, der stetig fallende Regen hatte das Land in der Nacht gründlich aufgeweicht und arbeitete daran, es noch schlammiger zu machen. Als Barn den Reisewagen verließ, platschten seine Stiefel in nasses Gras und matschigen Boden.

"Hallo – zum Aufwärmen gibt es heute Morgen Rührei mit Schnittlauch, Wiesenkräutern und reichlich Speck!", rief ihm Barimov Kaskatan zu. Er hielt eine dicke, gusseiserne Pfanne voll gelblich-grüner Masse über ein unruhiges Holzfeuer. Regentropfen starben zischend in den Flammen. Trotz des schlechten Wetters schien der Gelehrte entspannt und gut gelaunt.

"Wie geht es der lieben Slif?", fragte er, wobei er die Kette seiner perlweißen Zähne zu einem Lächeln reinster Unschuld formte.

Barn runzelte die Stirn.

"Ho?", fragte er. Woher sollte er das wissen?

"Beschissen", sagte eine Stimme hinter ihm. "Das Zelt der lieben Slif ist völlig durchweicht."

"Oh?" Barimov Kaskatan hob eine Braue. Er drehte sich langsam um, vernachlässigte dabei aber die Pfanne nicht.

"Oh ja!", antwortete Slif und zog ein Wurfmesser aus ihrem Rückenpack. "Die liebe Slif ist patschnass. Und nicht auf die angenehme Art."

Das Messer glitt sehr dicht am linken Ohr von Barimov Kaskatan vorbei und bohrte sich in die Hinterseite seines Reisewagens. Ein zweites Messer folgte einen Herzschlag später und passierte das rechte Ohr.

Der Gelehrte blinzelte kurz, dann hob er die Pfanne aus dem Feuer.

"Rührei!", rief er, vielleicht ein wenig schriller als nötig.

 

*

 

Die Straße in den Wald war schmal, kaum mehr als fünf Schritte breit, und wirkte, als sei sie in letzter Zeit nicht häufig benutzt worden. Tatsächlich schien es, als sei der letzte Kontakt mit ihrer Oberfläche der Aufschlag eines altersschwachen Nusshörnchens vor Wochen, wenn nicht Monaten gewesen. Der tote Nager lag immer noch da, verdorrt und verkrümmt wie ein Fragezeichen am Ende eines Lebens, das viel versprochen, aber nichts gehalten hatte.

"Wir müssen achtsam sein", raunte Barimov Kaskatan und deutete zwischen die Bäume. "Diese Wälder sind alt, und niemand weiß, was uns in ihnen erwartet."

Dann grinste er.

"Geschwätz natürlich", rief er, und klatschte zufrieden in die Hände. "Bäume erwarten uns, und Bäume sind so ziemlich das langweiligste, das ich mir vorstellen kann. Sie lesen nicht, sie schreiben nicht, sie singen keine Lieder. Aber seid bitte trotzdem vorsichtig, denn wenn sie auch sonst nichts können, eins bekommen sie doch hin – umfallen. Slif, Slinni, der Große und ihr anderen drei, deren Namen ich ebenfalls vergessen habe, los geht's."

Er klatschte noch einmal in die Hände. Die Ponys schnaubten synchron, alle achtzehn, und knirschend setzten sich die bemalten Räder der drei Wagen in Bewegung, hinein in den engen, dunkelgrünen Schlund des Waldes.

Ein Buchenhocker in den Ästen über den Reisenden kommentierte das Eindringen mit empörtem Gemecker und blähte die purpurnen Kehlsäcke, aber niemand schenkte ihm Beachtung.

 

*

 

"Ho, wo geht's eigentlich hin?"

Nachdem sich Slif lange Zeit schweigend und mit gesenktem Kopf an seiner Seite gehalten hatte, war es Barn schließlich in den Sinn gekommen, sie nach dem Reiseziel zu fragen, weil ihm sonst kein Gesprächsthema eingefallen war. Irgendetwas an ihr raubte ihm die übliche Eloquenz, die ihn sonst auf den Tanzböden ländlicher Gemeinden zu einer Sensation unter der jungen weiblichen Bevölkerung machte.

Die Frau zuckte mit den Schultern.

"Keine Ahnung", sagte sie, und ihre violetten Augen blickten in eine Ferne weit jenseits der Baumstämme ringsum. "Wir sind schon lange mit Barimov unterwegs. Da war ein alter Ort, in den Bergen über Ybris. Weißgraue Steine, wie zerbrochene Zähne. Ein Eingang unter die Erde dazwischen. Ich sollte ein Pergament suchen… aber da war mehr. Viel mehr. Fast zu viel für mich." Sie hielt kurz inne. Schauderte. "Irgendwie kam ich wieder raus, mit einer Schriftrolle in der Hand. An mehr erinnere ich mich nicht. Barimov hat die Rolle übersetzt, und glaubt, hier im Wald etwas zu finden, aber was…" Ihre Schultern hoben sich nochmals. "Keine Ahnung. Frag ihn doch. Er redet gern."

Mit diesen Worten entfernte sie sich, um allein gegen alte Gespenster zu kämpfen.

Barn grunzte und nickte. Einfach Barimov Kaskatan fragen – dass er nicht von selbst darauf gekommen war!

Er sah sich nach dem ersten Wagen um, aber nur Slinni saß auf dem Kutschbock und blickte mit grimmiger Konzentration in den grauen Tag. Barn beschloss, den Gelehrten beim Abendessen anzusprechen.

Und hatte den Vorsatz nach fünf Minuten vergessen.

 

Gegen Nachmittag erreichte der Wagenzug eine weite Fläche der Zerstörung. Verkohlte Stämme ragten links und rechts des Weges vorwurfsvoll in den bleiernen Himmel, und es roch bitter nach nasser Asche. Auf der linken Seite erhob sich, weit entfernt und verschwommen hinter grauen Regenschleiern eine dunkle Masse, die hoffentlich nur ein Felsen war, vielleicht aber auch ein schlummernder Zunderbolg, dieser Fluch alles Brennbaren.

Der Regen erkannte die Schutzlosigkeit der Reisenden und nahm an Intensität zu. Mit fast verdoppeltem Eifer schickte er dicke, kalte Tropfen in ohnehin bereits unterkühlte Gesichter, spritzte in Nasenlöcher und zwang sich zwischen bläuliche Lippen. Sein eisiges Wasser durchtränkte auch die letzten trockenen Falten der Kleidung an intimsten Stellen.

"Gruunz!", fluchte Barn, als er hinauf in die schweren Wolken blinzelte. Das Haar klebte ihm im Gesicht, der Umhang, die Jacke, das Hemd, die Hose und die Stiefel waren durchweicht, Finger und Zehen kalt, und er war sicher, dass an diesem Tag nichts mehr richtig laufen würde, außer Wasser in seinen Kragen.

"Wird nicht besser, wenn man schimpft", rief Danno Floricker von hinten und lachte meckernd. Dann sprang er platschend in eine Pfütze.

Barn biss die Zähne zusammen. Er begann, den alten Bock weniger und weniger zu mögen.

"Ho!", rief er erbost, hatte aber keine Lust, den Arm zu einer passenden Geste zu heben – dafür waren die Ärmel seines Hemdes einfach zu klamm.

 

Als sie die verbrannte Erde hinter sich gelassen hatten und die Wipfel der Bäume wieder ihre schützenden Blätter über sie hielten, war das den Reisenden schon egal.

"Ein Drittel des Weges haben wir hinter uns," ertönte Barimov Kaskatans Stimme über dem Rauschen des Regens. Er stand in der rückwärtigen Tür seines Wagens, sicher und trocken. "Ich habe es gerade nachgemessen." Er zeigte auf einen ledrigen Lappen, der vermutlich eine Karte war. Wenn er erwartet hatte, dass seine durchnässten Angestellten bei dieser Information motiviert aufjauchzen würden, hatte er sich getäuscht.

 

*

 

Die Nacht brach mit überraschender Plötzlichkeit herein – der Himmel im Westen, soweit er hinter Wolken und Baumkronen sichtbar war, färbte sich kurz orange, dann rot, und Momente später war schon alles blauschwarz wie eine gereifte Prellung. Der Regen machte unbeeindruckt weiter.

 

"Komm mit", zischte eine Stimme neben Barn. "Da ist wer vor uns."

Barn grunzte. "Hm?", machte er.

"Frag nicht so dumm, Muskelmann", sagte Slif. "Es steht dir zu gut. Jetzt komm. Leise."

Sie gab Slinni ein kompliziertes Handzeichen. Die hielt ihren Wagen daraufhin sofort an.

Wie eine Gestalt aus einer Figurenuhr erschien Barimov Kaskatan in der Tür an der Rückseite des Wagens und hob eine Hand.

"Wir machen hier Halt!", rief er freundlich in den Wald. "Diesmal bereitet die liebe Slinni das Abendessen. Gebratener Hase in Dill-Senfsoße nach Art von Dawodaso. Mit Röstkartoffeln! Hmmm!"

 

"Ich weiß nicht, wie sie sie erträgt", seufzte Slif, während sie Barn weiter den Weg entlang führte.

Barn zuckte mit den Schultern. "Hm, was?", fragte er, nicht besonders interessiert.

"Ihre speziellen Dienste für Barimov", erwiderte Slif. "Aber das ist jetzt unwichtig."

Ihre Hand fasste nach der des Barbaren und zog ihn mit überraschender Kraft vorwärts. "Leise jetzt."

 

*

 

"Da, siehst du?", wisperte Slif. "Fünf Leute. Sie warten auf uns. Ein Hinterhalt."

Barn nickte. Die fünf Personen waren trotz des harten Regens nicht zu überhören. Offenbar waren sie überzeugt, dass sie inmitten des nächtlichen Waldes, immerhin fünf Schritte vom Wegesrand entfernt, niemand entdecken würde. Sie unterhielten sich so ungedämpft, als säßen sie in ihrem Lieblingsgasthaus bei anregenden Getränken über einem Brettspiel.

"Drei Wagen, drei Wachen, sagst du, Kworrn?", fragte eine kehlige Stimme.

Barn zuckte zusammen – das war unverkennbar Ella Nelkella, eines der drei Mädels aus dem Südturm. Sie schlug einen fantastischen linken Haken und sah aus wie eine Göttin; er hatte ihr nur deswegen nicht weiter nachgestellt, weil sie ihm überzeugend dargelegt hatte, dass sie Männer in etwa so attraktiv fand wie tote Fliegen in einem benutzten Nachttopf.

"Ja, drei", antwortete Kworrn Kantstein. "Der alte Danno, ein Mädchen mit Messern, und Barn der Barbar. Der gefährlichste ist wahrscheinlich dieser Idiot Barn, aber selbst der findet den eigenen Hintern nicht, wenn man ihm nur schnell genug draufhaut."

Barn begann zu knurren. Eine Hand legte sich auf seinen Arm.

"Genau – du machst Krach, ich komme von hinten", flüsterte Slif, und verschwand.

Barn starrte irritiert auf die Leere, die die schmale Frau so plötzlich hinterlassen hatte. Dann straffte er seine breiten Schultern. Lärmen war für einen Mann aus dem Norden niemals ein Problem.

"Ho!", brüllte er in die Nacht, zog sein Schwert und sprang vorwärts. Seinen eigenen Hintern nicht finden? "Ho-ho-ho!"

"Was?", schrie jemand.

Barn hob das rechte Bein zu einem harten Tritt und traf Ellas delikates Kinn mit der Stiefelspitze. Eine große Menge Schönheit stürzte schwer zu Boden.

"Es ist der Barbar!", schrie jemand anderes.

Ein Blitzen in der Dunkelheit. Barn drehte instinktiv das Handgelenk – mit einem metallischen Klirren glitt eine Klinge Funken sprühend von Windmacher ab. Der Nordmann schlug nach links und wurde mit einem dumpfen Keuchen belohnt. Ein zweiter Körper fiel.

"Wohie!", schrie jemand vor ihm, und dem Schrei folgte ein Stakkato von Geräuschen, die ein erfahrener Koch beim Hacken roter Rüben erzeugen mochte. "Wuhaa!"

Flüssigkeit spritzte dem Nordmann ins Gesicht. Salzig schmeckende, warme Flüssigkeit. Er hoffte trotzdem, dass sie nur Regenwasser war.

Dann schoss ein Schatten, kaum heller als der umgebende Wald, auf ihn zu. Reflexhaft riss er Windmacher schräg vor den Körper. Ein Hagel von Hieben traf die schwere Klinge.

Barn grunzte.

Die Schläge hörten abrupt auf.

"Oh, Entschuldigung!" Slif klang nicht besonders reumütig. "Ich dachte, du wärst nicht du."

Barn schob ein weiteres Grunzen nach. Wer sonst sollte er sein, wenn nicht er selbst? Betont langsam senkte er Windmacher, um seinen Unmut auszudrücken.

"Sin wir fertig hier, Mädel?", fragte er in kaltem Ton.

"Lass uns mal nachsehen", rief Slif fröhlich.

Ein scharfes Kratzen ertönte, dann flackerte ein helles Licht auf. Barn blinzelte.

Slif hielt eine winzige Fackel in der Hand, kaum länger als ein Finger. Mit geschmeidigen Bewegungen umrundete sie die Körper, die auf dem nassen Waldboden lagen, und leuchtete jedem ins Gesicht, soweit es noch vorhanden war.

"Alles abgelehnte Bewerber, und alle… bestätigt, bis auf die da", stellte sie fest und trat Ella Nelkella kräftig in die Seite. Die Frau stöhnte leise. "Der viel zu gute Barimov hat jedem von ihnen zum Abschied eine Silber-Ähre geschenkt. Als Trost. Das hat ihnen wohl nicht gereicht."

Sie trat Ella der Vollständigkeit halber noch einmal in die Rippen, dann blies sie auf ihre Fackel, und die Flamme erlosch.

"Ich denke, jetzt haben sie genug. Lass uns zurückgehen."

 

*

 

Nachdem Slif und Barn gegangen waren, löste sich eine graue Gestalt aus der Dunkelheit und kniete sich über Ella Nelkella.

"Tut mir leid, keine Zeugen", wisperte sie, dann schnitt sie der Frau die Kehle durch.

 

*

 

Als Slif und Barn wieder zwischen den Wagen standen, war vom Hasen und seiner Dill-Senfsoße nach der Art von Dawodaso nichts mehr übrig. Es gab nur noch ein paar Röstkartoffeln, deren Farbe allerdings deutlich machte, dass sie bei der Stahlerzeugung besser aufgehoben waren als in einem menschlichen Magen.

Barimov Kaskatan ließ sich kurz über den Vorfall unterrichten, bedauerte ausdrücklich die Notwendigkeit von Gewalt und gähnte dann demonstrativ.

"Es wird spät, und die Weinration für heute ist leider alle", stellte er fest. "Aber macht euch ruhig noch eine schöne Zeit, ihr zwei Schönen."

Er zwinkerte.

Während er und Slinni sich in Richtung ihres Wagens verabschiedeten, setzten sich Slif und Barn an das Feuer, das unter dem immer noch kräftigen Regen langsam aufgab.

Über die Flammen hinweg starrte Slif den Nordmann an. Ihre Augen waren zwei violette Sterne, ihr geschwungener Mund lächelte.

"Wir haben gut zusammengearbeitet, heute Abend", sagte sie nach einer Weile.

"Ich finde, wir sollten uns besser kennenlernen."

Barn runzelte die Stirn – sie kannten sich doch schon? "Hm, was?", fragte er, etwas abwesend. Seine Aufmerksamkeit galt der Schüssel schwärzlicher Kartoffeln, die neben dem Feuer stand und langsam Regenwasser sammelte. Er versuchte, herauszufinden, ob er hungrig genug war, etwas daraus zu essen.

Slif seufzte und strich sich eine silberne Haarsträhne hinter ein Ohr. Sie blickte in den Himmel und blinzelte, als sie ein dicker Tropfen genau auf die Nase traf.

"Als ich meinen ersten Auftrag abgeschlossen habe, war ich elf Jahre alt – ich war die Beste in meiner Klasse, viel besser als Slinni, obwohl die drei Stunden älter ist als ich. Wie war es bei dir?"

Die Augen des Nordmanns wanderten von links nach rechts, dann von unten nach oben. "Äh…was?"

"Naja, Aufträge abschließen – Totenscheine verifizieren." Sie machte eine hilflose Geste, als sei ihr unverständlich, dass ihr Gegenüber etwas so Grundsätzliches nicht verstand. "Beeinträchtigungen vertragsgemäß beseitigen. Wann hast du das erste Mal?"

Barn dachte eine lange Weile nach, dann erhellte sich seine Miene. "Du meinst mit Mädels?", grinste er.

Die Frau schloss kurz die Augen.

"Nein, nicht das", sagte sie. "Das andere."

Und sie fuhr sich mit zwei Fingern über die Kehle.

Da verstand der Nordmann.

"Töten?"

Slif verzog das schöne Gesicht, als hätte man ihr eine verwesende Ratte unter die Nase gehalten.

"Die Gilde verwendet dieses Wort nicht", sagte sie, plötzlich steif. "Es ist emotional zu aufgeladen und reflektiert nicht den rein professionellen Aspekt der Tätigkeit. Wir erfüllen Verträge. Das Ableben einer Zielperson ist die Folge einer wirtschaftlichen Transaktion zwischen zwei Entscheidern, auf die wir als Ausführende keinen Einfluss haben."

Der Mann aus dem Norden zuckte mit den Schultern. Er starrte in die Dunkelheit. Was sollte er dazu sagen, abgesehen davon, dass er kein Wort verstanden hatte? Aber er dachte über die ursprüngliche Frage nach. Offenbar war sie dem Mädel wichtig.

"Weiß nich'", antwortete er nach einer langen Zeit. "Vierzehn Winter? War aber keine Absicht. Typ is' in mein Schwert gelaufen. Dreimal. War echt ein Idiot."

"Was hast du gefühlt, danach?"

Barn schüttelte den Kopf. "Keine Ahnung. Nix. Oder… weiß nich."

Ihn schauderte. Vielleicht war es der Regen, der nicht wärmer wurde. Oder die Erinnerung an Nerf Steinbrechers plötzlich ausdrucksloses Gesicht.

"Hm…", machte Slif und rieb sich die Nase, während sie wieder in den Nachthimmel blickte. Dann stand sie auf. "Das war wichtig für mich. Ich muss darüber schlafen. Gute Nacht, Barn."

Sie verschmolz mit der Dunkelheit.

Barn grunzte. Was war das jetzt wieder gewesen?

Er starrte in das Lagerfeuer und griff sich schließlich mit einem Seufzen die Schüssel mit den Röstkartoffeln.

 

*

 

Der nächste Morgen begann für Barn mit einer Magenverstimmung und dem Eindruck, jemand habe seine Zunge mit Teer bepinselt. Außerdem hallte in seinen Gehörgängen immer noch das Echo von Danno Florickers monströsem Schnarchen nach.

Aber als er vor den Wagen trat, stellte er fest, dass nicht alles schlecht war an diesem neuen Tag – der Regen hatte aufgehört, Heckenfeen zirpten, Vögel sangen, und Nusshörnchen huschten keckernd durchs Geäst und bewarfen einander mit Eicheln. Es drangen sogar einzelne Sonnenstrahlen durch das Blätterdach.

Barn streckte seine gewaltigen Arme und stieß einen Laut aus, als entspanne sich ein lang niedergehaltener Baum zurück in die Senkrechte. Vögel, Nusshörnchen und Heckenfeen flohen in Panik.

 

Das Frühstück war diesmal vom Bratwurstverkäufer zubereitet worden. Es gab Bratwurst mit Speck, mit Speck gefüllte Bratwurst und Bratwurst im Speckmantel. Vermutlich verkürzten sich alle, die davon aßen, ihr Leben um mehrere Monde.

Barn betrachtete die Würste, lauschte seinem Magen und griff nach einem der mittlerweile sehr alten Brötchen, die der Bratwurstverkäufer aus der Stadt mitgebracht hatte. Der schenkte ihm dafür einen so traurigen Blick, dass jeder Hundewelpe neidisch geworden wäre.

 

*

 

"Es beginnt der dritte Tag unserer gemeinsamen Reise, und ich habe etwas Besonderes geplant, damit uns nicht langweilig wird", verkündete Barimov Kaskatan nach dem Frühstück. "Ein Spiel! Wer mir als Erster bis Mittag etwas Interessantes bringt oder zeigt, darf das Essen kochen!"

Er strahlte wie der aufgehende Vollmond, obwohl sich die Begeisterung seiner Angestellten in engen Grenzen hielt.

"Slif!", rief er dann. "Die liebe Slinni möchte ein paar Kräuter sammeln. Daher würde ich mich freuen, wenn du heute den ersten Wagen lenkst."

Slif hätte bei jeder Donnergöttin sofort die Stelle als Erste Gewitterwolke bekommen, so finster und bedrohlich war ihr Blick, während sie zum Kutschbock stampfte. Als sie den Barbaren passierte, rammte sie ihm einen spitzen Ellenbogen zwischen die Rippen.

"Heute Mittag – Training", zischte sie. "Stäbe, wenn du kannst. Und wenn nicht, umso besser. Ich hasse Kutschfahrten."

 

Die Zeit bis zum Mittag verging qualvoll langsam, während Barimov Kaskatans Angestellte sich bemühten, nur nichts Interessantes zu finden. Selten waren Stiefelspitzen so intensiv betrachtet worden. Ab und zu tauchte Slinni wie ein Spuk aus dem Wald auf und verstaute gebündeltes Grünzeug im ersten Wagen, um dann gleich wieder zwischen den Bäumen zu verschwinden. Auch sie wurde sorgfältig nicht beachtet.

Arissa Welklöffel allerdings bediente sich den Vormittag über so massiv aus ihrer Tonflasche, dass sie unwillkürlich "Heee – wassndassa?" ausrief, als das überwucherte Bauwerk neben dem Weg sichtbar wurde.

Danno Floricker zischte ihr noch zu, still zu sein – wahrscheinlich war für ihn das einzige, das schlimmer war, als das Essen selbst zuzubereiten, es von Arissa zubereitet zu bekommen – doch zu spät. Barimov Kaskatan, der entgegen seiner Angewohnheit nicht im ersten Wagen Platz genommen hatte, sondern neben den Ponys des zweiten herging, klatschte in die Hände und rief: "Interessant! Wir haben eine Gewinnerin! Lasst uns hier anhalten!"

Dabei lächelte er fein, denn natürlich hatte er das verfallende Gebäude längst gesehen. Vermutlich hatte er sogar erwartet, es hier zu finden.

 

Slif sprang vom Wagen, sobald er stillstand, und stürmte auf Barn zu.

"Training!", herrschte sie ihn an, aber Barimov Kaskatan hob eine Hand.

"Noch nicht, liebe Slif. Erst sehen wir uns das an. Es kann ein wichtiger Hinweis sein."

Er zeigte auf das Bauwerk, dessen Form hinter einem Vorhang aus Schlingpflanzen nur schwer auszumachen war.

Freundlich lächelnd winkte er Barn und Danno Floricker heran.

"Großer. Und du da. Nehmt eure Schwerter und haut mir ein Loch in diese Ranken!"

Der Barbar verzog das Gesicht und zog demonstrativ den Dolch. Gemüseschneiden war keine Schwertarbeit.

Danno Floricker hatte solche Skrupel nicht und hackte mit seiner rostigen Klinge so ungehemmt drauflos, dass nach kurzer Zeit eine Öffnung entstand, durch die sich selbst ein riesiger Barbar zwängen konnte, wenn er musste.

Trotz der wütenden Warnungen von Slif schritt Barimov Kaskatan als Erster in das Halbdunkel dahinter.

 

 Das Gebäude hatte Mauern aus bröckelnden, gelben Ziegeln auf einem Sockel aus rotem Sandstein. Von der Form her ein aufrechter Zylinder, wurde es gekrönt von einer kleinen Kuppel aus grünspanigem Kupfer. Zum Weg hin besaß es eine hohe, schmale Öffnung. Das Innere war von einem Meer aus Giftnesseln geflutet, was sogar Barimov Kaskatan verzagen ließ.

"Weiter hinein geht es wohl nicht", stellte er bekümmert fest. "Aber sehet die Statue!"

Im Schatten erhob sich über den Nesseln eine weißliche Steingestalt, die Figur eines Mannes mit kräftiger Nase, langem Bart, spitzem Hut und einer weiten Robe – unverkennbar ein Zauberer. Die Hände des Mannes waren hoch erhoben und hielten eine große Kugel, auf die sein Gesicht mit entrückter Miene blickte, soweit sich das unter einer Maske aus Vogeldreck feststellen ließ. Der Marmor, aus dem die Statue bestand, war vielfach geborsten, und ein tiefer Riss zog sich durch die Kugel.

"Sehet!", intonierte Barimov Kaskatan feierlich. "Sehet Maralago Drumm, den vielleicht größten Astromanten und Mondbeschwörer aller Zeiten!"

Barn grunzte, Slif zischte. Der Rest der Anwesenden zeigte keine Regung.

"Es ist sein Werk, dem wir nachspüren. Jetzt weiß ich, dass wir auf dem richtigen Weg sind", fuhr Barimov fort, unberührt von der Ignoranz seiner Begleiter. Dann drehte er sich um und klatschte in die Hände. "Und nun – Mahlzeit!"

Diesmal gab es eine universale Regung: alle verzogen die Gesichter.

 

Was Arissa Welklöffel nach einer halben Stunde Fluchens und Rührens produzierte, war erstaunlich wohlschmeckend, auch wenn es in erster Linie aus heißem Kräuterschnaps, Hackfleisch, Kartoffeln und Lauch zu bestehen schien. Auf jeden Fall war die Stimmung unter den Reisenden nach dem Essen deutlich gelöster als davor.

 

"Und nun – Training!", rief Slif dem Barbaren zu und verschwand kurz im zweiten Wagen. Als sie wieder herauskam, trug sie zwei hölzerne Stäbe, die länger waren als sie selbst.

Einen Stab warf sie Barn zu.

Der Barbar fing das Holz und grinste. Er hatte Erfahrung mit dem Stabkampf – bevor ein Norländer alt genug war, ein Schwert oder eine Axt zu tragen, war seine Waffe der Stab. Auch wurde eine der wichtigsten Prüfungen der Burschweih, der Kampf auf der Bierbrücke, mit Stäben ausgetragen.

Alles Dinge, die das Mädel bald herausfinden würde.

 

Das Kampffeld bestand aus zwei zehn Schritte entfernten Linien, die vom Bratwurstverkäufer in den Dreck des Waldwegs gekratzt worden waren. Die seitliche Begrenzung war der Wald selbst.

Slif war bester Laune. Sie grinste ihr manisches Grinsen und ließ den Stab links, rechts, vor der Brust und hinter dem Rücken wirbeln, als hätten ihre Hände Drehgelenke. Dazu stieß sie eine Reihe kurzer, verzückter Laute aus, die besser in eine wesentlich intimere Situation gepasst hätten.

Barn hielt sein Holz ruhig. Er hoffte, das Schauspiel schnell zu beenden, ohne dem Mädel wirklich weh zu tun. Denn irgendwie mochte er Slif, obwohl er sie immer noch für ein wenig zu mager hielt.

 

Barimov Kaskatan, der sich wieder zum Schiedsrichter erklärt hatte, sprach ein paar ermahnende Worte über Freundschaft, Schmerz und die Effekte von Hartholz auf den menschlichen Körper. Dann klatschte er in die Hände, als Zeichen, zu beginnen.

Wie erwartet, stürmte Slif schrill kreischend und mit wirbelnder Waffe direkt auf den Nordmann zu. Barn hielt seinen Stab mit beiden Händen wie ein Schwert, um den Wirbel zu blocken und der Frau das Holz aus der Hand zu schlagen.

Deshalb gelang es ihm nur mit Mühe, Slifs Hieb in Richtung seines Unterleibs abzulenken, als die sich überraschend zu Boden fallen ließ und mit hoch erhobenem Stab zwischen seinen Beinen hindurchrutschte.

Während er sich noch drehte, war Slif schon wieder auf den Füßen und schlug nach seinen Knien. Da es für einen Sprung zu spät war, knickte Barn ein und nahm den Schlag auf den Oberschenkel. Er grunzte vor Schmerz, verlängerte seine Drehung und verfehlte Slifs linke Schulter. Slif grinste teuflisch.

Da kam lautes Rufen aus dem Wald.

"Slif! Barimov! Alle! Wir müssen weg hier!"

Slinni brach durch das Unterholz und blieb schwer atmend in der Mitte des Weges stehen. Slif ließ den Stab fallen und eilte zu ihrer Schwester. 

"Slinni, was ist denn passiert? Hast du wieder Kraut gekaut? Du siehst furchtbar aus!"

Das war nicht nett, entsprach aber den Tatsachen. Slinnis feines Silberhaar war verfilzt und voller Laub und kleiner Äste, ihr Gesicht schmutzig und ihre Kleidung gefährlich zerrissen. Sie wirkte wie jemand, der eine Orgie mit drei Brombeerhecken zugleich gefeiert hatte.

"Erklärung später", stieß Slinni hervor. "Wir müssen weg."

Inzwischen war auch Barimov Kaskatan herbeigekommen. Er fasste Slinni sanft an den Schultern. "Wir können die Wagen hier nicht wenden, liebe Slinni!", sagte er betont langsam. "Aber erzähl uns, was dir passiert ist."

"Dann weiterfahren!" Slinnis sonst so ruhige Stimme wurde fast schrill. "Weg von hier, von den Gebäuden, von den Statuen!"

Barimov Kaskatan sah sie mit großen Augen an. "Statuen? Es gibt mehrere davon?", fragte er.

Slinni nickte. "Allerdings."

"Baahs Atem…", flüsterte Barimov Kaskatan. "Da habe ich die Stelle wohl falsch übersetzt."

Er klatschte hektisch in die Hände. "Wir brechen auf!", rief er. "Wir brechen sofort auf!"

 

Slif, Slinni, Barimov Kaskatan und Barn drängten sich auf dem Kutschbock des ersten Wagens. Arissa Welklöffel folgte mit Wagen zwei, aufgrund ihrer hohen Dosis Kräuterschnaps beim Lenken unterstützt von Danno Floricker. Der Bratwurstverkäufer bildete die Nachhut, allein, aber unbesorgt. Die Ponys, angesteckt von der Unruhe der Menschen, legten ein unerwartetes Tempo vor – das etwa dem Wanderschritt eines rüstigen älteren Herren entsprach.

 

Die Ruine, der Kessel mit den Resten von Arissas Eintopf und fünf teure Klapphocker aus geöltem Walnussholz blieben hinter der Expedition zurück. Niemand hörte das kalte Knirschen brechenden Steins, das aus dem zerfallenden Gebäude drang, und niemand sah die marmorne Mondkugel auf die Straße rollen und dort in zwei Teile brechen.

 

*

 

Die in Grau gehüllte Gestalt, die den Ort etwas später erreichte, studierte erst die Trümmer, dann den Eintopf, schauderte kurz und huschte schließlich lautlos weiter.

 

*

 

"Da ist nicht nur dieses eine Gebäude", erklärte Slinni. "Der Wald ist voll davon. Ein halbes Dutzend habe ich gesehen. Alle in Sichtweite zueinander, wie Wachtürme. Und die Statuen darin – sind keine Statuen. Das sind Automato, oder sowas."

"Automato?", wiederholte Slif. "Wie das Zeug, das diese Irren in Rawahsnittah zusammenbauen?"

"Oh Schwester. Vielleicht. Auf jeden Fall bewegen sie sich. Und sie sind schnell. Fünf haben mich verfolgt."

"Unsere Statue hat sich nicht bewegt", wandte Barimov Kaskatan ein. "Und wir waren eine ganze Weile dort."

Slinni stieß scharf den Atem aus. "Wenn ich sage, fünf haben mich verfolgt, dann haben mich fünf verfolgt! Ich verzähle mich nicht. Vielleicht war eure kaputt, was weiß ich."

Sie senkte den Kopf und rang die Hände, bis ihre Knöchel hervortraten. Es war verstörend, die sonst so entspannte Frau so verstört zu sehen.

"Liebste Slinni, wenn sie dich verfolgt haben, wo sind sie jetzt?"

Slinni warf einen wilden Blick auf den Gelehrten. "Was weiß ich?", wiederholte sie. "Eine ist, glaube ich, zerbrochen, eine andere in einen Tümpel gefallen und versunken. Was den Rest angeht…" Sie zuckte mit den Schultern.

Dann schrie sie auf.

"Da!"

 

Auf der linken Seite des Waldwegs stand die lebensgroße Statue eines untersetzten Zauberers mit einer großen Kugel in den erhobenen Händen. Die Kugel hielt sie auf die vier Personen auf dem Kutschbock gerichtet, als wolle sie Maß nehmen für einen Wurf.

Die Ponys waren nicht so schnell, dass der Wagen nicht hätte ausweichen können – nur gab es keinen Platz dafür. Die Bäume, massive Rotbuchen und Stieleichen, waren auf beiden Seiten des Weges so dick und alt, dass eine Kollision mit ihnen wahrscheinlich fataler war als mit der Steinfigur.

"Barn!", rief Slif, während der Wagen dem Zauberer immer näher kam. Sie zerrte an den Zügeln. Die Ponys reagierten nicht, da das Hindernis zumindest für sie keine Bedrohung darstellte. Dass die Wagen hinter ihnen zu breit waren, um die Statue unbeschädigt zu passieren, war den boshaften Biestern egal.

"Ja, Großer, lass dir was einfallen!" Barimov Kaskatans Stimme hatte die übliche ruhige Tiefe verloren. "Fünf Gold-Ähren für einen Einfall!"

Barn grunzte. Überall verspottete man ihn als den einfältigen Barbaren, aber wenn es schwierig wurde, war er plötzlich das letzte Bollwerk der Zivilisation.

Weiter dachte er nicht, sondern sprang vom Kutschbock direkt auf die Statue zu. Mit einer halben Drehung des Oberkörpers schob er die linke Schulter vor. Er spannte die Armmuskeln an.

Das war die Eröffnungsfigur des Schweinerammens, einer Sportart, die in seiner Heimat sehr populär war. Es ging dabei darum, eine bis zu vierhundert Pfund schwere Sau mit möglichst nur einem einzigen Angriff umzuwerfen. Das nördliche Äquivalent zum Schachspiel der Südländer.

Als Barn gegen die Steinfigur prallte, musste er feststellen, dass eine Steinfigur im Vergleich zu einer ausgewachsenen Sau wesentlich weniger weich und nachgiebig war.

Aber so war das Leben, jeder Tag brachte neue Erfahrungen, und manche davon waren schmerzhaft.

Etwas in seiner Schulter knirschte. Dann schlug ihm die Statue die Kugel mit Wucht gegen die Stirn.

Das Letzte, das der Nordmann wahrnahm, war ein hämisches Grinsen in einem langen, steinernen Bart, eine Welt, die kippte, und ein riesiger Mond, der auf ihn niederfiel.

 

*

 

"Unser großer Freund hat glücklicherweise einen sehr dicken Schädel", drang eine Stimme aus weiter Entfernung in Barns Ohren. "Ladet ihn in meinen Wagen, dann fahren wir weiter! Aber passt auf, dass er die Schriften nicht vollblutet!"

Der Nordmann nahm nur vage wahr, wie er unter Fluchen und Stöhnen hochgehoben wurde. Jemand beschwerte sich über sein Gewicht, es klang wie Danno Floricker am anderen Ende eines langen, mit Wolle gefüllten Tunnels.

 

"Das muss genäht werden. Machst du das, Slif? Du bist besser mit spitzen Sachen als ich."

Ein Gesicht beugte sich über ihn.

Der Rand eines Gefäßes wurde an seinen Mund gehalten, Flüssigkeit schwappte gegen seine Lippen. "Trink das", befahl jemand. Er tat es, und Hitze durchströmte seinen Körper. Danach verbrachte er eine sehr lange Zeit in einem farbenfrohen Zustand, der nicht ganz Traum war und nicht ganz Rausch.

 

*

 

Er war ein goldenes Krokodil in einer Stadt aus lebendem Sand und wurde gejagt von einer Horde Rosen, die riefen, er habe die Mondin beleidigt. Sie stachen ihm die Dornenhörner in die Stirn, und sein Blut war rot wie Kupfer. Aber als die Fee vom Spiegel sprang und vom Duft der Sonne sang, gab es ein großes Fest, auf dem er Ehrengast war und eine Hose aus Bratwürsten tragen durfte…

 

*

 

"Trink das."

Zu keiner Art von Widerstand fähig, öffnete Barn den Mund. Dieses zweite Getränk brannte sich wie ein eisiger Gebirgsbach durch seine Kehle und spülte die Wärme, die Farben und den Nebel aus Leib und Seele.

Und plötzlich war er wach. Langsam und unwillkommen kehrten Gefühl und Wahrnehmung zurück: Stirn und linke Schulter pulsten im Rhythmus seines Herzschlags, die Nase schmerzte wie nach einer Wirtshausschlägerei. Er lag auf dem Rücken, auf etwas, das sich anfühlte wie eine kratzige Wolldecke von der Sorte, die man im Winter auf Ponys legt – dem Geruch nach hatte sie schon in vielen Wintern auf vielen Ponys gelegen. Dazu gurgelte in seinem Bauch ein hämischer Wassermann ein Trinklied.

Trotz aller barbarischen Härte entfuhr Barn ein Stöhnen.

"Es spricht!"

Eine Stimme wie eine silberne Glocke: Slif.

Barn öffnete vorsichtig die Augen. Über sich gebeugt fand er Slif, Slinni und Barimov Kaskatan, alle drei mit diesem besonderen Lächeln im Gesicht, das sich Menschen für verunsicherte Kinder und einfältige Männer aus dem hohen Norden aufbewahren.

"Ho, warum gebt ihr mir Gift?", fragte Barn mit schwacher Stimme, während er seinem Magen lauschte – jetzt klang er wie eine wild feiernde Bande betrunkener Kobolde in einem Mostfass.

"Gift? Gift ist so ein dummes Wort", sagte Slinni und machte eine Handbewegung, die andeutete, dass sie bereits ermüdende Diskussionen zu dem Thema geführt hatte. "Alles ist im Übermaß tödlich. Wenn du jeden Tag einen Krug Wasser trinkst, ist das gut für dich. Wenn du an einem Tag vierzig Krüge trinkst, bist du tot. Ein Fingerhut voll Fingerhut kann dem Herzen helfen, etwas mehr davon… eher nicht. Was ich dir gegeben habe, war eine Mischung aus Mohn, Anis, Fenchel und Kümmel. Und danach Öl vom Wunderbaum, um den Trank wieder aus deinem Leib zu treiben. Wenn er nämlich zu lange drinbleibt, passieren schlimme Dinge. Du solltest übrigens deine Hosen wechseln. Ach, und Slif hat deine Stirn genäht."

"Hm?", machte der Barbar angesichts dieser verwirrenden Menge an Information.

Slinni zuckte mit den Schultern. "Gern geschehen."

Dann begann sie, Bündel frischer Kräuter an eine quer durch den Wagen gespannte Schnur zu hängen.

"Der Steinmann?", fragte Barn nach einer Weile.

"Dank Eures beispiellosen Einsatzes gefallen und zerbrochen", sagte Barimov Kaskatan voll Wärme. "In drei Teile. Wir sind jetzt zwei Wegstunden von den Wachtürmen entfernt und haben keinen weiteren Automaten – oder was auch immer sonst das war – mehr gesehen. Ich denke, wir haben sie hinter uns."

"Nicht, dass wir Sorgen gehabt hätten", ergänzte Slif. "Wäre uns noch einer begegnet, hätten wir einfach noch einmal einen Nordmann draufgeworfen. Wudda!"

Sie rammte ihre rechte Faust in die Luft, zwinkerte Barn zu und grinste diabolisch.

Barimov Kaskatan hob einen mahnenden Zeigefinger und schüttelte den Kopf.

 "Nein, Slif, das ist eine ernste Sache, und ich muss mich für meinen Leichtsinn entschuldigen. Vor allem bei dir, meine liebe Slinni." Der Gelehrte beugte sein kahles Haupt in Demut. "Ich hätte mit Wächtern rechnen müssen. Ein Großer wie Maralago Drumm weiß natürlich, wie er seine Geheimnisse auch nach dem Tode bewahrt."

Er wandte sich an den Barbaren. "Und daher brauche ich Euch, mein großer Freund – Bart, nicht wahr?"

Barn grunzte. Bart? Er hatte keinen, sehr zu seinem Leidwesen. Der Bart war das Aushängeschild eines jeden Nordmannes, und auch so mancher Nordfrau. Je länger und verfilzter, desto besser. Aber bei ihm wuchs einfach nichts.

Barimov Kaskatan fuhr fort. "Herr Bart, wir werden morgen zu dem Ort kommen, an dem Maralago Drumm gewirkt hat. Nach den heutigen Ereignissen ist nicht auszuschließen, dass dort weitere unangenehme Überraschungen auf uns warten. Ich rechne sogar damit."

Er hob bedeutungsvoll einen Zeigefinger und richtete ihn dann auf Barn. "Ihr habt bewiesen, dass Ihr diesen Dingen gewachsen seid, Herr Bart, also möchte ich sicher sein, Euch morgen in perfekter Form an meiner Seite zu sehen. Ihr habt heute Abend frei und dürft Euch in meinem Wagen ausruhen."

Barn blinzelte. Das war eine Menge Worte, komplizierte Worte, und ihr Zusammenprall mit seinen Kopfschmerzen ließ ihm den Schädel dröhnen.

"Ausruhen?", rief Slif. "Wir haben den Stabkampf nicht beendet!"

"Später, kleine Schwester. Jetzt lass ihn, er hat wirklich mächtig was auf den Kopf bekommen."

"Als ob das bei ihm was ausmacht!" Slif stampfte mit einem Fuß auf, drehte sich um und polterte aggressiv aus dem Wagen.

Barimov Kaskatan nickte Barn noch einmal zu. "Wir fahren weiter. Die liebe Slif wird sich beruhigen und Euch heute Abend das Essen in den Wagen bringen. Es gibt Maronen-Kürbissuppe mit Zwiebelbrot. Und einem Klecks Ponysahne." Er leckte sich die Lippen und lächelte. Dann ging er. Als Letzte im Wagen blickte Slinni bleich und streng auf Barn herunter.

"Nimm dich in acht vor meiner Schwester", sagte sie. "Sie fängt an, dich als Eigentum zu betrachten. Und dann gibt es früher oder später eine Menge Eifersucht, eine Menge Gewalt und schließlich eine Menge Tote. Ich habe das schon ein paar Mal erlebt. Und wirklich, du solltest deine Hosen wechseln."

Sie hielt kurz inne. "Du hast doch Hosen zum Wechseln?"

 

Nach diesen bedeutungsschweren Worten ließ auch Slinni Barn allein.

 

*

 

Das Schaukeln des Wagens gefiel auf Dauer weder Barn noch seinem Magen. Der intensive Geruch der trocknenden Kräuter über ihm war auch nicht hilfreich. Also setzte er sich vorsichtig auf und fand nach einigen Versuchen sogar auf die Beine. Der obere Teil der Wagentür stand offen und ließ das goldene Licht eines herbstlichen Spätnachmittags hinein. Der Barbar tat einen tiefen Atemzug.

Dann sah er sich um: das also war der Wagen von Barimov Kaskatan.

Nach der Art und Weise, wie der Gelehrte sich jeden Abend mit Slinni zurückzog, hatte er erwartet, dass der Innenraum ein Liebesnest war, mit jeder Menge dicken Polstern und weichen Kissen, seidigen Decken und samtigen Vorhängen.

Aber da war nichts davon, nur zwei schmale und sichtbar unbequeme Pritschen links und rechts an den Wänden, darüber Regale, und an der Vorderseite eine große Kiste. Überall waren Bücher, Wachstafeln und Schriftrollen. Und natürlich die Kräuter, die wie ein dichter Pelz von der Decke hingen.

Barn runzelte die Stirn. Er hatte schon eine Menge wilde Sachen mit Mädels gemacht, aber was Slinni und Barimov Kaskatan hier zusammen trieben, lag weit jenseits seiner Vorstellungskraft. Ihn schauderte angesichts der Abgründe menschlicher Verderbtheit, die sich in diesem Wagen vermutlich jede Nacht auftaten.

Nachdem er seine Stiefel neben der Tür entdeckt und angezogen hatte, verließ er das Fahrzeug mit einem Gefühl großer Erleichterung.

 

Draußen war die Luft kühl und roch nach Erde und nassem Laub. Die sinkende Sonne sandte Fächer aus orangenem Licht durch die Baumwipfel.

Auf dem Kutschbock des zweiten Wagens bildeten Arissa Welklöffel und Danno Floricker einen zusammengesunkenen Haufen, aus dem zwei miteinander wetteifernde Schnarchgesänge ertönten. Die Ponys schien die Führerlosigkeit nicht zu stören, sie trabten mit stoischen Mienen einfach dem ersten Wagen hinterher. Der Barbar schüttelte den Kopf und ließ das Fuhrwerk passieren.

"Hey Barn, geht’s dir besser?", rief ihm der Bratwurstverkäufer vom dritten Wagen zu. Echte Sorge lag in seiner Stimme.

"Hm, geht so", brummte Barn und rieb sich die Stirn. Seine Finger fanden eine knotige Erhebung über dem linken Auge. Als er danach tastete, ließ ihn ein scharfer Schmerz zusammenzucken.

"Wenn du kurz die Zügel hältst, könnte ich dir eine Bratwurst machen", schlug der Verkäufer hoffnungsvoll vor. "Zur Stärkung."

Der Barbar dachte nach.

"Hm, Danke, Mann", sagte er dann und zeigte auf seinen Bauch. "Da drin is' noch alles durcheinander. Haste die Slif gesehen?"

Der Bratwurstverkäufer presste die Lippen zusammen und deutete wortlos mit einem Daumen über die Schulter.

 

*

 

Slif bedachte Barn mit einem gewittrigen Blick, als er sie schließlich weit hinter dem letzten Wagen fand. Dann trat sie vehement einen mittelgroßen Stein von der Straße, als sei er der Kopf einer gewissen Person. Er prallte vom Stamm einer Eiche ab und schoss ins Unterholz, aus dem ein schriller Schmerzensschrei und das Getrappel fliehender Füße ertönte. Vermutlich ein Mipt, es war ihre Zeit des abendlichen Erwachens.

"Wenn du erwartest, dass ich dir deine verdammte Suppe bringe, dann kannst du lange warten!", herrschte sie Barn an, und das Licht der untergehenden Sonne füllte ihre Augen mit wildem Feuer.

"Ho?", machte der Barbar, der gar nichts erwartet hatte.

"Du weißt schon!"

Sie gingen eine Weile wortlos nebeneinander her, während sich der Himmel über ihnen rötete und ein leichter Wind aufkam. Der feurige Schweif eines fallenden Sterns schnitt scharf durch das abendliche Firmament. Weder Slif noch Barn wünschten sich etwas.

Barn schnupperte. Er mochte das Meer nicht, aber er war schon oft genug an Meeresufern gewesen, um zu wissen, wie der Wind dort roch. Und der hier roch genauso. Was konnte das bedeuten?

"Barimov will heute Nacht Wachen aufstellen", sprach Slif in seine Nachdenklichkeit. "Ich soll die zweite Wache übernehmen. Allein."

Barn hob die Nase höher und sog tief die Luft ein.

"Mir könnte langweilig werden."

Eindeutig: Salz und Fisch.

"Ein steinerner Zauberer könnte mich ins finstere Herz des Waldes verschleppen und mir dort unsägliche Dinge antun... sag mal, musst du gerade jetzt einen Hund nachmachen?"

Barn blickte sie irritiert an.

"Ho Mädel, riechst du nich' das Meer?"

Slif legte das schöne Gesicht in sehr verärgerte Falten.

"Meer? Riech' ich nach Fisch, oder was?"

Sie widmete Barn einen Blick, der nahelegte, dass sie erwog, ihn bei der falschen Antwort auf der Stelle auszuweiden. Dann zuckte sie mit den Schultern, seufzte tief und schnupperte.

"Meer", bestätigte sie nach einer Weile. "Und du solltest die Hosen wechseln. Du hast doch Hosen zum Wechseln? Ich wecke dich dann um Mitternacht. Und sei bloß gut gelaunt, ich bin es nämlich nicht."

Der Barbar war sicher, dass Slif nicht viel mehr wog als Windmacher. Aber als sie zierlich und elegant davonschritt, schien der Boden zu beben.

 

*

 

"Ein paar Worte zu Maralago Drumm, für die, die ihn nicht so gründlich studiert haben", sagte Barimov Kaskatan und blickte erst auf seine Zuhörer, dann in das Feuer. Die Maronen-Kürbissuppe mit Zwiebelbrot und dem Klecks Ponysahne war gegessen worden, zwei Beutel Wein und eine Schachtel Käsekekse geleert; die schmutzigen Teller und Tassen stapelten sich neben Kaskatans Wagen.

Der Wind, der nach Sonnenuntergang an Stärke gewonnen hatte, wisperte in den Bäumen mit tausend Stimmen. Die Wesen der Nacht fügten ihre dunklen Gesänge hinzu.

Arissa Welklöffel schnarchte, die nackten Füße gefährlich nahe am Feuer, und Danno Floricker neben ihr murmelte selbstvergessen, während er sein rostiges Schwert mit einem zerbrochenen Kieselstein so weit schärfte, wie es noch möglich war. Der Rest der Runde – Slif, Slinni, Barn und der Bratwurstverkäufer – gab sich Mühe, interessiert zu wirken.

Barimov Kaskatan hob einen Zeigefinger.

"Magister Maralago Drumm, Astromant, Selenologe, Zauberkundiger. Seine Leidenschaft waren die Himmelskörper, und unter ihnen besonders der Mond – den wusste er zu lesen wie kein zweiter. Er begann klein, mit einem nur dreistöckigen Turm vor den Toren von Ybris, aber schnell sprach sich die ungewöhnliche Zuverlässigkeit seiner Weissagungen herum. Bald kamen die Reichen, die Schönen und die Mächtigen Myr Mamons zu ihm, um sich Lunoskope erstellen zu lassen, und schließlich rief ihn Kaiser Unis Cadmus Monotom selbst an seinen Hof. Gelehrte aus allen Himmelsrichtungen suchten seinen Rat – und befolgten ihn meist sogar. Philosophische Schulen benannten sich nach ihm, und Eltern ihre Erstgeborenen – egal ob Mädchen, Junge, oder was sonst sie hatten. Seine Almanache fanden sich in jedem besseren Haushalt des Reiches und brachten ihm ein Vermögen. Für Kaiser Monotom hat er auf dem Angelion den Übermorgen erbaut, jenen magischen Turm der Sterndeutung, der, wie man sagt, noch heute jede Entscheidung des Imperiums beeinflusst. In Rawasnittah beriet er den jungen Snaati Benndebuh bei der Konstruktion des berühmten autonomen Horologiums, und er ist verantwortlich für die Errichtung des Gezeitenkreises aus dreizehn Grausteinen vor Kap Iten. Außerdem hat er die unfehlbare Monduhr erfunden, die so raffiniert gestaltet war, dass sie auf nur einem Fuhrwerk transportiert werden konnte – die erste tragbare Uhr der Menschheitsgeschichte! Leider ist sie in einem Sumpf versunken."

Barimov Kaskatan war bei seiner Aufzählung so außer Atem geraten, dass er sich eine Weile mit Luft holen beschäftigen musste, bevor er fortfahren konnte.

"Eine beeindruckende Geschichte, nicht wahr?  Aber Maralago Drumm hatte auch eine dunkle Seite, eine Besessenheit, wenn man so will, und je älter er wurde, desto stärker trat sie hervor. Er begann, jegliche Information, die nicht durch seine Lunoskope bestätigt wurde, als unwahr, ja sogar als dämonisch zu betrachten – als Einflüsterung böser Geister, die die Welt in den Abgrund reißen wollten. Und er konnte sehr unangenehm werden, wenn ihm jemand widersprach."

Barimov Kaskatan wischte sich die Stirn.

"Er trieb es so weit, dass sich seine Freunde, Gönner und auch der Kaiser von ihm abwandten, und er im Reich schließlich zur persona non grata erklärt wurde. Verbittert zog er sich aus der Öffentlichkeit zurück, aber nicht, ohne vorher eine ominöse Drohung ausgestoßen zu haben – dass die Leute sich in Acht nehmen sollten, wenn sie einen zweiten Mond am Himmel sähen."

Barimov Kaskatan hob eine Hand.

"Laut den Historikern verliert sich hier seine Spur, niemand weiß, wo Drumm die letzten Jahre seines Lebens verbracht hat, und wann er starb. Aber…" Barimov Kaskatan grinste wie ein Kind, das sich an einen erfolgreichen Streich erinnert. "Mir ist es gelungen, ein als verloren geltendes Manuskript in meinen Besitz zu bringen – nicht ohne persönliches Risiko, wenn ich das einmal sagen darf. Allerdings nicht mein persönliches Risiko."

Er zwinkerte Slif zu, die ihm im Gegenzug die Zunge zeigte.

"Und deshalb weiß ich, dass Maralago Drumm hier draußen, am äußersten westlichen Rand der westlichen Wälder, seine Zuflucht hatte, und dass er hier bis zu seinem Tod an einem letzten und größten Projekt gearbeitet hat, dem Projekt, mit dem er es allen zeigen wollte. Ich weiß nicht, was es war, aber es hatte etwas mit dem Mond zu tun. Und morgen, meine Damen und Herren, morgen…" Barimov Kaskatan riss beide Arme hoch über den Kopf, wie ein siegreicher Ringer, "…werden wir herausfinden, was den großen Maralago Drumm in seinen letzten Lebensjahren beschäftigt hat!"

Seine Begeisterung war nicht ansteckend.

Barn gähnte, Slif und Slinni tauschten einen vielsagenden schwesterlichen Blick, und der Bratwurstverkäufer starrte nachdenklich in die unruhigen Flammen des Feuers.

"Und dann?", fragte er.

"Und dann?" Barimov Kaskatan betrachtete den Bratwurstverkäufer, als habe der gefragt, ob die Welt eine Scheibe sei und auf dem Rücken von vier Elefanten ruhe, die wiederum auf einer gigantischen Schildkröte balancierten. "Schreibe ich natürlich eine Monografie darüber. Die ganze Welt wird aufhorchen!"

"Ah", machte der Bratwurstverkäufer.

Barimov Kaskatan klatschte in die Hände. "Und jetzt zum unangenehmen Teil – wir müssen leider heute Nacht Wachen aufstellen. Du da und du da", er deutete auf den Bratwurstverkäufer und Danno Floricker, "ihr übernehmt die erste Wache. Ich gebe euch eine Sanduhr, wann immer sie abläuft, müsst ihr sie umdrehen. Wenn ihr das sechsmal gemacht habt – ihr könnt doch bis sechs zählen? – wird die liebe Slif mit ihrem kämpferischen Talent bis zum Morgen allein auf uns aufpassen. Und damit ihr euch notfalls gegen lebende Statuen zu Wehr setzen könnt..."

Er stand ächzend auf und wankte schwerfällig zum zweiten Wagen, in dessen Hinterteil er für eine Weile verschwand. Als er wieder auftauchte, zog er einen mächtigen Vorschlaghammer mit einem meterlangen Stiel hinter sich her.

"Auch lebender Stein bricht, wenn man nur fest genug auf ihn einschlägt", verkündete er schwer atmend und hob den Hammer mit Mühe.

 

*

 

Der Wind hatte sich zu einem ausgewachsenen Sturm entwickelt, als Slif den Barbaren rüde wachrüttelte. Barn hatte sich, da Barimov Kaskatan entgegen seiner Zusage nun selbst in seinem Wagen schlief, einfach neben das Feuer gelegt. Er fröstelte, als er Slifs kühle Hände auf sich fühlte.

"Ho Mädel, wassen los?", nuschelte er.

"Alles. Es ist dunkel. Der Wind heult mit den Stimmen der Verdammten, die Bäume tanzen, und überall fliegen nasse Blätter herum. Außerdem ist mir kalt."

Barn blinzelte. Das Feuer war lange niedergebrannt, aber Slif trug eine Fackel, die sich Mühe gab, gegen den Sturm zu bestehen. Mit mäßigem Erfolg. Außerhalb ihres unsteten Lichtkreises war es stockfinster.

"Los, steh auf, du hast es mir versprochen!" Sie stieß ihm einen Stiefel nicht allzu sanft in die Seite.

Der Nordmann erinnerte sich an kein solches Versprechen, aber ein Blick in Slifs Augen machte deutlich, dass es keinen Sinn hatte, zu argumentieren. Grunzend stand er auf.

Er dehnte seine Muskeln, ließ die Gelenke knacken, dann sah er Slif erwartungsvoll an.

"Und jetzt?"

Slif zeigte auf den Vorschlaghammer, der neben den Resten des Feuers auf dem Boden lag.

"Ich hab' das Ding angeschleppt, jetzt trägst du es. Und dann gehen wir einfach immer im Kreis ums Lager, bis es hell wird." Sie zwinkerte. "Wenn nicht vorher was passiert."

 

Die Bäume bewegten sich wie große, schwerfällige Tiere unter dem Wind, dabei ächzten und stöhnten sie, als wären die Böen Peitschenhiebe eines gnadenlosen Karrenlenkers. Der ganze Wald war von klopfenden, knackenden, krachenden Geräuschen erfüllt, die manchmal zu Schritten, zu Gelächter oder Schreien wurden. Laub wirbelte durch die Luft wie ein Totentanz von Feengeistern.

"Das macht überhaupt keinen Sinn!" Slif musste dem Barbaren direkt ins Ohr schreien, um über dem Lärm des Sturms gehört zu werden. "Hier könnten alle Legionen Myr Mamons in voller Rüstung vorbeischeppern, und wir würden es nicht mitbekommen!"

Barn grunzte zustimmend.

Slif schob ihn in den Windschatten einer breiten Stieleiche.

"Wir können genauso gut hierbleiben, das Rumlaufen bringt gar nichts!", rief sie.

Der Nordmann nickte. Er lehnte den Hammer gegen den Stamm und sich daneben. Slif rammte die Fackel in den Waldboden, dann stellte sie sich sehr dicht vor den Barbaren. Wie Nebelschwaden wirbelten ihr die weißen Haare um den Kopf. Sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt und sah Barn intensiv an.

"Was?", fragte der nach einer Weile.

"Mir ist kalt", sagte sie.

"Ho, Mädel, mir auch."

Der Sturm fuhr jammernd durch den Wipfel über ihnen und riss in seinem Selbstmitleid rücksichtslos Blätter von den Zweigen. Ein paar davon klatschten dem Barbaren ins Gesicht.

"Jetzt sei nicht so ein Ochse und leg deine Arme um mich."

 

Den Rest der Nacht verbrachten Slif und Barn mit Aktivitäten, die viel mit Lust und Leidenschaft, aber nichts mit Bewachung zu tun hatten und es ganzen Horden lebender Statuen ermöglicht hätten, das Lager zu überfallen und alle darin zu zerquetschen. Aber nichts dieser Art passierte, und das Morgengrauen fand die beiden ineinander verschlungen in den Resten von Slifs Zelt.

 

Und Slinni fand sie auch.

"Der Sturm war laut, aber man hat euch trotzdem gehört. Ich habe euch gehört", sagte sie, und ihr Blick war kühler als morgendlicher Herbstwind auf nackter Haut. "Ich schlage vor, ihr sucht euren Kram zusammen und zieht euch an, bevor Barimov etwas mitbekommt."

Slif stöhnte und arbeitete sich unter der Masse des Barbaren hervor. "Verdammt, Slinni. Hast du etwas Mohnsalbe für mich? Mir tut alles weh."

Slinni lächelte dünn und schüttelte den Kopf.

"Warum willst du jetzt betäuben, was du tief in dir drin wolltest?"

"Arsch."

"Ich liebe dich auch von ganzem Herzen, Schwester."

 

*

 

"Ho, ich dachte, die Slinni und der Barimov wären zusammen, ich meine, also so…" Barn machte ein paar ineinandergreifende Handbewegungen, die intime Nähe symbolisieren sollten.

Slif schnaubte, während sie versuchte, einen ihrer Stiefel aus einem Dorngebüsch zu befreien.

"Barimov Kaskatan und Slinni? Eher würde sie ihn umbringen."

"Aber…"

"Du meinst, weil sie jeden Abend gemeinsam in seinen Wagen gehen?" Slif kicherte. "Oh Mann, weißt du, was sie tun? Barimov liest Slinni aus seinen Werken vor, bis sie einschläft. Dafür bezahlt er sie. Es scheint, als wären seine Arbeiten in der gelehrten Welt nicht so besonders gut angekommen. Jetzt gewinnt er sein Selbstvertrauen zurück, indem er sie jemandem vorträgt, der nicht widerspricht. Das ist alles, was in dem Wagen passiert."

Barn runzelte die Stirn, dann zuckte er mit den Schultern. Krank. Südländer eben. Jetzt musste er nur noch seine Hose finden.

 

Während Slif fluchend feststellte, dass etwas Schleimiges aus ihrem Stiefel eine Wohnung gemacht hatte, blickte Barn sich um und hob dann verwirrt die Brauen: ein paar Schritte entfernt hingen von einem niedrigen Ast zwei schmuddelige, Bänder mit Blumenmuster, die sehr wie seine alten Fußlappen aussahen. Hatte er sie doch nicht verloren?

 

Auf einem sehr viel höherem Ast des gleichen Baumes kauerte mitten im Blattwerk eine grau gekleidete Gestalt und musste alle Professionalität aufbieten, um nicht laut zu lachen. Sie hatte keine Ahnung gehabt, warum sie die schmutzigen Binden mitgenommen hatte, aber offenbar war es gewesen, um in diesem Augenblick den dämlichen Gesichtsausdruck des Barbaren zu sehen.

Leider war der Augenblick viel zu kurz, um ihr über das Elend von Nässe, Kälte und Hunger hinweg zu helfen.

 

*

 

Gegen Mittag begann sich der Weg zu senken. Er war schon eine Weile immer schlechter geworden, nun war er kaum mehr als eine unkrautüberwucherte Schneise durch den Wald, durchzogen von Öffnungen der Bauten von Taschenratten, aus denen die aggressiven Nager manchmal Kotkugeln auf die Reisenden warfen.

Der Geruch nach Meer wurde intensiver, die Bäume standen weniger dicht, und unter sie drängten sich Stechpalmen wie neugierige Kinder zwischen die Beine von Erwachsenen.

Manchmal hingen auch dichte, gelbweiße Gespinste wie zerfetzte Bettlaken von den Ästen. Glücklicherweise fand sich nie auch nur ein Hinweis auf ihre Weberinnen, deren Größe beträchtlich sein musste.

 

Barimov Kaskatan zeigte deutliche Zeichen von Unruhe, wiederholt sprang er vom Wagen, lief ein paar Schritte voraus, um bald mit enttäuschtem Gesicht zurück auf den Kutschbock zu klettern und sorgenvoll den Kopf in die Hände zu legen.

"Wir müssten längst da sein!", klagte er immer wieder lautstark. Slinni, die neben ihm saß, hatte die Lippen fest zusammengepresst, die Knöchel ihrer Hände an den Zügeln waren weiß. Es war ihr anzusehen, dass sie sich Mühe geben musste, den Gelehrten nicht anzuschreien. Oder Drastischeres zu tun.

Slif, die ihre Schwester mit einem Grinsen betrachtete, stieß Barn einen Ellenbogen in die Seite.

"Wenn sie ihn erwürgt, hilfst du uns dann, ihn im Wald zu vergraben?", flüsterte sie – so laut, dass Barimov Kaskatan es hören musste.

"Hm?", machte der Barbar, der tief im Grübeln über Leid und Leidenschaften seiner ferneren und näheren Vergangenheit versunken war.

"Liebe Slif, bester Herr Bart", rief Barimov Kaskatan vom Kutschbock herunter. Es war nicht auszumachen, ob er Slif gehört hatte, seine Stimme klang feierlich wie immer. "Ihr seid schneller zu Fuß als ich und unsere lieben Ponys. Tut mir einen Gefallen und eilt voraus, erkundet den Weg. Haltet Ausschau nach einem Haus, einem Turm, einer Höhle…" Barimov Kaskatan seufzte schwer. "Irgendetwas, das so aussieht, als könnte es einem Menschen als Behausung gedient haben. Einem Zauberer, um genau zu sein. Sobald ihr etwas seht, kommt zurück, geht nirgendwo hinein, nicht ohne mich."

Slif verbeugte sich tief.

"Natürlich, mein Gebieter", sagte sie. Sie zwinkerte Barn zu. Seit der letzten Nacht hatte sie erschreckend gute Laune.

 

*

 

Der Weg führte weiter sanft abwärts, an manchen Stellen zeigte sich nackter Fels.

"Ich frage mich, was Barimov tun wird, wenn hier einfach – nichts ist", überlegte Slif laut.

Barn zuckte mit den Schultern. Seiner Meinung nach war hier bereits einfach nichts.

"Ob er sich dann vor Wut mitten durchreißt, wie der Kobold aus der Sage?"

Die Wagen hinter ihnen waren längst außer Sicht, und der Wald war sehr still um sie herum. Keine Vögel sangen, und ein fernes Rauschen mochte Meeresbrandung, vielleicht aber auch eine Brise in entlegenen Wipfeln sein. Slif und der Nordmann gingen eine Weile schweigend nebeneinander her. Dann fasste Slif nach Barns Hand.

"Wenn wir hier fertig sind, kommst du dann mit mir nach Dawodaso? Du könntest mein Gehilfe sein, Sachen tragen, Wachen ablenken und so, während ich Verträge erfülle. Wir könnten zusammen ein Haus mieten, du räumst auf, und ich mach' Unordnung. Kannst du kochen?"

Barn runzelte die Stirn.

"Dawodaso?", fragte er. "Wo issen das?"

Slif drückte Barns hornige Pranke fester, die Frage als Zustimmung auffassend.

"In Moh Dawon, weit im Süden. Über tausend Meilen von hier entfernt. Es ist wunderschön dort – ein steter, sanfter, nach Lavendel duftender Wind, wispernde Wedelbäume, türkisfarbenes Meer. Und in jedem Haus fließend Wasser, um sich das Blut abzuwaschen."

Barn stülpte die Lippen vor. Es war schon immer sein Ziel gewesen, jenes sagenhafte Land im tiefen Süden zu finden, in dem es so warm war, dass die Mädels dort nie Kleidung trugen. Sollte er Slif danach fragen?

"Hm", machte er nachdenklich und entschied, dass es keine gute Idee war.

Da trat sein linker Fuß plötzlich ins Leere, um gleich danach platschend in stiefeltiefem Wasser zu versinken. Er kämpfte mit dem Gleichgewicht, und wären da nicht seine blitzschnellen barbarischen Reflexe und Slifs helfende Hand gewesen, wäre er gestürzt.

"Gruunzverdammt, wer stellt denn hier Wasser hin?"

Verärgert, weil er nicht aufgepasst hatte, fuhr seine Hand zum Schwertgriff. Windmacher halb gezogen, sah er sich um.

Der Weg führte direkt in einen kleinen, von Bäumen umstandenen See. Am gegenüberliegenden Ufer setzte er sich fort, aber dazwischen lagen fünfzig Schritt sanft vom Wind gekräuseltes Wasser, Binsen, Schilf, Entengrütze und mehr als ein Paar Seerosenblätter.

"Autsch, das ist nicht gut", rief Slif fröhlich. "Da kommen die Wagen nie durch. Lass uns zurückgehen und Barimov davon erzählen."

 

Barimov Kaskatan stand fassungslos vor der Wasserfläche.

"Aber das…", stammelte er. "Das ist unmöglich. Ich habe Karten von dieser Gegend, hier ist kein See."

Er schloss kurz die Augen, rieb sich die  Stirn, dann öffnete er die Augen wieder. Falls er gehofft hatte, dass das Gewässer dadurch versickern oder verdunsten würde, sah er sich getäuscht.

"Nun gut", sagte er schließlich, und der Schmerz seiner Stimme war fühlbar wie ein Stachel in der Brust. "Das bedeutet wohl, dass die Wagen hierbleiben. Aber wir – wir müssen hinüber."

Er zeigte auf Barn.

"Herr Bart, Ihr seid der Größte von uns, würdet Ihr mir den Gefallen tun und versuchen, zum anderen Ufer zu kommen? Ich will sehen, wie tief das Wasser ist."

Der Nordmann grunzte, zuckte mit den Schultern, dann nickte er. Er war kein Freund des Wassers, aber es war weniger klebrig als Bier, wenn man es wieder von der Haut und aus den Haaren bekommen musste.

"Kannst du denn Schwimmen, falls es zu tief wird?", fragte Slif neben ihm. Sie klang nicht besorgt, nur interessiert.

Barn zuckte noch einmal mit den Schultern und schüttelte den Kopf. Im Norland waren die Seen fast das ganze Jahr zugefroren, man musste nicht schwimmen können, um sie zu überqueren.

"Hm, das ist merkwürdig", stellte Barimov Kaskatan derweil fest. "Der See ist kreisrund – wie ein Krater. Und am Ufer liegen ringsum alte, zertrümmerte Bäume. Als wäre hier etwas eingeschlagen… von hoch oben, und vor langer Zeit."

Er rieb sich das bärtige Kinn und versank in tiefes Nachdenken.

Barn zog Windmacher und reichte Slif die schwere Klinge.

"Ho Mädel, pass' drauf auf!", mahnte er. "Soll nich' nass wer'n! Vorsicht, is' schwer!"

Irritiert musste er feststellen, dass Slif keine Probleme mit dem Gewicht der Waffe hatte – sie hielt sie in einer Hand und betrachtete sie abschätzend, drehte sie hin und her, ließ sie einmal sogar kreisen. Dann sah sie den Nordmann voll professionellen Entsetzens aus riesengroßen, violetten Augen an.

"Liebster, wir müssen dringend über Effektivität und Effizienz reden. Bei dir im Norden mag das in Ordnung sein, aber in Dawodaso wirst du mich mit diesem Prügel sterblich blamieren."

Offenbar hatte sie über Barns Rolle in der gemeinsamen Zukunft bereits entschieden, Zustimmung war nicht mehr erforderlich.

 

Während der Barbar ins Wasser watete, stand der Rest der Reisegruppe abwartend am Ufer, mit leicht angespannten Gesichtszügen ähnlich denen von Zuschauern bei Wagenrennen oder anderen risikoreichen Sportarten – einerseits hoffend, eine spektakuläre Katastrophe zu erleben, andererseits besorgt, dass ihr Seelenfrieden unter dem Anblick leiden könnte.

Barn hatte seinen Dolch Schinkenschneider gezogen und hielt ihn stoßbereit über dem Kopf. Er mochte keine Fische und aß sie auch nicht, war aber nicht sicher, ob das umgekehrt genauso galt.

Das Wasser war kalt, aber nicht unangenehm. Irritierend war nur die bräunliche Wolke, die er in der sonst klaren Flüssigkeit hinterließ. Wahrscheinlich lag das am Boden. Unter den Füßen fühlte der sich sehr unregelmäßig an, so dass Barn froh war, die Stiefel anbehalten zu haben – obwohl das bedeutete, dass er, wieder an Land, bei jedem Schritt quietschen und knarren würde wie eine Rotte Untoter, bis das Leder wieder trocken war. Was erfahrungsgemäß einen Tag dauerte.

Als er die Hälfte des Sees durchquert hatte, stand ihm das Wasser immer noch kaum bis zur Brust, und der Boden stieg wieder an. Er drehte sich um.

"Ho!", rief er niemand bestimmtem zu. "Is' nich' tief, ihr könnt kommen!"

"Geht doch bitte noch bis zum anderen Ufer, Herr Bart", rief Barimov Kaskatan zurück. "Sicher ist sicher."

Der Gelehrte sagte etwas zu Slinni, die daraufhin ihre Schwester an der Schulter fasste und mit ihr zurück zu den Wagen ging. Die waren in sicherer Entfernung zum Ufer abgestellt worden, nachdem die Ponys angesichts des frischen Wassers den ersten Wagen beinahe in den See gezerrt hatten.

 

Tropfend stieg Barn aus den Fluten und winkte Kaskatan am anderen Ufer zu. Der Wind, obwohl lange nicht mehr so stark wie in der Nacht, war immer noch kräftig genug, ihn seine nasse Kleidung spüren zu lassen.

"Ho, alles gut!", rief er. "Könnt kommen!"

"Seht Euch etwas um, Herr Bart, wir brauchen hier noch einen Moment!", rief der Gelehrte zurück.

Barn knurrte missmutig. Was wollte der Mann? Der Wald sah hier genauso aus wie auf der anderen Seite des Sees. Der Geruch war der gleiche, der Weg setzte sich mit seiner gewohnten Mischung aus festgestampfter Erde, Steinen, Unkraut und Taschenratten-Löchern fort. Nach einer Kurve verschwand er hinter Bäumen, die sich durch nichts von denen am anderen Ufer unterschieden.

Schließlich beschloss er, bis zu dieser Biegung zu gehen, aber keinen Schritt weiter. Er steckte den Dolch zurück in seinen Gürtel und setzte sich quietschend und knarrend in Bewegung. Bei jedem Schritt schwappte Wasser aus seinen Stiefeln. Er brummte verdrossen.

Als er allerdings die Wegbiegung erreicht hatte und sah, was dahinter lag, fiel sein kräftiger Unterkiefer herab wie eine Zugbrücke mit defekter Winde. Die rechte Hand zuckte zum Griff von Schinkenschneider, und seine Nasenhaare, eines Barbaren unbestechliche Botschafter bald bevorstehender Schwierigkeiten, stellten sich auf.

 

Denn da waren nicht die erwarteten weiteren Reihen langweiliger Bäume. Im Gegenteil – keine dreißig Schritte vor ihm endete der Wald, die Landschaft öffnete sich und gab den Blick frei auf einen hohen Himmel und die endlose Fläche eines graublauen Meeres. Am Horizont erhob sich eine gewaltige, weiße Wolke wie ein Stirnrunzeln der Götter.

Der Weg endete nicht, sondern führte weiter über einen Felsendamm zu einer vorgelagerten Insel, die schroff und dunkel aus der unruhigen See aufragte. Auf der Insel befanden sich Gebäude, blassgelb wie alte Knochen.

 

Das aber war nicht der Grund für das Unbehagen des Nordmanns, sondern die Steinskulpturen, die den Damm auf beiden Seiten säumten. Skulpturen, die immer die gleiche Figur darstellten: einen bärtigen Mann mit einem spitzen Hut und einer weiten Robe, der eine große Kugel in die Höhe hielt.

Das Wetter und die See waren nicht sanft zu diesen Abbildern Maralago Drumms gewesen, alle waren stark verwittert, von Rissen durchzogen, mehrere von den Sockeln gestürzt. Etliche hatten ihre Kugel verloren. Trotzdem gefiel dem Nordmann der Anblick nicht, zu frisch war noch die schmerzhafte Erinnerung an seine Begegnung mit einer solchen Figur. Und das war nur eine gewesen – hier gab es mehr, als er Finger an den Händen hatte!

 

Er blieb sehr lange sehr still stehen und versuchte, seine Augen überall zu haben, auf jeder Statue zugleich. Hatte sich da nicht ein Arm bewegt? Ein Kopf? Die Kugel? Der Hut? Und der Bursche dahinten – der hielt doch seinen Mond auf einmal viel höher als die anderen!

Das Frösteln, das ihn überkam, war natürlich keine Furcht, sondern nur das äußerliche Zeichen seiner kalten Entschlossenheit, mit der Situation fertigzuwerden. Deshalb erschrak er auch kaum, als sich plötzlich mit fauchendem Flügelschlag ein gewaltiger Schatten auf dem ersten Maralago zu seiner Linken niederließ.

Er hatte Schinkenschneider bereits gehoben, bevor er erkannte, dass es nur eine große Möwe war, die ihn jetzt von der Kugel herab aus einer gelb geränderten Pupille boshaft anblickte. Barn sah, dass der Vogel etwas in seinem Schnabel trug – etwas Rundes, rotbraunes, vielleicht eine Nuss. Er blickte sich um, nach einem Stein oder etwas anderem zum werfen – das unblinzelnde Starren des Tieres gefiel ihm nicht, und außerdem erinnerte er sich, dass ihm vor Jahren im Hafen von Haubrugg eine Möwe einen Pfannkuchen aus der Hand gerissen und ihm dann auch noch auf den Kopf gehackt hatte. Drecksviecher. Nicht zu Unrecht nannte man sie Ratten des Meeres.

Bevor Barn ein Wurfgeschoss gefunden hatte, schwang sich der große Vogel wieder in die Luft und glitt genau auf den Barbaren zu. Der Nordmann hielt den Dolch abwehrend vor sich, aber kurz vor der Klinge zog die Möwe plötzlich steil nach oben und verschwand mit einem rostigen Kreischen über den Baumwipfeln. Etwas traf den Nordmann hart an der Stirn, prallte ab und fiel zu Boden. Verwirrt blickte Barn vor sich – zwischen seinen Füßen lag eine rotbraune Kugel aus Ton, etwas größer als eine Walnuss.

Er bückte sich und hob sie auf. Das musste das Ding sein, dass die Möwe im Schnabel getragen hatte. Stirnrunzelnd drehte er die Kugel zwischen Daumen und Zeigefinger. Es waren Muster auf der Oberfläche eingeritzt, die Barn an die Bilder auf Landkarten erinnerten. Aber warum auf einer Kugel? Jeder wusste, dass die Welt flach war!

Er zuckte mit den Schultern und stopfte die Kugel in seinen Geldbeutel – er kannte einen verrückten, alten Kauz in der Stadt, der solches Zeug sammelte und ihm dafür vermutlich ein paar Kupfer zahlen würde.

Dann blickte er wieder auf die Statuen. Die hatten seine Ablenkung nicht genutzt und standen immer noch unbewegt auf ihren Sockeln, umspielt vom Seewind, bewachsen von Moos und Flechten. Barn presste die Lippen zusammen.

Es war Zeit, den anderen zu berichten, was hier auf sie wartete.

 

Die Szene, die sich ihm bot, als er den See wieder erreicht hatte, ließ ihn die steinernen Zauberer für kurze Zeit vergessen.

Am anderen Ufer banden Slif, Slinni und der Bratwurstverkäufer alte, tote Baumstämme zu einem Floß zusammen. Auf dem Floß war bereits ein Klappstuhl installiert, und auf dem ruhte in monarchischer Gelassenheit Barimov Kaskatan, die Hände im nicht unbeträchtlichen Schoß verschränkt. Als der Gelehrte Barn entdeckte, winkte er ihm freundlich zu.

"Ihr kommt gerade rechtzeitig, Herr Bart, um mich ans andere Ufer zu schieben!", verkündete er.

Barn grunzte.

"Da sin' überall Steinkerle mit Kugeln!", rief er zurück. Dann brüllte er den Rest seiner Entdeckungen über den See.

"Oh", machte Barimov Kaskatan und schwieg dann eine Weile. "Dann sollten wir wohl gleich bei der ersten Überquerung den großen Hammer mitnehmen."

 

Für den Rest des Nachmittags schob Barn den Gelehrten und das Floß auf dem See herum, da Barimov Kaskatan nach der ersten Überquerung feststellte, dass er keineswegs allein auf der Seite mit den Statuen bleiben wollte. Also ging es wieder zurück. Allerdings verließ der Gelehrte dort seinen Stuhl nicht, sondern ließ sich weiterhin mit einem glücklichen Lächeln von Ufer zu Ufer befördern, zusammen mit Mengen an Ausrüstung, die Slif, Slinni und der Bratwurstverkäufer aus dem zweiten Wagen heranschleppten. Es waren eine Menge Dinge aus Holz und verschiedenen Metallen, deren Sinn sich dem Barbaren selbst nach bemühtem Nachdenken nicht erschloss – Waffen waren es auf jeden Fall keine .

Und während sich langsam ein Stapel aus diesen seltsamen Objekten am entfernten Ufer bildete – "Wissenschaft braucht Instrumente, Herr Bart!" – rötete sich der Himmel, so dass Barimov Kaskatan schließlich beschloss, den Beginn der Erkundung auf den nächsten Tag zu verschieben und die Nacht noch einmal bei den Wagen zu verbringen.

 

Als letztes durfte der Barbar, dem langsam wirklich kalt wurde, den großen Hammer wieder zurückholen.

"Wir haben nur den einen", erklärte Barimov Kaskatan bedauernd. "Und wir brauchen ihn für die Wachen, die wir natürlich heute Nacht wieder aufstellen müssen. Aber dafür kocht Slinni uns als Abendessen einen herrlichen, traditionellen Feuertopf!"

 

Slif hatte Barn verboten, seine übliche Strategie bei nasser Kleidung – einfach am Körper trocknen lassen – anzuwenden, und so saß er, nur bekleidet mit der vermutlich gleichen Pferdedecke, auf der er gestern gelegen hatte, am Feuer und blickte misstrauisch in die Schüssel in seinen Händen.

Die vorherrschende Farbe darin war rot, ein Rot, das selbst in der Dämmerung leuchtete wie die Flammenflüsse, die sich manchmal aus Feuerbergen ergossen.

"Jetzt fang' schon an, es ist köst-lich", sprach Slif mit vollem Mund. Sie hatte sich an den Barbaren gelehnt und löffelte mit Eifer bereits ihre zweite Portion. "So gut wie zuhause."

Barn nickte ergeben, und weil er Hunger hatte und ein Nordmann weder Furcht noch Schmerz kannte, hob er seinen hölzernen Löffel an die Lippen. Schon die kurze Berührung reichte, das Werkzeug schnell wieder sinken zu lassen.

Als Barimov Kaskatan aufstand und in die Hände klatschte, nutzte Barn die Gelegenheit, den Inhalt seiner Schüssel unauffällig neben sich zu kippen. Er wunderte sich, dass kein Rauch aufstieg.

 

"Ein paar Worte zu unserer morgigen Exkursion", begann der Gelehrte. "Es besteht für mich kein Zweifel, dass die Bauwerke, von denen Herr Bart berichtet hat, von Maralago Drumm wenn schon nicht errichtet, so doch zumindest bewohnt wurden in seiner Zeit im Exil. Die Allee der Skulpturen lässt daran keinen Zweifel. Wie wir mit den Figuren umgehen, dazu später mehr."

Er hob einen Zeigefinger und schwenkte ihn eindringlich.

"Was werden wir finden? Schätze werden wir finden! Wahrscheinlich werden sie nicht aus Gold, Silber oder Juwelen bestehen, sehr sicher sogar nicht. Aber wer, wie ich, je das Singen der dreizehn Grausteine vor Kap Iten oder das emsige Kichern, Flüstern und Ticken des Horologiums in Rawasnittah gehört hat, der weiß, dass uns Schätze des Geistes und der Schönheit erwarten; Erhabenes, Ergreifendes, vielleicht auch Erschreckendes… Maralago Drumm war kein Magier, dessen Kunst nur hohle Illusion ist, und kein Zauberer, der mit Worten die Natur übertölpeln will… nein! Er war ein Suchender, einer, der die Sprache des Universums entschlüsseln, die Dinge hinter den Dingen verstehen wollte! Und wenn schon sein Gezeitenkreis eine Synthese zwischen Belebtem und Unbelebtem ist, oder eigentlich bereits ein Überwinden oder gar Einreißen dieser Trennung: ein Wunder, dass er mit nur dreiundvierzig Jahren erschaffen hat, wer weiß, was ihm später, mit der Weisheit des Alters, noch möglich war?"

Die letzten Sätze schrie der Gelehrte mit fast überschlagender Stimme in die Nacht. Dann senkte er den Kopf, atmete tief ein und fuhr fort, sehr viel ruhiger.

"Nach diesen erhebenden Gedanken nun zum praktischen Teil – übersetzen werden morgen früh ich, die liebe Slinni, die liebe Slif und natürlich Herr Bart mit dem Hammer. Die anderen drei", er deutete vage in Richtung des Bratwurstverkäufers, denn weder Danno Floricker noch Arissa Welklöffel waren zum Essen erschienen, "werden hier bei den Wagen bleiben und die Ponys versorgen. Hier ist quasi das Basislager, zu dem wir, je nachdem, was wir auf der Insel vorfinden, in Intervallen zurückkehren werden. Ich erwarte, dass es dann immer ein warmes Essen gibt."

Er lächelte, als habe er gescherzt.

"Und nun zum Wichtigsten – den Statuen. Ich habe den Text, der uns hergeführt hat, noch einmal analysiert und festgestellt, dass ich mich tatsächlich an einigen Stellen in seiner Übersetzung leicht geirrt habe. Ich will nicht mit Einzelheiten langweilen, aber ich bin jetzt sicher, dass die Kugel die Quelle der Kraft ist, die die Statuen belebt. Und ich glaube, dass bereits eine leichte Beschädigung diese Kraft entweichen lässt. Deshalb wird Herr Bart bei der Überquerung des Dammes morgen mit dem Hammer vorangehen und jeder intakten Kugel einen Schlag versetzen, die sie beschädigt, aber nicht zerstört – ich überlege nämlich, die schönste der Statuen mitzunehmen und daheim in Dawodaso in meinem Garten aufzustellen…"

Er setzte sich, griff nach einem am Boden liegenden Weinschlauch und nahm einen tiefen Zug.

Slif stieß Barn in die Seite und flüsterte: "Komm, gehen wir irgendwo in den Wald."

Sie machte Anstalten, aufzustehen, aber Barimov Kaskatan hob die Hand.

"Nicht so schnell, liebe Slif, ich fürchte, ich muss noch die Einteilung der Wachen für heute Nacht verkünden."

Er zeigte die Perlenkette seiner Zähne, die im Licht des Feuers golden schimmerte.

"Ich glaube, so nahe an Maralago Drumms Zuflucht müssen wir besonders wachsam sein – daher werden Herr Bart und der da", er wedelte wieder in Richtung des Bratwurstverkäufers, "die ersten sechs Sanduhrdrehungen übernehmen, und die liebe Slinni und die liebe Slif die Zeit danach bis zum Morgengrauen. Gute Nacht!"

Er zwinkerte Slif zu, erhob sich und wankte zu seinem Wagen.

"Liebe Slinni, kommst du?", rief er an der Tür.

 

"So ein Arsch!", fluchte Slif, nachdem sich die Tür des Wagens hinter Slinni und Barimov Kaskatan geschlossen hatte. "So ein Riesenarsch!"

Sie trat eine Schüssel ins Feuer, zog ein Wurfmesser von irgendwoher und schleuderte es präzise in die geometrische Mitte der Wagentür.

"Wurstmann!", herrschte sie dann den erschrockenen Bratwurstverkäufer an. "Die nächsten sechs Stunden schwingst du den Hammer allein!"

Nachdem der stumm und angstvoll genickt hatte, fasste sie Barn am Arm. "Komm. Decke kannst du hierlassen – ich bring dir Schwimmen bei, und was man sonst noch so im Wasser machen kann!"

 

*

 

Die in Grau gekleidete Gestalt, die flach auf dem Dach des dritten Wagens lag, blickte Slif und Barn nach und überdachte ihr weiteres Vorgehen.

Die Anweisung des kaiserlichen Eliminats war, wie immer, vage formuliert: sollte Barimov Kaskatan eine Entdeckung machen, die das Imperium bedrohte, durfte niemand aus seiner Expedition in der Lage sein, davon zu berichten.

Das ließ Raum für Interpretationen.

Sie war seit drei Tagen komplett durchnässt, hatte im Dreck geschlafen und von ranzigem Fleischpulver, Regenwürmern und Regenwasser gelebt und spürte daher ein sehr großes Verlangen, den Auftrag zu Ende zu bringen und ein sehr heißes und sehr langes Bad zu nehmen.

Der schnellste Weg dazu war der einfachste: wenn sie Kaskatan heute Nacht beseitigte, konnte er nichts entdecken, und sie konnte zurück in die Zivilisation. Es war ein verlockender Gedanke.

Aber sie wusste, dass bereits Rectificatores unterwegs waren, um die Insel zu untersuchen. Wenn die Pala-Priester dort nichts Bedrohliches fanden, würde es bei einer voreiligen Beseitigung Barimov Kaskatans Fragen an sie geben, die sie vermutlich nicht überleben würde.

Denn Kaskatans Familie war ein nicht unbedeutender Faktor im Stadtstaat Dawodaso, einem engen Verbündeten Myr Mamons – Barimov Kaskatans Mutter hielt den Titel der Ewigen Ersten Senatorin, sein Vater war der erbliche Hohepriester des Baah, und sein Bruder Vromovir mit einem Urenkel von Snaati Benndebuh verheiratet. Kaskatans Verschwinden auf imperialem Gebiet konnte zu diplomatischen Verstimmungen führen. Das hatte der kaiserliche Eliminat in den Anweisungen nebenbei erwähnt, und diese Information war kein unverbindlicher Hinweis, sondern eine Warnung.

Außerdem waren da die beiden Kriscariae. Wenn sie einen Klienten während eines Auftrags verloren, waren sie nach den Vorschriften der Gilde verpflichtet, sämtliche Hintergründe aufzuklären und alle Beteiligten auszulöschen, notfalls auch ein paar Unbeteiligte. Und sie hatte keine Illusionen, was ihre Chancen auch nur gegen Slinni anging, geschweige denn ihre psychotische Schwester: sie hatte selbst gesehen, wie Slif innerhalb einer Minute drei große, muskulöse und kampferprobte Männer aus Demonstrationszwecken buchstäblich kurz und klein geschlagen hatte.

Sie seufzte, drehte sich auf den Rücken und wünschte, sie könnte auf dem Dach des Wagens liegen bleiben – es war der trockenste Ort, seit sie ihr Bett verlassen hatte, an dem Morgen, als der Barbar sie mit seinem kindischen Gestammel geweckt hatte, und in ihrem verkaterten Kopf die Frage, warum sie ihn überhaupt mitgenommen hatte, herumgesprungen war wie ein Stück scharfkantiges Metall. Er hatte keinerlei Informationen über Kaskatans Pläne gehabt und war nicht einmal in der Lage gewesen, sie mit seinen verdreckten Fußlappen richtig an die Bettpfosten zu fesseln.

Mit einem weiteren Seufzer glitt sie vom Wagendach herab und bereitete sich auf die vierte Nacht zwischen feuchten Blättern und bissigen Asseln vor.

 

*

 

Barimov Kaskatans Augen glänzten in der Morgensonne, während er schwungvoll Eier in einer Schüssel quirlte. Er war ausgezeichneter Laune.

"Liebe Slif, liebe Slinni", rief er. "Jetzt zeigt dem Morgen doch euer bezauberndes Lächeln! So schöne Zähne habt ihr! Heute ist der Tag, auf den wir seit Monden hingearbeitet haben, für den wir tausende von Meilen gereist sind und uns Gefahren ausgesetzt haben, die Geringere als uns als geistlose, sabbernde Wracks zurückgelassen hätten! Heute ist unser Tag!"

Vor dem Feuer, über dem auf einem Gitter Speck und Würste brieten, saßen Slinni und Slif nebeneinander, beide mit mürrischen Gesichtern, Slif zusätzlich mit grauen Ringen unter den Augen.

Sie trugen identische Kleidung: eng anliegend und von einem Schwarz, dass das Licht aufzusaugen schien und bei genauerer Betrachtung erst Schwindel und danach Übelkeit hervorrufen konnte. Das war die Arbeitskleidung der Kriscariae, hergestellt aus einem alchymisch aufgeladenen Leder, das seine Träger zu verwehten Schatten machte, wann immer menschliche Augen seine Aufmerksamkeit erregten.

Als Reaktion auf Barimov Kaskatans Worte fletschte Slif die Zähne, Slinni zog nur die Mundwinkel noch tiefer herunter.

"Ja, heute ist der Tag der Tage", sagte sie dann dumpf. "Ausgerechnet."

Neben dem ersten Wagen versuchte Barn, in seine immer noch feuchte Lederhose zu steigen. Es war ein Kampf, den er schon seit zehn Minuten kämpfte, und bei dem rohe Gewalt nicht half – für einen Nordmann eine Zumutung.

Der Bratwurstverkäufer hatte ihm schon zweimal Beistand angeboten, aber Barn hatte unwirsch abgelehnt. Er ließ sich doch nicht von einem Kleidungsstück zum Narren halten!

Als er endlich in der Hose steckte, klebte sie an ihm wie eine Wurstpelle.

 

*

 

Der kleine See ruhte glatt und schläfrig unter einem zarten Schleier morgendlichen Nebels und wirkte auf freundliche Weise verwunschen in seinem Rund aus Binsen, Schilf und Bäumen; zirpende Heckenfeen tanzten funkelnd über dem Dunst.

Ein magischer Ort als Startpunkt einer Reise in ein lang vergessenes Reich voller Wunder.

 

Die Auserwählten von Barimov Kaskatans Expedition zum anderen Ufer hatten allerdings keinen Sinn für Magie an diesem Morgen.

Des Gelehrten gute Laune verließ ihn, sobald er die Unmöglichkeit erkannt hatte, Person und Ausrüstung bequem gemeinsam auf dem Floß unterzubringen, Slinnis Mundwinkel machten deutlich, dass es nicht gut um ihren Seelenfrieden bestellt war, und Barn murrte, weil er schon wieder ins Wasser musste.

Dazu rutschte Slif im Uferschlamm aus und entstieg ihm in einer sehr unkonstruktiven Stimmung.

 

Doch schließlich standen sie – Slif, Slinni, Barimov Kaskatan und Barn – nebeneinander hinter der Biegung des Weges und studierten die Aussicht auf Insel, Damm und Meer.

Die See warf schwere Wellen gegen die Felsen, als wolle sie jede Komplizenschaft mit diesem Ort leugnen, der Himmel darüber zeigte ein betont unschuldiges Blau – bis auf die immense Wolke am Horizont, die der Barbar schon gestern gesehen hatte. War sie gewachsen? Die Luft roch scharf nach Salz und angespülten Dingen, die irgendwo tief unten verrotteten.

"Mir wird schlecht", erklärte Slif und imitierte Erbrechen in den Waldrand. Vielleicht imitierte sie auch nicht.

"Zwölf Statuen auf jeder Seite – vierundzwanzig insgesamt", stellte Slinni fest. "Fünf sind umgekippt, sieben zerbrochen, und fünf weitere haben deutlich beschädigte Mondkugeln. Bleiben sieben, die gefährlich werden können – falls deine Theorie zutrifft, Barimov."

"Natürlich trifft sie zu!", versicherte Barimov Kaskatan und zupfte an den Lederriemen, die die diversen Taschen, Beutel und Köcher hielten, die er über dem Rücken und vor dem Bauch trug. Sichtbar waren sie ihm schon jetzt eine Last. "Und ich würde mit dem Hammer vorangehen, um sie zu beweisen, wenn ich ihn nur angemessen schwingen könnte."

Er drehte sich zu Barn und schenkte ihm ein strahlendes Lächeln.

"Aber dafür haben wir ja, Baah sei Dank, unseren kräftigen Herrn Bart, der mit diesem Schlaginstrument so sicher umgeht wie ein junger Donnergott!"

Barn grunzte unverbindlich. Statt des kopflastigen Hammers hätte er lieber Windmacher in den Händen gehalten.

"Die Ausrüstung lassen wir erst einmal hier", sagte Barimov Kaskatan und streifte seine Taschen, Beutel und Köcher ab. Mit einem erleichterten Seufzer ließ er sie mitten auf den Weg fallen. "Ich denke, für eine erste Erkundung brauchen wir sie nicht."

Dann klatschte er in die Hände: "Nun, Herr Bart, beginnt das Hämmern!"

"Die da zuerst?", fragte der Nordmann und zeigte auf die Kugel, auf der gestern die Möwe gelandet war. Sie hatte einen Haufen hinterlassen, stellte er fest.

Barimov Kaskatan warf einen kurzen Blick zu Slinni, dann nickte er. "Die zuerst."

Mit einem kräftigen Schlag traf der Barbar die Kugel, und mit einem Knirschen teilte sich der Stein in zwei Hälften. Für einen Moment sah es aus, als entweiche perlfarbener Dunst unter Seufzen aus dem Spalt, aber wahrscheinlich war es nur der Wind, der vom Meer herauf auffrischte und Gischt mit sich trug.

"Jetzt die da", zeigte Slinni.

Barn traf auch diesmal. Drei dreieckige Splitter lösten sich aus der Oberfläche des runden Steins. Die Statue schien, falls es Marmor möglich ist, deprimiert in sich zusammenzusinken.

Barimov Kaskatan klatschte in die Hände. "Wir sind auf dem Weg!", rief er.

 

Drei Statuen weiter blieb Barn plötzlich stehen und blickte sich zu Slinni um.

"Die da is' anders!", sagte er und deutete mit dem Hammerstiel auf die Figur vor sich. Slinni zog die weißen Brauen zusammen, betrachtete den rissigen Stein, seine Farbe, die subtilen Unterschiede zu den anderen Skulpturen, und nickte. "Barimov, sieh dir das mal an!", rief sie dem Gelehrten zu, der sich bemüht im Hintergrund gehalten hatte.

"Hm, liebe Slinni, was ist denn?"

"Das."

Slinni zeigte auf die Figur, deren Farbe kräftiger – gelblicher – als die der anderen war, und deren Gesicht auch schärfer, aggressiver und boshafter wirkte.

Barimov Kaskatan näherte sich vorsichtig und rieb seinen Bart.

"Oh", sagte er dann. "Verfärbung durch den Seewind?"

"Eher nicht."

"Was könnte es dann sein?"

"Vergib mir, Barimov, aber ich bin nur eine simple Giftmörderin, Analysen sind dein Ding."

"Du bist nicht nur eine… na gut."

Barimov Kaskatan beugte sich vor, schnüffelte.

"Riecht nach Schwefel", stellte er fest und hob eine Hand, um den Sockel zu erkunden.

"Besser nicht anfassen!", zischte Slinni, aber es war zu spät.

Als er den Stein berührte, schien Barimov Kaskatans Gesicht von unsichtbaren Händen gestreckt zu werden, der Mund öffnete sich zu einem Schrei, aber seine Zunge wurde beiseite gerissen, kein Laut entkam ihm. Er stolperte und fiel. Sein Schädel verformte sich, wurde scheinbar spindelförmig, es war, als wollte die Statue ihn mit dem Kopf voran in sich saugen. Ein Blutfaden lief aus seinem linken Nasenloch, ein weiterer explodierte aus seinem rechten Ohr.

"Hammer!", rief Slinni. "Hammer!"

Barn blinzelte.

"Die Hände zusammen in deinen Schoß!", schrie Slif. "Wuh-Hah!"

"Hm?"

"Räuberleiter, du Idiot!"

Das verstand der Barbar. Er ließ den Hammer fallen und verschränkte die Finger vor dem Bauch. Slif schoss auf ihn zu, fand mit einem Fuß Halt zwischen seinen Händen und stieß sich ab. Sie überschlug sich, drehte sich, streckte sich, und traf dann den Kopf der Skulptur mit beiden Füßen und der Gewalt eines fallenden Sterns.

Mit einem Knirschen, das fast ein Schrei war, brach die Figur aus dem Sockel. Sie schwankte kurz, dann kippte sie, schlug auf den Rand des Damms und zerplatzte in eine dicke, gelbe, stinkende Staubwolke. Neben dem Sockel sackte Barimov Kaskatan in sich zusammen, schwer atmend, aber weitgehend unbeschädigt.

"A-wohiee!", triumphierte Slif, bedeckt von Steinstaub und Splittern. Sie leckte ihre Lippen, dann rannte sie auf Barn zu und prügelte auf ihn ein, mit Faustschlägen, die einen geringeren Mann hätten zu Boden gehen lassen. Schließlich umarmte sie ihn. "A-kluhra! Wir beide machen das!"

"Ho… Mädel, äh, ja", war alles, was dem Nordmann dazu einfiel, aber er umarmte Slif zurück und drückte sie fest.

Barns romantische Phantasien – falls er sie überhaupt hatte – beschränkten sich üblicherweise auf intensive körperliche Interaktion, aber jetzt war er glücklich, einfach nur fest halten zu dürfen, was das Schicksal in seine Richtung gesandt hatte.

Er konnte Slifs breites Grinsen an seiner Brust fühlen.

 

"Das war wohl eine der größeren kleinen Gemeinheiten, die Maralago Drumm für seine nicht so ganz erbetenen Besucher in Reserve hatte", sagte Barimov Kaskatan, noch immer atemlos und leicht zitternd. "Ein Seelensog. Der Schwefeldunst hätte mich warnen sollen. Wir müssen uns noch mehr in Acht nehmen!"

Er zog ein großes, grellbunt gemustertes Leinentuch von irgendwo aus seinen Gewändern und wischte sich Stirn und Gesicht.

"Gehen wir weiter."

 

Nachdem die letzten beiden Steinfiguren in Trümmern hinter ihnen lagen, hob Barimov Kaskatan eine Hand. Er zeigte auf die Gebäude auf der Insel.

"Liebe Slinni, es wäre schön, wenn du niederschreibst, was ich jetzt sage. Es wird eine würdige Einleitung meiner neuen Monografie sein, und natürlich wird dein Name erwähnt werden."

"Natürlich", antwortete Slinni. Sie blickte hinaus auf das weite, graue Meer und schien dort Schönheit zu finden, denn sie lächelte. "Fang schon mal an, ich habe ein gutes Gedächtnis."

 

"Die Insel glich einer aus dem tobenden Meer aufragenden, geballten Faust", begann Barimov Kaskatan und schloss seine linke Hand in dramatischem Symbolismus. "Bedrängt von heulenden Stürmen, näherten wir uns ihr dennoch ohne Furcht. Ungetüme tummelten sich im Wasser zu unseren Füßen, die Luft war geschwollen von giftigem Gestank, und die schwarzen Teufel des Himmels krächzten ihren Hass auf uns hernieder. Alles schien verschworen, uns von unserem Ziel abzuhalten."

Slinni hob eine Braue, sagte aber nichts. Und notierte auch nichts.

"Auf der rechten Seite der Insel erkannten wir nur Chaos – Säulen, Bögen, Stützpfeiler, schräg, gekippt, zerbrochen, Granit, Marmor, Kalk, Sandstein – ein wildes Durcheinander zerfallender Architektur, und kein Dach, ihre Existenz zu rechtfertigen. Trümmer eines vergessenen Plans oder einer verfehlten Zukunft, gepeitscht von unnachgiebigem Regen. Auf der linken Seite dagegen sahen wir bescheidene Häuser, Hütten, Schuppen, ein paar niedrige Türme, im Unwetter eng zusammengedrängt wie furchtsame Kinder, gemauert aus gelbem Ziegel, gedeckt mit roten Schindeln. Dienstbotenquartiere? Werkstätten? Lagerräume? Nichts dort deutete auf Leben hin."

Slif setzte sich. Mit einer Wendung des Kopfes bedeutete sie Barn, zu ihr zu kommen. Grunzend senkte sich der Barbar neben sie und legte einen schweren Arm über ihre Schultern.

"Das kann jetzt eine Weile dauern", flüsterte sie ihm zu und fasste nach seiner rechten Hand, die sie auf ihren Bauch legte.

"Hm", nickte der Nordmann, mittlerweile vertraut mit den Redegewohnheiten Barimov Kaskatans.

 

Nach einer Menge Worte, mit denen er sein neuestes Werk seiner Mutter, seinem Vater, dem Gott Baah – und natürlich der lieben Slinni – widmete, die Sturheit der königlichen Universität von Thenil anprangerte und intensiv über einen gewissen Hernach von Luchtenpracht herzog – der offenbar Kritik an seiner Arbeit über die Grausteine geäußert hatte – zeigte der Gelehrte schließlich auf das Bauwerk, das in der Mitte der Insel fast hundert Füße in die Höhe ragte.

Es hatte die Form einer großen Halle mit flachem Giebel und war, wie alle anderen Gebäude, aus gelben Ziegeln gemauert. Teile der linken Seite waren eingedrückt, die Reste eines Turmes lagen schräg über dem Dach, kurz vor einer zentralen Kuppel, die abblätternde Reste einer dunkelblauen Bemalung aufwies.

In hohen, schmalen Fenstern an der Front hing zersplittertes Glas wie taufeuchte Spinnweben.

"Aber trotz all dieser Widerstände – zögerten wir, diese kleine Gruppe von Verschworenen im Geiste der Wissenschaft, diese tapferen Frauen und Männer?", rief Barimov Kaskatan. "Nein. Nein! Denn in der Mitte erwartete uns – die Halle! Die Halle des Maralago Drumm!"

Mit hoch erhobenem Zeigefinger hielt er inne und blickte Slif, Barn und Slinni nacheinander bedeutungsvoll an.

"Wir werden jetzt hineingehen. Macht euch auf Wunder und Gefahren gefasst – und berührt nichts ohne meine Zustimmung!"

 

Das Tor zur Halle war beeindruckend: zwei massive Flügel aus salzgebleichtem Eichenholz, jeder vier Meter breit und fünf Meter hoch, verziert mit Schnitzereien von Meeren, Monden, Bergen, Brücken, Kraken und Türmen und natürlich dem unvermeidlichen Abbild von Maralago Drumm selbst – und sehr, sehr verschlossen.

Vier Mal hatte Barimov Kaskatan den Barbaren mit seinem Hammer dagegen anrennen lassen, und vier Mal war nichts passiert – außer, dass Barns Arme jetzt gefühllos bis hinauf in die Schultern waren.

"Liebe Slif", sagte Barimov Kaskatan, sichtlich verdrossen. "Magst du dich vielleicht einmal versuchen?"

"Lieber Barimov", antwortete Slif und lächelte dabei lieblich. "Das ist ein Holztor, keine menschliche Kehle. Nicht mein Fachgebiet."

"Slinni?"

"Ich sehe kein Türschloss. Wir sollten den eingestürzten Bereich auf der linken Seite untersuchen – vielleicht gibt es dort einen Weg."

Barimov Kaskatan stieß erleichtert die Luft aus. "Eine gute Idee, liebe Slinni."

 

Der gestürzte Turm hatte die Fassade der Halle eingedrückt, aber nicht durchbrochen.

Slif hatte die Schutthalde bis zum dritten Stockwerk des Gebäudes bestiegen und keinen Zugang zum Inneren gefunden. Von hoch oben zuckte sie die Schultern, ein unmotivierter und mitternachtsschwarzer Umriss vor dem blauen Himmel.

Barimov Kaskatan warf einen frustrierten Blick über das Meer.

"So weit sind wir gekommen, und jetzt kommen wir nicht hinein?", klagte er. Ein weniger sanfter Mann als er hätte in diesem Augenblick vielleicht die Fäuste geballt.

"Wir gehen einfach einmal herum, wir werden schon was finden", beruhigte ihn Slinni. "Und im Notfall habe ich immer noch Feuerkraut."

"So wie damals in Tuskalun?"

Slinni nickte.

"Liebe Slinni, ich möchte die Halle erkunden, nicht sprengen."

"Aber dafür müssen wir hineinkommen, oder?"

Barimov Kaskatan ließ die Schultern sinken.

"Vermutlich."

 

Der Zugang fand sich schneller als erwartet. Am seewärts gewandten Ende der Halle gab es ein Seitengebäude, und das hatte eine Hintertür – verwittert, verkantet, aber nichts, das einem großen Nordmann mit einem großen Hammer längere Zeit widerstehen konnte.

Slif schob die Trümmer mit einem Fuß beiseite. Dann band sie ein schwarzes Tuch vor Mund und Nase und zog die Kapuze ihres Anzugs ins Gesicht, so dass nur noch die Augen frei blieben. Slinni tat es ihr gleich. Barn schritt mit erhobenem Hammer voran, und schließlich standen sie alle in einer schattigen Kammer, die schmucklos war und unmöbliert, mit salzverkrusteten Fenstern, die kaum Licht hineinließen. Am anderen Ende gab es eine weitere Tür.

"Manche Erhabenheit", kommentierte Barimov Kaskatan. "Lässt sich nur durch die niedrigen, geringeren Quartiere ihrer Rückseite zuerst befragen!"

Slif grinste so breit, dass es selbst durch ihre Maske zu sehen war, dann nickte sie Barn zu und stellte sich neben die Tür. Ihre Hand hob sich zur Klinke, eine blattförmige Konstruktion aus geschwärztem Eisen. Der Nordmann hob den Hammer über den Kopf.

Slinni nahm eine Position vor Barimov Kaskatan ein und zog eine schmale, grün leuchtende Phiole aus einer Gürteltasche.

"Falls was kommt, schließt die Augen", empfahl sie.

Es kam nichts. Die Tür öffnete sich in einen weiteren Raum, der nichts Bedrohlicheres enthielt als unangenehm abgestandene Luft. Slinni steckte die Phiole wieder weg.

"Meine Rückseite", stellte Slif zufrieden fest. "Enthält mehr Erhabenheit als diese Ruine hier!"

Sie zog ein Messer. "Noch eine Tür", zischte sie Barn zu.

Der grunzte seine Zustimmung.

"Vermutlich jetzt in die Halle", ergänzte Slinni.

Slif nickte, packte den Griff und riss die Tür auf.

 

Trübes Licht erfüllte den gewaltigen, runden Raum, den sie dahinter fanden. Mit einem Durchmesser von bestimmt fünfzig Schritten war er sicher dreißig Meter hoch, und die Wände segmentiert durch vier Ringe balustrierter Galerien, die von einer Menge verwirrend gewundener Treppen miteinander und dem Boden verbunden waren. Darüber wölbte sich eine Kuppel, mit verblassenden Fresken von Landschaften, Städten und Himmeln geschmückt, in denen Monde und bärtige Figuren mit spitzen Hüten eine dominante Rolle spielten.

Das Licht fiel durch eine kreisrunde Öffnung im Zenit der Kuppel auf einen Ring grauer Steine in der Mitte der Halle.

 

"Die Gezeitensteine!", krächzte Barimov Kaskatan ekstatisch. "Das ist ein Modell der Gezeitensteine!"

Er stolperte voran, drängte sich unerwartet an Barn und den Schwestern vorbei.

"Ein Traum!", rief der Gelehrte. "Ein Traum!" Er verlor beide Pantoffeln bei seinem Spurt.

Vor dem ersten grauen Obelisken, der vielleicht die doppelte Höhe eines Mannes besaß, fiel er auf die Knie und hob die Arme in Anbetung.

"Weisheit, gegossen in Stein", intonierte er. "Leben, geworden aus Stein!"

Er faltete die Hände und senkte sein Haupt in Demut.

Stein blieb Stein und ignorierte Barimov Kaskatan.

Slif und Slinni erreichten ihn kurze Zeit später.

"Barimov, es ist nicht sicher, ob es hier sicher ist", sagte Slinni und fasste ihn an der Schulter. "Slif, Barn und ich sollten den Ort zunächst untersuchen."

Barimov Kaskatan schien sie nicht zu hören. Sein Gesicht war eine Maske der Glückseligkeit.

"Ich oder du?" Slif blickte mit gehobener Braue auf ihre Schwester.

"Ich", antwortete Slinni. "Das habe ich verdient. Du hast dich ja geweigert, seine Werke zu hören."

Mit der Kante ihrer linken Hand traf sie präzise Barimov Kaskatans Carotis. Der Gelehrte sackte zu Boden.

"Und jetzt?", fragte Slif.

"Weiß nicht – zu seinem eigenen Schutz, erst einmal wieder raus hier?"

"Wird ihm nicht gefallen."

"Er bezahlt uns, ihn zu schützen, nicht ihm zu gefallen."

"Ach?"

"Prügel, kleine Schwester?"

Slif hob beschwichtigend die Hände. "Niemals, große Schwester. Du bist meine Familie, ich werde dir nicht wehtun."

Das folgende Schweigen wurde unterbrochen von einem scharfen Krachen, als beiße ein Riese in einen außergewöhnlich harten Riesenapfel. Zunächst rieselten nur Staub und Segmente des Freskos aus der Kuppel zu Boden. Dann brachen dort oben in kurzer Folge Dutzende von zimmergroßen Blöcken heraus, stürzten hinab und zerplatzten auf dem Boden. Messerscharfe Splitter verfehlten Slifs maskierte Wangen nur um Millimeter.

"Was ist das?", brüllte sie und riss sich das Tuch vom Gesicht.

"Eine Falle?", schlug ihre Schwester vor, die bereits flach auf dem Boden lag und langsam Richtung Wand zurückkroch. Dabei zog sie den reglosen Barimov Kaskatan hinter sich her.

Slif wich einem Brocken von der Größe eines Ponys aus. "Nicht meine!", schrie sie. Sie vollführte mehrere Überschläge, bis sie neben Barn landete. "Ideen, Muskelmann?", fragte sie.

Der Nordmann war von den Ereignissen ein wenig überwältigt.

"Mädel, das sind Steine!", stieß er schließlich hervor, denn er verstand, dass auch er seinen Beitrag leisten musste.

"Ja, Liebster, und sie fallen von oben nach unten", sagte Slif und lächelte strahlend. "Nichts Besonderes, das tun sie immer, wenn keine Zauberei im Spiel ist. Hilf Slinni mit Barimov."

Der Barbar blinzelte, dann nickte er, "Barimov, richtig." Sehr vorsichtig rutschte er auf Slinni und den Gelehrten zu, während hinter ihm weiterhin hausgroße Trümmer von der Decke fielen.

 

Als er sie erreicht hatte, war Stille eingekehrt. Eine dicke, kalkige Wolke senkte sich langsam auf die zersplitterten Fliesen. Der Steinkreis war unter Trümmern begraben, und in der Kuppel klaffte nun ein gezacktes Loch von vielleicht dreißig Schritten Durchmesser. Der Himmel darüber war blau, zeigte aber am unteren, rechten Rand eine kleine, graue Wolke. Eine Möwe kreuzte kreischend die Öffnung.

"Das wird Barimov nicht gefallen", sagte Slinni.

"Er ist selbst schuld." Slif wies mit dem Fuß auf eine Reihe Steine, die in einem weiten Kreis um die Mitte der Halle ein Fingerbreit über den Boden hinausragten. "Ein simpler Auslöser, und er ist drüber gestolpert."

"Wir aber auch." Slinni blickte sich um. "Was machen wir jetzt?"

"Das Beste aus der Situation. Lass uns das Gebäude untersuchen, solange Barimov noch… schlummert."

Slif wandte sich an den Barbaren. "Barn, sorg dafür, dass er sich nicht rührt, bis wir wieder zurück sind."

Dann verwehten und verschwanden die zwei Schwestern in der Weite der Halle wie schwarzer Rauch im Wind.

Barn konnte noch nicht einmal fluchen, so beeindruckt war er.

 

Nach etwa zehn Minuten gab Barimov Kaskatan ein erstes Stöhnen von sich, erwachte aber nicht. Barn starrte eine Weile auf den Hammer und legte ihn schließlich zu Boden.

Dann blickte er sich nach den Schwestern um. Manchmal glaubte er, Schatten lautlos vorüberfließen, hinter einer Tür verschwinden oder eine Treppe hinaufgleiten zu sehen, war aber nie sicher, dass es nicht doch nur eine Täuschung oder ein Spiel des Lichts gewesen war.

Entsprechend schockiert war er auch, als die Schwestern plötzlich wieder vor ihm standen, lichtlose Konturen, nur die Augen violette Sterne.

"Wie geht es ihm?", fragte Slinni. Barn zuckte mit den Achseln. "Gestöhnt. Sonst nix", sagte er.

"Er wird enttäuscht sein, wenn er wieder aufwacht", stellte Slif fest. "Es gibt nur zwei Räume, die was enthalten, der Rest ist staubig und leer. Nicht einmal Reste von Möbeln. Und dieser Maralago Drumm muss mächtige Angst vor ungeladenen Besuchern gehabt haben – jede Türschwelle hier ist ein Auslöser für etwas Unangenehmes für Uneingeweihte. Übrigens liegt er in einem der Räume. Vermute ich jedenfalls."

"Ist er auch scharf genug?", murmelte Barimov Kaskatan in diesem Augenblick.

"Barimov", sagte Slinni.

Der Mann schlug die Augen auf.

"Was – was ist passiert?", fragte er. "Der Steinkreis – er ist hier, nicht wahr?"

"Du hast etwas ausgelöst", antwortete Slif, schob die Kapuze zurück und schüttelte ihr Haar aus. "Danach sind ein paar Dinge herabgestürzt. Andere Dinge sind kaputtgegangen." Sie rieb sich die Wangenknochen. "Glücklicherweise nicht ich."

"Hm?", machte der Gelehrte, dann hob er den Kopf. Sah die Verwüstung.

"Aber… das ist ja furchtbar!", rief er. "In diesen Steinen war Leben!"

"Jetzt vermutlich nicht mehr."

"Barimov, du musst uns gestatten, unsere Arbeit zu tun", sagte Slinni im Ton einer erschöpften Mutter. "Wir – Slif, ich, selbst Barn – sind hier, um dich zu schützen. Aber wir können das nicht, wenn du dich leichtsinnig in Gefahr begibst."

Barimov Kaskatan starrte eine Weile trübe vor sich hin. Starrte auf den Staub, starrte auf seine Füße, starrte auf die Trümmer.

"Natürlich", gab er dann kleinlaut zu. "Ich war nur so… so überwältigt."

"Es gibt hier zwei Dinge, die du vielleicht sehen willst", sagte Slinni. Sie hatte sich ebenfalls demaskiert und flocht ihre Haare mit geschickten Fingern zu einem komplexen Zopf.

"Helft mir auf", ächzte der Gelehrte. "Und haltet mich fest, sollte ich noch einmal überwältigt werden."

Slif grinste. "Sicher", sagte sie.

Slinni sagte nichts und zog Barimov Kaskatan auf die Beine. Der widmete dem begrabenen Steinkreis einen langen, traurigen Blick und folgte dann den Schwestern zu einer der Treppen, die hinauf in die Galerien führten. Barn trabte hinterher.

 

*

 

Die Gestalt in Grau kauerte auf den Zinnen eines schmalen Turms, der eines der Gebäude neben der großen Halle flankierte, scheinbar nur als Zierde, denn er besaß in seinem Inneren keine Stufen. Sie hatte sich beim Aufstieg an der Außenwand einen Fingernagel eingerissen und in Folge eine Zeitlang das seelische Gleichgewicht verloren.

Den plötzlichen Absturz eines Teils der Kuppel der Halle und den Lärm der fallenden Trümmer hatte sie dennoch nicht ignorieren können.

"Sie haben wohl etwas gefunden", sagte sie. "Oder etwas sie."

Selbstgespräche waren eine leicht beunruhigende Angewohnheit, die sie in den letzten Tagen entwickelt hatte.

Sie beschloss zu warten, still zu beobachten. "Macht keinen Sinn, jetzt reinzugehen", murmelte sie.

Ihr Blick wanderte nach Norden, wo eine dicke, weiße Wolke gewachsen war und mittlerweile die gesamte Breite des Horizonts einnahm.

"Könnte einen Sturm geben", erzählte sie sich.

 

*

 

"Das ist vermutlich der persönliche Raum von… Maralago Drumm", bereitete Slinni Barimov Kaskatan vor. "Sein Schlafzimmer."

"Auf jeden Fall liegt da etwas auf einem Bett", ergänzte Slif.

"Was – ist er am Leben?", flüsterte der Gelehrte.

"So wie er aussieht, wäre es besser für ihn, es nicht zu sein."

Slif öffnete die Tür, in deren helles Eichenholz das Bild eines Bootes geschnitten war, umgeben von dreizehn unregelmäßig geformten Säulen wie der zugreifenden Hand eines nicht ganz anthropomorphen Gottes. "Nicht auf die Schwelle treten", sagte sie. "Sonst fällt uns was auf den Kopf."

Sie zeigte auf die steinerne Kugel, die in der Mitte eines verschlungenen Wolkenmusters den Türbogen krönte, und die natürlich den Mond symbolisierte.

 

Andachtsvoll stand Barimov Kaskatan neben den modrigen Resten einer einst prächtigen Bettstatt und warf scheue Blicke auf die verfallene Gestalt, die darin ruhte. Sie trug auch im Tod einen hohen, spitzen Hut mit breiter Krempe. Ein gewaltiger Bart bedeckte weite Teile der Brust, was darüber und darunter lag, wirkte pulpig und grau, wie verrottendes Papier. Der größte Astromant aller Zeiten war wohl schon im Leben kein körperlich beeindruckender Mann gewesen, als Toter erschien er… kümmerlich.

"Das muss er sein", sagte Barimov Kaskatan leise, und ihm war anzusehen, dass er von seinem Idol mehr erwartet hatte. "Nach allen Porträts, die ich gesehen habe – das kann nur er sein." Dann hob er die Augen, und das hoffnungsvolle Strahlen kehrte in sie zurück angesichts dessen, was er hinter dem Bett sah. "Bücher!", hauchte er. "Regale voller Bücher."

"Freu dich nicht zu früh. Ich habe mir ein paar angesehen – und sie sind alle leer. Leere Seiten. Kein Wort darin."

"Unsinn, Slif, das kann nicht sein." Barimov Kaskatan stürzte auf ein Regal zu, zog ein Buch heraus, blätterte, warf es zu Boden. Nahm ein zweites, ein drittes, ein viertes, ein fünftes. Ging zum nächsten Regal, riss wahllos Bücher heraus, durchblätterte sie, wiederholte das bei allen Regalen im Raum.

"Alle leer", gab er dann zu, schwer atmend, in den Augen das Flackern beginnender Panik. "Aber warum?"

Slif zuckte mit den Schultern "Vielleicht hatte er Großes vor, und dann hat ihn sein eigenes Ende überrascht? Passiert bei vielen meiner… Vertragsobjekte."

Barimov Kaskatan presste die Lippen zusammen.

"Wir sehen uns das später noch einmal genauer an. Es gibt unsichtbare Tinten und andere Mittel, Text zu verbergen. Was ist in dem anderen Raum?"

"So was wie eine Landkarte."

 

Es war viel mehr als nur eine Landkarte.

Es war eine präzise Nachbildung aller Länder der bekannten Welt, vom eisigen Norden weit jenseits von Barns Heimatdorf Täppenwinkel bis hinunter zum südlichsten Punkt, dem berüchtigten Kap Iten, Epitaph unzähliger unbegrabener Seeleute. Flüsse und Seen wirkten, als enthielten sie tatsächlich Wasser, und jeder Hügel, jedes Tal, jeder Berg war ein kunstvolles Relief. Die großen Städte waren als detaillierte Modelle dargestellt, die weiten Wälder des Westens und des Ostens waren zarter, grüner Flaum auf der sanft gewellten Oberfläche. Selbst der Schnee auf den Bergen glitzerte wie – Schnee.

Das Faszinierendste aber war der apfelgroße Mond, der frei darüber schwebte, rund und weißblau marmoriert wie sein Vorbild in der realen Welt.

 

All das nahm fast den gesamten Raum eines Saales neben der großen Halle ein, vierzig Schritte breit und zwanzig Schritte tief. Kaum zwei Schritt blieben zwischen dem bis zu fünf Füße hohen Kunstwerk und den Wänden. Drei Fenster aus bemaltem Glas warfen ein vielfarbiges Licht auf die miniaturisierte Welt, das an unterschiedliche Tages- und Jahreszeiten in den jeweiligen Ländern denken ließ.

"Es ist atemberaubend", seufzte Barimov Kaskatan. "Es ist, als hätte er die Welt hier ein zweites Mal erschaffen!"

"Sieh doch, Barn – da ist Dawodaso!", rief Slif und zeigte auf eine Menge aus Türmchen, Kuppelchen und fein gestalteten Häuschen. Mitten im Modell der Stadt steckte eine kleine, blaue Fahne.

Slif beugte sich vor.

"Dawodaso", las sie. "Zehntausend."

Barn grunzte.

Aus Ybris, der größten Stadt des Imperiums, erhob sich ebenfalls eine Fahne, wie auch aus Rawasnittah und Thenil, den mächtigen Stadtstaaten des Südens. Und Haubrugg, der alten Metropole hoch im Norden. Weitere Fahnen steckten in Bereichen, die einfach nur Landschaft waren.

"Ybris, zwei Millionen", sagte Slinni. "Thenil – zehntausend. Haubrugg, zwanzigtausend. Sind das Einwohnerzahlen?"

Barimov Kaskatan rieb seinen Bart. "Glaube ich nicht. Thenil ist alt und staubig und hat seinen Höhepunkt lang überschritten. Sie haben mich damals tatsächlich von der Universität verwiesen, nur wegen einer winzigen Unregelmäßigkeit! Dawodaso – ihr wisst es selbst – ist auch nicht groß. Haubrugg ist mir zu kalt. Und Ybris hat noch lange nicht die Millionengrenze erreicht, ganz gleich, was die kaiserliche Administration uns glauben machen will."

Er hob eine Hand.

"Aber was immer es ist, es muss Maralago Drumms Vermächtnis an die Nachwelt sein – sein letztes, sein größtes Werk! Wir müssen es entschlüsseln, das ist unsere Pflicht!"

Barn runzelte die Stirn und betrachtete das Gemisch aus Braun, Grau, Grün und Blau.

"Ho, das ist Land von oben?"

"Ja, Herr Bart, mein guter Freund – wenn wir Götter wären, stünden wir vielleicht so um die Grenzen der Welt, hielten Würfel in den Händen und würden über die Schicksale aller Sterblichen entscheiden!"

Barn war nicht überzeugt. Für ihn sah es aus wie das Gemüsebeet, das seine Mutter und seine Schwester jedes Frühjahr voller Hingabe im Hinterhof der Schmiede seines Vaters angelegt hatten – und das niemals auch nur den harschen Sommer des Norlands überstanden hatte.

"Vielleicht gibt das da eine Antwort." Slif zeigte auf einen vergitterten Kasten aus dunklem Holz an der rechten Wand vor den Fenstern, und den Folianten, der auf einem Lesepult daneben ruhte.

"Liebe Slif, ich habe das Buch natürlich schon gesehen", sagte Barimov Kaskatan und faltete die Hände vor der Brust. "Aber ich weiß nicht, ob ich es ertrage, wenn es wieder nur leer ist." Er seufzte. "Es ist alles so anders hier, als ich erwartet habe."

Slif hob die Achseln. Sie hatte in ihrem Leben etwa dreißig Bücher gelesen – war von ihren Lehrern gezwungen worden, sie zu lesen – und alle hatten sich mit der effizienten Zerstörung menschlichen Lebens in einer Detailtiefe beschäftigt, die ein zu der Zeit vierzehnjähriges Mädchen vielleicht lieber nicht kennengelernt hätte. Daher hielten leere Bücher für sie nicht den gleichen Schrecken, den ein Gelehrter wie Barimov Kaskatan empfinden mochte.

Allerdings wusste sie nun, wie sie mit einer Seite Papier eine Kehle durchtrennen konnte, ob sie nun beschrieben war oder nicht – die Seite, nicht die Kehle.

"Barimov, sieh bitte nach. Buch und Pult sind sicher", sagte sie. "Ich muss hier nicht die Nacht verbringen."

 

Langsam schritt Barimov Kaskatan auf das Buch zu, mit dem Gesichtsausdruck eines Menschen, der unsicher ist, ob er seine Hand gleich in eine Schatztruhe oder ein Schlangennest stecken wird. Er spreizte die Finger über dem Buchdeckel, hielt dann inne und betrachtete den Kasten an der Wand.

"Da sind Kugeln drin", sagte er verwundert. "Kugeln aus Ton." Er ging näher heran, blinzelte, stieß mit der Nase fast an das Gitter.

"Sie sind unterschiedlich groß und beschriftet – Ybris, Dawodaso, Thenil, Haubrugg, Rawasnittah… für jede Fahne scheint es eine Kugel zu geben. Helft mir, den Kasten zu öffnen!"

"Finger weg, Barimov!", rief Slinni scharf. "Ich werde das machen. Schau du ins Buch. Ist es wirklich sicher?", zischte sie dann ihrer Schwester zu.

"Ja, ich habe es geöffnet, durchgeblättert, konnte es aber nicht lesen – keine Sprache, die ich kenne."

"Maralago Drumm verfasste alle seine Schriften in altmyrmidonisch, bis auf den Almanach, der aus kommerziellen Gründen in der Gemeinsprache war", erklärte Barimov der uninteressierten Slif.

"Barn!", bellte die den Barbaren an. "Kannst du massieren?"

Der hob die Brauen, dann wanderte ein breites Grinsen in sein Gesicht. "Mädel, ich…", begann er, aber Slif unterbrach ihn. "Den Nacken. Heute nur den Nacken."

 

Barimov Kaskatan zögerte immer noch über dem Buch, während Slinni eine Reihe Werkzeuge aus einer Tasche holte, um das Gitter zu untersuchen, und Slif dem Nordmann genaue Anweisungen gab, wie er sie wo zu berühren hatte.

Schließlich holte der Gelehrte tief Luft, fasste den ledernen Buchdeckel und schlug ihn um. Er beugte sich über das Pult, blätterte, begann zu lesen.

"Es heißt – Der zweite Mond!", rief er schon nach kurzer Zeit aus. Dann folgte eine Reihe von begeisterten Aaahs und Ooohs, doch nach einer langen Weile nahm die Begeisterung hörbar ab, um ersetzt zu werden durch Laute der Verwunderung, schließlich sogar des Entsetzens.

"Was ist denn, Barimov?", fragte Slinni, etwas barsch. Sie hatte Schwierigkeiten mit dem Kasten, die Atmosphäre des Gebäudes bedrückte sie, und die extrovertierte Natur ihres Arbeitgebers war ebenfalls kein Balsam für ihre Nerven.

"Vielleicht übersetze ich nicht richtig", antwortete der Gelehrte unglücklich. "Ich brauche mehr Zeit."

"Wir können es mitnehmen!", rief Slif von hinten.

"Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee wäre", sagte Barimov Kaskatan. "Es könnte… etwas auslösen."

"Dann lassen wir es hier und kommen morgen wieder."

"Auch das wäre nicht gut – es kann sein, dass wir bereits etwas in Gang gesetzt haben. Nein, ich muss das Buch hier und heute lesen. Und Slinni, es ist wohl besser, den Kasten erst einmal nicht zu öffnen."

Slinni schleuderte ihr Werkzeug zu Boden. Es klirrte laut auf den steinernen Fliesen.

"Vielleicht könntest du dich erklären, statt nur dunkle Andeutungen zu machen?", schrie die Kriscaria ihren Arbeitgeber an, und für einen Moment schienen ihre Augen rot zu leuchten.

Barimov Kaskatan zuckte zusammen und trat einen Schritt zurück, was seinen Rücken in Kontakt mit der Wand brachte.

Er hob abwehrend die Hände.

"Liebe Slinni, gib mir eine halbe Stunde – dann werde ich mehr wissen."

Slinni starrte den Gelehrten mit zusammengepressten Lippen an. Dann nickte sie.

"Eine halbe Stunde. Slif und ich müssen sowieso mal an die frische Luft."

Sie wandte sich an Barn.

"Du bleibst hier und passt auf, dass er keinen Unsinn macht. Lass ihn nicht aus dem Raum."

Barn, der auch gerne an die frische Luft gegangen wäre, grunzte, löste seine Hände von Slifs Nacken und stellte sich neben Barimov Kaskatan.

 

*

 

Als Slif und Slinni erschienen, ließ sich die Gestalt in Grau sofort zwischen die Zinnen nach hinten in Deckung fallen. Dann hielt sie den Atem an und zählte Herzschläge. Sehr bange und sehr hektische Herzschläge.

Wenn die beiden sie gesehen hatten, war es vorbei: die Schwestern wussten, wer sie war und für wen sie arbeitete – sie hatten sogar mit ihr zusammen trainiert, in dem Jahr, in dem sie an der Akademie der Kriscariaegilde in Dawodaso die erweiterte Ausbildung für Fernaufklärer der kaiserlichen Legionen absolviert hatte.

Bei aller Geheimniskrämerei war die Gilde eine kommerzielle Organisation, und die Akademie speziell dafür gegründet worden, einen sehr kleinen Teil des Wissens der Kriscariae gegen eine sehr große Menge Gold an Externe zu vermitteln.

Nachdem sie nach dreihundertneunzig Herzschlägen – in ihrer derzeitigen Verfassung keine lange Zeit – immer noch keine Klinge an oder in ihrem Hals spürte, wagte sie es, wieder Luft zu holen und den Kopf zu heben.

 

Es dauerte eine Weile, bis sie die Schwestern wiedergefunden hatte, aber schließlich entdeckte sie Slifs weiße Mähne in einem Hauseingang. Sie und Slinni hantierten mit Binden. Hatten sie sich beim Einsturz der Kuppel verletzt? Die Frau in Grau schob sich noch etwas weiter vor, um besser sehen zu können. Als sie dann erkannte, um was es ging, konnte sie ein Grinsen nicht unterdrücken – die beiden mochten alchymiotisch verstärkt sein, aber am Ende waren sie immer noch: Frauen.

Eine Bewegung zu ihrer Rechten, nur aus dem Augenwinkel wahrgenommen, ließ sie unwillkürlich den Kopf drehen, vielleicht schneller, als gut war, denn auch Slinni und Slif hatten Augenwinkel.

Sie hob die Brauen.

Über den Damm vom Festland kamen zwei Personen heran. Sie waren noch zu weit entfernt, um Genaueres zu erkennen, aber vom Größenunterschied konnten es ein Mann und eine Frau sein. Ein Rectificator, begleitet von einer Instigatrix? Eher unwahrscheinlich, der nächste Pala-Tempel befand sich an der Quelle des Dysenterion, mehr als einen Wochenritt entfernt. Die im Schreiben des Eliminats angekündigten Priester würden noch eine Weile brauchen.

 

Also mussten es Leute aus Barimov Kaskatans Gruppe sein. Sie wusste, dass er insgesamt sechs Begleiter hatte, aber gesehen hatte sie immer nur Slif, Slinni und den Barbaren. Nein, korrigierte sie sich – gestern Abend war da noch dieser unscheinbare Mann mit dem kümmerlichen Schnauzbart am Feuer gewesen, der sich von Slif hatte einschüchtern lassen.

Sie wandte sich wieder der Beobachtung der beiden Schwestern zu, nur manchmal einen kurzen Blick zum Damm werfend, um den Fortschritt der beiden Neuankömmlinge nicht aus den Augen zu verlieren.

Slif und Slinni standen immer noch im Hauseingang, waren aber mittlerweile in eine lebhafte Diskussion vertieft, die vor allem von Slif mit aggressiven Handbewegungen geführt wurde, während Slinni die Arme vor der Brust verschränkt hatte und nur manchmal heftig widersprach. Leider drang kein Wort bis hinauf zum Turm.

Dann schienen auch die Schwestern die Personen auf dem Damm entdeckt zu haben – sie verließen den Eingang und gingen ihnen entgegen.

 

Die Gestalt in Grau hatte das Gefühl, dass ihr Herz ein paar Schläge aussetzte, als sie die zwei erkannte, die da kamen: das waren ihre Zielpersonen gewesen, bevor der Eliminat befohlen hatte, Barimov Kaskatan in die westlichen Wälder zu folgen.

Arisara Fille Sucidal, die sich nun Arissa Welklöffel nannte, dreizehnte Tochter des Kaisers Sucidal Panem Orgiastor, und Danno Floricker, eigentlich Floritan Danus Ritikker, Sohn alten Adels und einst hochdekorierter Offizier der Ersten Legion. Jetzt Deserteur und Trunkenbold.

Beide waren vor Monaten eher zufällig von einem durchreisenden Venator erkannt worden, und nachdem die unerwartete Nachricht ihrer andauernden Existenz Ybris erreicht hatte, waren vom Eliminat zwei Totenscheine ausgestellt worden. Vor Ort zu verifizieren. Von der Fernaufklärung.

 

Verifikation von Totenscheinen: der Eliminat hatte diesen von der Gilde geprägten Euphemismus in die eigene Amtssprache übernommen, um den imperialen Meuchlern ihre Gewissenslast beim Morden ein wenig zu erleichtern.

Im Fall der Frau in Grau war das unnötig – sie empfand ihren Beruf üblicherweise als ausfüllend, sogar erregend. Manchmal gestaltete sie das Ableben einer Zielperson entgegen der Vorschrift als ein Spiel, nur um zu sehen, was man alles tun konnte, bevor der Tod eintrat. In mehr als einem Fall hatte sie das Blut oder andere Flüssigkeiten ihrer Ziele getrunken und manchmal Souvenirs mitgenommen. Nicht, dass das jemals in den offiziellen Berichten aufgetaucht wäre.

Doch diesmal fühlte sie ein gewisses Unbehagen: die gefallene Prinzessin, der Verräter und der fette Gelehrte, alles mutmaßliche Feinde des Imperiums, gemeinsam an einem Ort? Die seltsamen Andeutungen im Auftragstext des Eliminats? Konnte das Zufall sein? War sie einer Verschwörung auf der Spur? Einer Sache, die vielleicht sogar das Kaiserreich, riesig, schwer und unberührbar wie der Mond selbst, gefährden konnte? Oder sollte sie selbst hereingelegt werden, weil irgendeinem Zensor in Ybris aufgefallen war, dass sich ihre Aufgaben, Berichte und Abrechnungen nicht deckten?

Sie musste beobachten, analysieren und entscheiden: Verantwortung übernehmen.

 

*

 

"Was macht ihr denn hier?", fragte Slif nicht freundlich, während Arissa und Danno langsam auf sie zukamen. Die beiden schleppten einen großen Korb zwischen sich. Arissa wirkte leicht verändert – heller; wahrscheinlich hatte der Weg durch den See etwas von dem Schmutz gelöst, der sie wie eine zweite Haut bedeckte. Slif mochte sich nicht vorstellen, in welchem Zustand der See jetzt war. Definitiv würde sie nicht mehr hindurchwaten.

"Der Wurstverkäufer hat gesagt, dass ihr kein Essen mitgenommen habt. Wir bringen es euch", keuchte Danno. "Brot, Käse, Schinken. Bratwürste natürlich. Wasser. Und zwei Beutel Wein."

Slinni, die bisher keinen Gedanken an Nahrung verschwendet hatte, hob eine Braue und sagte: "Das ist aber nett. Stellt den Korb ab, dann geht – es ist nicht sicher hier."

Die beiden nickten unterwürfig, setzten den Korb im Gras ab und entfernten sich langsam wieder in Richtung Damm.

"Essen könnte Barimov aufheitern“, meinte Slinni und schulterte den Korb. "Gehen wir wieder hinein und hören uns an, was er zu erzählen hat."

Slif nickte. Mit fasziniertem Ekel betrachtete sie die schmierig glänzende Schinkenschwarte, die aus dem Korb ragte.

 

*

 

Die Gestalt in Grau beobachtete Arissa und Danno auf dem Weg zurück zum Damm. Sie gingen sehr langsam und sahen sich immer wieder um. Nachdem Slif und Slinni im Gebäude verschwunden waren, blieben die beiden stehen.

"Interessant." Jetzt, da die scharfsinnigen Schwestern außer Hörweite waren, konnte sie ihre Selbstgespräche wieder aufnehmen.

Als sich Arissa und Danno dann vorsichtig zurück zur Halle bewegten, fügte sie noch ein "Sehr interessant." hinzu.

Arissa und Danno hatten scheinbar eigene Pläne. Aber was suchten zwei Menschen, die nur der Suff und der Hass auf das Imperium einte, im Haus eines toten Zauberers, der sich ebenfalls von Myr Mamon verraten gefühlt hatte?

"Ich bin hier, um das herauszufinden", sagte sie sich entschlossen. Beobachten, analysieren, entscheiden, Verantwortung übernehmen. Und eventuell sehr, sehr weit laufen und ein neues Leben anfangen.

"Was auch passiert, du passt auf dich auf, Aya", versuchte sie sich zu beruhigen.

Als Arissa und Danno zögernd den Anbau betraten, wartete sie noch eine Weile, seufzte dann schwer und sprang vom Turm. Auch wenn sie nicht alchymiotisch verstärkt war, einen Sprung aus viereinhalb Metern Höhe konnte sie verkraften.

 Sie folgte Arissa und Danno mit schmerzenden Knöcheln ins Dunkel von Maralago Drumms Halle und wünschte sich, sie hätte die ganze verdammte Bande schon letzte Nacht umgebracht.

 

*

 

Als Slif und Slinni in den Saal mit der Landkarte zurückkehrten, kauerte Barimov Kaskatan klein und grau über dem Pult mit dem Buch, ein gebrochener Mann. Ein Gläubiger, der hatte feststellen müssen, dass sein lebendiger Gott nur ein kostümierter Priester auf Stelzen gewesen war. Er hob den Kopf und versuchte sich an einem Lächeln. "Da seid ihr ja, meine Lieben. Wie war es draußen?"

"Großartig", Slif schnitt eine Grimasse. "Ein Sturm kommt. Wir sollten schnell machen. Ach, und Arissa und ihr rostiger Ritter haben einen Picknickkorb gebracht."

Slinni lächelte nicht und stellte den Korb ab. "Barimov, weißt du jetzt, was hier los ist?"

Barimov Kaskatan stieß einen langen, tiefen Seufzer aus.

"Ja."

"Und?"

Eine Person mit einem kunstloseren Repertoire, Missvergnügen auszudrücken als Slinni hätte jetzt wahrscheinlich die Arme verschränkt und mit einem Fuß einen wütenden Rhythmus auf dem Boden getappt. Aber in ihrem Fall genügte das Licht ihrer beweglichen Augen.

Mentoren der Gilde hatten kritisiert, dass Slinni in entscheidenden Situationen nicht so einschüchternd sei wie ihre Schwester. Es war der größte Irrtum einer ganzen Generation erfahrener Ausbilder.

 

"Es ist alles so traurig. Eine solche Entweihung genialen Geistes. Als würde man das Allerheiligste im Großen Tempel des Baah für Tanzabende vermieten. Nein, eigentlich noch schlimmer…"

"Barimov", sagte Slinni und dehnte das letzte Vokal des Namens wie auf einer Streckbank. "Komm zur Sache. Ich verstehe immer noch nicht, was uns hier bedroht."

Der Gelehrte holte tief Luft.

"Es scheint, als wäre Maralago Drumms seelische Gesundheit schon nicht gut gewesen, als er sich hierher zurückzog. Aber er hatte große Pläne – er wollte eine Schule der Selenologie aufbauen, Studenten unterrichten, sein Wissen und seine Philosophie weitergeben. Die Mittel dazu hatte er durch die Honorare für seine Lunoskope und den Erfolg des Almanachs. Scheinbar war er sogar so vermögend, dass er sein Bauvorhaben beginnen konnte, ohne dass das Imperium davon erfuhr – und das war zu seiner Zeit weit weniger dekadent als heute."

"Und?" Slinni lehnte sich neben ihn an die Wand.  

Ihre Schwester saß derweil unter den Fenstern und fütterte Barbaren-Barn Schinken aus dem Picknickkorb. Meist bewunderte Slinni Slif für die hemmungslose Leichtigkeit, mit der sie ihr Leben bewältigte. Manchmal hasste sie sie dafür.

"Gleich, liebe Slinni, gleich. Ich will ja nur den Rahmen festlegen. Die Schule sollte den Grundstein bilden für das andere, das größere Projekt – das größte und kühnste Projekt, welches je ein Sterblicher ersonnen hat."

Etwas des alten Glanzes kehrte wieder in die Augen des Gelehrten zurück. Er machte sogar eine dramatische Geste, als er weitersprach.

"Maralago Drumm nannte es: der zweite Mond!"

Slinni hob eine unbeeindruckte Braue.

"Ich muss nur noch einmal etwas ausholen, liebe Slinni, vergib mir. Du erinnerst dich, dass ich dir von dem Gezeitenkreis vor Kap Iten erzählt habe?"

Die Kriscaria verdrehte ihre violetten Augen. In ihren abendlichen Sitzungen hatte Barimov Kaskatan von wenig anderem erzählt. Damals allerdings hatte sie noch Geduld gehabt. Und etwas Sympathie.

"Nun, er besteht aus dreizehn Grausteinen. Grausteine finden wir überall in der Welt, meist in der Nähe von Ruinen der Alten. Viele halten sie für gewöhnliches Gestein. Manche Gelehrte aber behaupten – und ich bin einer von ihnen – dass die Grausteine in Wahrheit Mondfelsen sind, von den Dunklen Göttern zur Erde geschleudert während des Kriegs mit den Alten. Und dass ihnen Kräfte innewohnen. Dass sie ein Bewusstsein haben. Vielleicht sogar die versteinerten Seelen der Diener der Dunklen Götter selbst sind."

Er holte tief Luft. Slinni ebenfalls.

"Du kennst den Hohen Faahn bei Rawasnittah, und den gewaltigen Monolithen, der seinen abgerundeten Gipfel krönt? Das ist ein Graustein, vielleicht der größte, den es gibt. Man sagt, dass die Automateure, diese genialen Tüftler, für deren mechanische Wunderwerke Rawasnittah in der ganzen Welt berühmt ist, einmal im Monat eine Nacht am Fuß des Monolithen verbringen und dort im Schlaf Visionen erhalten, Visionen von noch genialeren Konstruktionen."

"Schön", unterbrach ihn Slinni. "Der Rahmen ist gesteckt, Barimov. Zur Landkarte und ihrer Bedeutung, bitte."

Barimov Kaskatan ignorierte, dass sie intensiv ihre Fingernägel betrachtete, die fast einen Zentimeter über die Kuppen hinausragten, ein Resultat der alchymiotischen Veränderung ihres Körpers.

"Gleich. Also – dreizehn Grausteine in einem Kreis vor Kap Iten. Maralago Drumm hat sie dort aufrichten lassen und hat vierzehn Tage und Nächte allein auf einem kleinen Boot in ihrer Mitte verbracht. So weit ist die Geschichte bekannt. Aber was neu ist – dort hat durch die Steine die Mondin zu ihm gesprochen!"

"Oh. Und die hat was gesagt?", fragte Slinni, während sie betont nicht ungeduldig war.

"Dass sie einsam ist und sich eine Gefährtin wünscht!"

"Ah?"

"Maralago Drumm hat versprochen, dass er ihren Wunsch erfüllen wird."

Slinni stieß sich von der Wand ab, ging hinüber zum Korb, nahm sich ein Stück Brot und riss es in Stücke. Kauend kehrte sie zu Barimov zurück.

"Hat er aber wohl nicht", sagte sie, etwas undeutlich. "Wir haben, soweit ich weiß, immer noch nur einen Mond. Und Drumm liegt tot oben in seinem Zimmer und kann das nicht mehr ändern."

Barimov Kaskatan nickte.

"Da beginnt das Drama. Ich habe von seiner Besessenheit wegen der Lunoskope erzählt. Man muss zwischen den Zeilen lesen, aber es wird deutlich, dass die Anfälle im Exil heftiger wurden – im Buch finden sich seitenlange Listen mit Namen und dazugehörigen Beschimpfungen. Immer mehr Handwerker und Künstler verließen die Insel, den Rest hat er fortgejagt, als die Karte und der zweite Steinkreis fertig waren. Und da saß er dann in seiner unvollendeten Schule, völlig allein – und wütete. Verfasste Seiten über Seiten voll übelster Drohungen gegen alles und jeden."

Barimov Kaskatan seufzte.

"Glücklicherweise ist vieles davon nicht mehr lesbar. Dann, plötzlich, wird der Text wieder klarer, fast vernünftig. Scheinbar konnte er ein Problem lösen, dass ihn davon abgehalten hatte, den zweiten Mond zu erschaffen. Hatte wohl etwas mit der Größe zu tun."

Der Gelehrte zeigte auf das Modell des Mondes, das schwerelos und rätselhaft über der Mitte der Karte schwebte.

"Das ist ein kleiner Graustein, aber es ist auch der Mond selbst. Frag mich nicht wie." – Slinni hatte es nicht vor – "Es hat irgendetwas mit der Verschränkung von Realität und Symbolik zu tun – höhere Magie. Das Interessante ist", er hob einen Zeigefinger, fast sein altes Selbst, jetzt, da er dozieren durfte, "dass das auch für die Landkarte gilt. Sie ist ein verschränktes Abbild."

Slinni hörte auf zu kauen.

"Das heißt – die Karte ist die Welt?", fragte sie. "Und was darauf passiert, passiert auch in der Realität?"

Sie trat, so weit es ging, von der Karte zurück und wurde noch bleicher, als sie ohnehin war.

"Oh, meine kluge, kluge Slinni!", rief Barimov Kaskatan. "Ja! Ja! Oder in gewisser Weise." Er rieb sich die Nase. "Nur ganz bestimmte Ereignisse können über die Karte in der Welt ausgelöst werden. Und sie brauchen einen Katalysator."

Das Unglück kehrte in sein Gesicht zurück.

"Die Kugeln in dem Kasten sind… präpariert", sagte er. "Wenn eine dieser Kugeln auf die Karte gelangt, wird in der wirklichen Welt ein Objekt von einer Größe aufschlagen, die proportional zum Verhältnis des Kartenmaßstabs zur Realität ist."

Slinni runzelte kurz die Stirn, während sie den Satz verdaute. Dann wurden ihre Augen weit.

"Das heißt, wenn ich eine Kugel habe, die so groß ist wie das Modell von Ybris, dann landet etwas auf der echten Stadt, das so groß ist wie die Stadt?", fragte sie.

Barimov Kaskatan nickte.

"Der kleine See, hinten im Wald", sagte er. "Das war ein Test. Drumm hat einen Krümel, kleiner als ein Sandkorn, aus einer Höhe von einem Meter auf die Karte fallen lassen. Das Resultat hast du gesehen."

"Aber warum?"

"Es ist schrecklich, liebe Slinni. Gegen Ende seines Lebens kannte Maralago Drumm nur noch Hass", sagte Barimov Kaskatan. "Er besaß das Rezept zur Schöpfung von Welten, aber er wollte keine Gefährtin für die Mondin mehr erschaffen, gar nichts mehr schaffen – er wollte die Welt, die ihn, wie er glaubte, verstoßen hatte, zerstören. Mit Monden bombardieren. Er hat Botschaften verschickt. Genau gesagt: Erpresserschreiben. Die Zahlen auf den Fahnen auf der Karte sind Forderungen an die Reichen und Mächtigen. Aber um das Gold ging es ihm gar nicht. Er wollte Panik verbreiten."

Barimov Kaskatan knetete seine Finger. "Er wollte, dass alle wissen, was er tun könnte. Und zwar jederzeit, ohne Warnung. Er wollte Furcht, Schrecken und Hilflosigkeit in jede Seele sähen. Aber die Herrschenden haben es unter Verschluss gehalten. Und dann hat wohl die Natur dafür gesorgt, dass Maralago Drumm den Plan nicht mehr zu Ende bringen konnte."

Barimov Kaskatan schwieg kurz.

"Slinni, wir müssen diese Kugeln zerstören", sagte er dann, aschgrau angesichts des Verrats seines Idols an der Menschheit, oder des Verrats, den er mit diesen Worten an seinem Idol beging.

 

"Nein!", kreischte eine schrille Stimme: Arissa Welklöffel, schwärzlich und zerlumpt, stürmte in den Raum, gefolgt von Danno Floricker. Der graue Mann sah unglücklich aus.

Slif sprang auf, zwei Messer bereits in den Händen. Barn war etwas langsamer, stand dann aber neben ihr, Schinkenschneider in der rechten Faust. Slinni stellte sich vor Barimov Kaskatan. Und der bewies, dass sein sanftes Gesicht auch Ärger ausdrücken konnte.

"Was soll das bedeuten?", rief er. "Warum seid ihr nicht im Lager und bereitet das Abendessen zu?"

"Ich bin die Lieblingstochter von Kaiser Sucidal Panem Orgiastor III.!", schrie Arissa und versprühte Speicheltropfen. "Aber er ist Scheiße! Und ich will, dass er und sein beschissenes Reich untergehen! Ich hab' alles gehört, ich will die Kugel, die für Ybris bestimmt ist! Den Rest könnt ihr meinetwegen kaputtmachen."

"Und wenn wir es nicht tun?", fragte Slif freundlich, warf ihre zwei Messer synchron in die Luft und fing sie wieder auf. "Spuckst du uns dann tot?"

Arissa zeigte mit einer grandiosen Geste auf Danno Floricker.

"Mein Leibwächter wird für mich kämpfen – gegen jeden von euch einzeln, oder auch gegen alle gleichzeitig, mir ist es egal!"

Danno Floricker war es sichtlich nicht egal, aber er zog tapfer sein rostbeflecktes Schwert.

"Ho, Prätorianer – schützt des Kaisers Haus!", intonierte er, etwas im Widerspruch zu Arissas Forderung.

"Ihr seid beide betrunken", stellte Barimov Kaskatan nüchtern fest. "Und – ihr seid beide gefeuert."

Arissa und Danno starrten den Gelehrten fassungslos an – offenbar war in ihrem Szenario der sich nach ihrem Auftritt entfaltenden Ereignisse eine solche Reaktion nicht vorgesehen gewesen.

Dannos Schwert sank.

Aber Barn der Barbar hatte einen plötzlichen Anfall von Mitgefühl, als er die beiden jämmerlichen Gestalten in der Tür stehen sah, so abgekanzelt und ignoriert. Er bewunderte ihren hirnlosen Mut, der ihn sehr an die Menschen seiner Heimat erinnerte.

"Ho, Danno!", rief er. "Ich werde mit dir kämpfen! Für die Ehre!"

Danno Floricker presste die Lippen zusammen, bis sie nur noch ein dunkelgrauer Strich in seinem hellgrauen Gesicht waren.

"Ich habe keine Ehre", sagte er heiser, und zum ersten Mal blickte er Barn direkt in die Augen. Sein Mund arbeitete, als kaue er ein Stück Holz.

"Treffen wir uns draußen, in der Halle", sagte er schließlich. "Dann sehen wir, was passiert."

Er verließ den Raum, gefolgt von Arissa, die schrill und unverständlich auf ihn einredete.

Slif drückte Barns dicken, rechten Arm. Wie es ihre Art war, etwas fester als nötig.

"Für die Ehre!", flötete sie. "Du bist ja sooo süß!"

 

*

 

Die Frau in Grau, verborgen hinter einem Trümmerstück, hatte sowohl Barimov Kaskatans Gespräch mit Slinni als auch den Auftritt von Arissa und Danno verfolgt. Jetzt konnte sie handeln. Sie alle umbringen, und kein Pala-Priester würde daran zweifeln können, dass sie nur ihre heilige Pflicht gegenüber dem Reich getan hatte.

Wie es aussah, hatte der Gelehrte tatsächlich etwas gefunden, das eine Bedrohung für das Imperium darstellte, und Arissa und der Deserteur hatten ebenfalls deutlich gemacht, dass ihre Totenscheine dringend verifiziert werden mussten.

Sie tätschelte die Tasche mit den drei Feuerkrautbomben. Nach einem Rezept hergestellt, das die großartige Slinni Atropa selbst, alchymiotische Heldin der Gilde und bleiche Göttin der Unliebe, entworfen hatte, verbessert noch durch ein paar eigene Zutaten. Die Ironie ließ sie grinsen.

Sie zog eines der Tongefäße heraus, wickelte es aus der dicken Hülle aus schützendem Filz und stand auf. Keine bessere Gelegenheit als jetzt: alle Ziele waren beisammen.

Als Danno und Arissa aus dem Kartenraum gestürmt kamen, zog sie sich hastig wieder in den Schutz der Trümmer zurück. Noch tiefer duckte sie sich, als kurze Zeit später die Schwestern, der Barbar und Barimov Kaskatan folgten.

Was sollte das schon wieder?

Der Barbar zog sein lächerlich großes Schwert und stellte sich Danno gegenüber.

Die anderen vier hielten Abstand, wobei Arissa sich deutlich separierte und permanent Unverständliches murmelte.

Ein Duell?

Slif trug ihr irres Grinsen im Gesicht, wahrscheinlich hoffte sie auf ein Blutbad.

Die Frau in Grau grinste ebenfalls. Es würde ein Blutbad werden, aber nicht so, wie die kleine Psychopathin es sich vorstellte – Floritan Danus Ritikker war der Hauptmann einer Eliteeinheit der Ersten Legion gewesen und hatte über vierzig Jahre Kampferfahrung.

Der Barbar hingegen war – ein Barbar. Das sah man schon an seiner Waffe: das Schwert glich einem riesigen, stählernen Knüppel, so subtil wie ein Faustschlag ins Gesicht. Wahrscheinlich handhabte er es wie ein Holzfäller.

Barimov Kaskatan sah besorgt aus.

"Herr Bart, ist das wirklich notwendig?", rief er. "Wir haben Wichtigeres zu tun!"

Der Barbar äußerte nur ein dumpfes Grunzen und hob seinen Prügel hoch über den Kopf, die Spitze nach hinten. Die Parodie einer formalen Schwerthaltung.

"Ho!", rief er Danno Floricker zu.

Der zog sein Schwert und hielt es in mittlerer Höhe, den Arm nicht ganz gestreckt, die Klinge leicht nach innen geneigt. Eine defensive Haltung, aus der er aber auch einen Angriff entwickeln konnte, wenn der Gegner sich eine Blöße gab.

Was er zweifellos tun würde. Die Frau in Grau grinste. Arme Sliffi.

Dann passierten eine Menge Dinge wesentlich schneller, als sie erwartet hatte.

Der Barbar glitt einen weiten Schritt nach links, statt direkt zu schlagen und ließ sein Schwert einen Bogen schräg nach unten beschreiben. Es war eine Form, die als Absteigender Falke bekannt war – aber woher kannte ein Barbar sie?

Der Angriff hätte Danno Floricker enthauptet, wenn er nicht im letzten Augenblick nach hinten – man musste es so sagen – getorkelt wäre.

Der Barbar nutzte seinen Schwung für eine Drehung, die die tänzerische Eleganz eines anmutigen Felssturzes hatte, und ließ seine Waffe erneut auf Danno niedergehen. Der parierte, und die beiden Klingen schrammten schrill kreischend aneinander entlang. Die Frau in Grau hielt den Atem. Das schwere Schwert des Barbaren war jetzt in einer schwachen Position nahe am Boden, der Körper dahinter ungedeckt – Danno mit seiner leichteren Waffe konnte nach Belieben angreifen.

Was er tat.

Ein schneller Hieb von rechts zielte auf die Leibesmitte des Barbaren, und die Frau in Grau presste die Lippen zusammen, in Erwartung der unschönen Erkenntnisse über die Eitelkeit des Lebens, die ein aufgeschlitzter Bauch üblicherweise bot.

Aber der Barbar riss sein Schwert in einer unglaublichen Aktion mit absurder Geschwindigkeit senkrecht vor den Körper und fing Danno Florickers Klinge ab.

Die brach direkt über dem Heft. Das geborstene stählerne Blatt wirbelte davon und schlug irgendwo im Schatten scheppernd auf die Steinfliesen.

Stille in der Halle. Ein Windstoß trug den schrillen Schrei einer Möwe durch die zerstörte Kuppel.

Danno Floricker starrte lange auf den Griff in seiner Hand, schließlich schleuderte er ihn zu Boden.

"Ich scheiß' auf die Ehre!", brüllte er. "Ich geh' jetzt was trinken!"

Er wandte sich ab und schritt Richtung Ausgang. Arisara Fille Sucidal, die dreizehnte Tochter des Kaisers Sucidal Panem Orgiastor III., die tatsächlich in ihrer süßen Jugend in einem Anfall extremer Selbstüberschätzung Shainman Shatten in der Arena von O'bah Dungg gegenübergetreten war – und aus der spektakulären Begegnung eine lebensverändernde Kopfverletzung zurückbehalten hatte –, warf verwirrte Blicke um sich, dann folgte sie ihm hastig.

Niemand hielt sie auf.

Der Barbar, sein Schwert immer noch wie eine Wächterstatue vor sich haltend, blickte den beiden nach. Dann zuckte er mit den Schultern und verstaute die Waffe wieder auf seinem Rücken.

Barimov Kaskatan klatschte in die Hände.

"Ausgezeichnet gespielt, Herr Bart!", rief er. "Aber jetzt müssen wir uns dringend den wirklich wichtigen Dingen zuwenden."

Slif, sah die Frau in Grau angewidert, hüpfte auf und ab wie ein aufgeregtes Kind und warf sich dann dem Barbaren an den Hals. Ihr ungebändigtes Haar umspielte ihren und seinen Kopf wie silberweiße Gischt.

"Wohiee-hee!", quiekte sie und ließ ihre rosige Zunge zwischen die Lippen des Barbaren gleiten. Die Frau in Grau schauderte.

Definitiv wird es Zeit für Feuerkraut.

Sie bemerkte den gefiederten Schatten erst, als der sie packte, in seine nach altem Staub riechenden Schwingen hüllte und ins Dunkel zog. Danach hätte sie eine lange Zeit geschrien, hätte das verwesende Ding es ihr erlaubt.

 

*

 

"Wir müssen sehr vorsichtig mit den Kugeln sein", mahnte Barimov Kaskatan. "Wenn auch nur eine zu Boden fällt und zerbricht, könnten Splitter, die die Karte treffen, in der realen Welt wie ein Regen riesiger Felsblöcke sein."

"Dann reißen wir den Kasten einfach aus der Wand und werfen ihn ins Meer", schlug die stets pragmatische und gewaltbereite Slif vor.

Barimov Kaskatan verzog das Gesicht.

"Das ist keine gute Idee. In den alten Geschichten tauchen Dinge, die man ins Meer wirft, immer zur falschen Zeit wieder auf."

"Vielleicht habe ich etwas Besseres."

Slinni öffnete eine Tasche an ihrem Gürtel und zog ein kleines Knäuel heraus. Mit geschickten Fingern zog sie es auseinander und präsentierte einen Beutel aus dünnem, aber sehr festem Leder, von einer Größe, dass ein menschlicher Kopf gerade so hineinpasste.

"Das ist ein Beutel aus dünnem, aber sehr festem Leder", sagte sie. "Wir verwenden ihn normalerweise…" Sie hielt kurz inne. "Irrelevant. Wir nehmen die Kugeln aus dem Kasten, packen sie in den Beutel, binden ihn zu und holen den großen Hammer. Dann klopfen wir – genauer gesagt, er", sie zeigte auf den Barbaren, "den Inhalt vorsichtig zu Pulver, und danach werfen wir alles ins Meer. Einverstanden, Barimov?"

Der Gelehrte nickte langsam. "Aber nicht hier drin. Nicht auszudenken, wenn der Beutel während des Hämmerns platzt!"

"Wir machen es in der Halle. Aber erst brauchen wir die Kugeln."

Slinni drückte Slif den Beutel in die Hände, bückte sich nach ihren Werkzeugen und wandte sich dem Kasten zu.

Nachdem sie eine Weile mit zusammengepressten Lippen am Gitter gewerkelt hatte, schlug sie sich plötzlich vor die Stirn. Mit den Fingernägeln zog sie eine schmale Leiste aus der rechten Seite des Kastens. Nun ließ sich das Gitter problemlos zur Seite schieben.

"Schwester!", rief sie. "Beutel!"

 

Mit vorsichtigen Fingern hatte Slinni schließlich auch die letzte Kugel – die kleine Plakette aus Messing, die darunter im Kasten befestigt war, trug den Namen Dawodaso – in den Beutel gelegt und ihn sorgfältig zugeschnürt. Dann zog sie einen zweiten Beutel aus ihrer Gürteltasche und packte den ersten darin ein. Auch der zweite wurde sehr gründlich zugebunden.

"Jetzt brauchen wir den Hammer", sagte sie.

"Ich leih' dir meinen", grinste Slif und rammte Barn einen auffordernden Ellenbogen in die Seite.

 

Slifs Grinsen erlosch, als sie durch die zerstörte Kuppel zum Himmel blickte, in dem sich immer mehr Wolken sammelten. "Wenn es nachher regnet und meine Haare nass werden, werde ich ungehalten", tat sie kund. "Dinge könnten beschädigt werden, Personen verletzt."

Ihre Schwester legte derweil den Lederbeutel auf einem Trümmerstück zurecht und ermahnte den Barbaren, der mit dem Vorschlaghammer bereitstand, zum dritten Mal: "Denk dran, nicht schlagen, einfach nur den Hammer fallen lassen. Er ist schwer genug."

"Ho, Mädel", machte der, ebenfalls zum dritten Mal.

Barimov Kaskatan stand etwas abseits und bemühte sich, nicht zu zeigen, wie nervös er war, was ihm kläglich misslang, da er unentwegt seine Finger knetete.

"Jetzt", sagte Slinni, und Barn ließ den Hammer fallen. Das Geräusch, das die Tonkugeln im Beutel machten, war überraschend laut und klang, als hätte sich ein dicker Gourmet in einen Teller Austern gesetzt. Von oben, vielleicht von einer der Galerien, kam der Schrei einer Möwe.

Slinni prüfte den Beutel.

"Nochmal."

Wieder fiel der Hammer, und wieder schrie die Möwe.

"Drecksviecher", murmelte Barn und schlug zur Sicherheit gleich noch einmal zu.

Slinni hob die Hand. "Das reicht."

Sie nahm den Beutel, schüttelte und knetete ihn, nickte dann.

"Wir streuen die Reste auf dem Rückweg ins Meer." Zum Gelehrten gewandt, fragte sie: "Bereit, Barimov?"

Der Mann seufzte und presste kurz die Lippen zusammen. "Einen letzten Blick noch, liebe Slinni", sagte er dann.

 

Barimov Kaskatan stand lange mit gesenktem Kopf vor der Landkarte, wie ein Trauernder, der einen geliebten Freund zu Grabe getragen hat.

"Wir sollten die Karte auch zerstören", sagte Slinni. "Sie ist gefährlich."

Der Gelehrte seufzte.

"Heute keine Zeit mehr!", rief Slif ungeduldig. "Hört ihr? Es donnert schon!"

Barn blickte ebenfalls auf den Kartentisch. Die kleinen, golden glitzernden Türmchen der Stadt, die Slif Dawodaso genannt hatte, gefielen ihm. Vielleicht waren sie etwas wert? Es war sicher kein Fehler, sie mitzunehmen.

Er schnürte den Geldbeutel an seinem Gürtel auf, drückte ihn und knickte die Öffnung leicht nach vorne, um mit einer Handbewegung Dinge hineinwischen zu können.

Dabei glitt aus dem Ledersack ein Objekt – fast konnte man meinen, aus eigenem Antrieb – und rollte auf den Tisch. Rund, rötlich, etwa so groß wie eine Walnuss.

Stirnrunzelnd griff Barn danach. Er erinnerte sich: das war die Kugel der Möwe. Zwischen Daumen und Zeigefinger hob er sie vor die Augen – sie sah so aus wie die Kugeln, die er gerade mit dem Hammer zu Staub geklopft hatte.

Barn grinste. So ein Zufall. Die Götter waren Spaßvögel!

"Barn?", fragte Slinni. "Was hast du da?"

 

Was dann passierte, wurde von allen im Raum anwesenden Personen unterschiedlich erinnert.

Barn behauptete, eine riesige Möwe sei durch die Tür gekommen und hätte ihm in die Hand gepickt. Als Beweis dafür konnte er eine tiefe Wunde im Fleisch zwischen Daumen und Zeigefinger seiner rechten Hand vorzeigen.

Slinni sagte, eine von einem jähen Windstoß hereingewehte Staubwolke habe den Barbaren kurz eingehüllt und sei dann ebenso plötzlich wieder verschwunden. Sie behielt für sich, dass ihr aus der Wolke unzählige rote Augen zugezwinkert hatten – solche Augen waren Thema vieler ihrer Träume und eine rein persönliche Sache.

Barimov Kaskatan war überzeugt, dass die mumifizierte Leiche von Maralago Drumm in der Tür erschienen war und einen skelettierten Finger in Barns rechte Hand gebohrt hatte.

Slif hingegen sprach von einer Frau mit verfilzten Haaren, wilden Augen und zerfetzter Kleidung, die mit einer Feuerkrautbombe in der Linken und einem Stoßdolch in der Rechten in den Raum gestürmt sei und den Barbaren angegriffen habe.

Dass am Ende eine solche Frau mit einem von Slifs Wurfmessern im linken Auge und sehr tot in Eingang gefunden wurde, machte diese Variante am wahrscheinlichsten, erklärte aber nicht den feinen Staub, der sie bedeckte, oder die Möwenfedern in ihrem Mund. Und schon gar nicht den spitzen Hut mit breiter Krempe, der zerdrückt neben ihr lag.

 

Was auch immer der Auslöser war, das Resultat war das gleiche: die kleine Tonkugel wurde Barn aus der Hand geschlagen und stürzte in einem sehr unwahrscheinlichen Bogen – magisch angezogen, würde es in einer schlechten Erzählung heißen – auf die Stelle der Reliefkarte zu, an dem sich Barn, Slinni, Slif und Barimov Kaskatan in genau diesem Augenblick in der realen Welt befanden: eine kleine Felseninsel vor der Küste der waldigen Westermark.

Gleichzeitig wurde der Himmel vor den Fenstern auf eine Weise dunkel, die sich nicht allein durch aufziehende Wolken erklären ließ.

Slif und Slinni reagierten synchron, aber jede ihrem Naturell entsprechend – Slif schleuderte ein Wurfmesser auf die Frau mit den wilden Augen, und Slinni warf sich vorwärts, um die fallende Kugel aufzufangen.

Dann prallten die Schwestern heftig zusammen.

Slifs noch vom Wurf ausgestreckter Arm traf die Kugel – vielleicht durch die Fügung ausnahmsweise gütiger Götter, wahrscheinlich aber eher durch Zufall – und wischte sie beiseite. Die tönerne Sphäre kollidierte mit der feinen Kurve von Slinnis Nase und glitt an ihr hinauf wie auf einer Rampe. Durch die Begegnung beschleunigt und in Rotation versetzt, schoss sie jetzt auf das Modell des Mondes zu, das ungerührt über allem schwebte.

Darunter schlugen die Gesichter und Oberkörper von Slif und Slinni wie zwei ultimative Leviathane in der Nachbildung der westlichen See auf. Die Schwestern berichteten später übereinstimmend, dass sie Wasser auf Wangen und Lippen gespürt hätten.

All das geschah so schnell, dass Barimov Kaskatans Mund erst auf dem halben Weg war, sich zu einem entsetzten Schrei zu öffnen, und Barns linke Hand kaum Windmachers Griff erreicht hatte.

Die kleine Kugel stieg.

Die Dunkelheit hinter den Fenstern lichtete sich.

Die kleine Kugel stieg höher.

Barimov Kaskatan schrie. Barn zog sein Schwert. Die Schwestern stemmten sich stöhnend, aber elegant aus der Nachbildung der See.

Die kleine Kugel erreichte eine Höhe, aus der ihr Fall auf die Karte Tod und Zerstörung über große Teile der bekannten Welt bringen würde – wenn Barimov Kaskatans Übersetzung von Maralago Drumms Aufzeichnungen korrekt war.

Barimov Kaskatan riss die Hände über den Kopf. Barn riss Windmacher über den Kopf. Slinni riss die Augen auf.

Slif machte einen Rückwärtssalto.

Die kleine Kugel berührte – fast – das Modell des Mondes.

 

Und dort, etwa drei Fingerbreit von der größeren, weißblauen Sphäre entfernt, verharrte sie.  

Es dauerte eine ganze Weile, bis die vier Menschen im Raum realisierten, dass die kleine, braune Kugel sich nicht weiter bewegte. Und noch etwas länger, bis sie wieder zu atmen wagten.

Noch viel länger starrte Barimov Kaskatan auf das Modell des Mondes und seinen neuen Begleiter. Sein Gesicht trug dabei den Ausdruck eines Karpfens, der sich zu lange außerhalb des Wassers aufgehalten hatte.

Doch dann schlich sich Verzückung in seine Miene.

"Der zweite Mond", flüsterte er ehrfürchtig. "Der zweite Mond."

 

Slif saß leise fluchend am Boden und rieb sich den Kopf, denn bei ihrem Salto war ihr die Architektur dazwischengeraten.

Schwester Slinni wurde aufmerksam auf den Körper in der Tür. Sie beugte sich darüber, runzelte die Stirn, dann riss sie mit präziser Gewalt ein Amulett von einer Kette um den Hals der Toten. Schnell ließ sie es in einer der Taschen an ihrem Gürtel verschwinden.

Barn verstaute Windmacher wieder auf seinem Rücken.

Barimov Kaskatan klatschte in die Hände.

"Lasst uns nach draußen gehen!", rief er. "Ich will sehen, ob das, was ich vermute, tatsächlich eingetreten ist!"

Er eilte aus dem Kartenzimmer mit dem entrückten Gesichtsausdruck eines Mannes, der aus einem Traum von einem Haufen Gold vor seiner Haustür aufgewacht ist, und nun hofft, ihn dort zu finden.

"Na endlich", murrte Slif, und machte ein Schauspiel daraus, schwerfällig aufzustehen.

"Slif!", sagte Slinni scharf. "Sieh sie dir an." Sie deutete auf die Frau am Boden. "Erkennst du sie?"

Slif strich sich die Haare aus dem Gesicht und schubste die Leiche leicht mit dem Fuß. "Jup. Das ist… Aya Teo. Imperiale Fernaufklärerin, eigentlich Töterin für das Eliminat. Ich erinnere mich an sie aus ihrer Zeit an der Akademie, sie kam immer zu spät ins Training, und Frau, hab' ich sie verdroschen."

Slinni kniete sich neben die Tote und nahm ihr die Feuerkrautbombe aus der Hand. Sie schnüffelte daran. Dann schleuderte sie sie auf die Fliesen. Das dünnwandige Gefäß zerplatzte, und eine Wolke trockener Kräuterkrümel staubte langsam zu Boden.

"Nicht mal das hat sie richtig hinbekommen!", seufzte Slinni. "Ich nehme an, wir sollten froh darüber sein. Was sie hier wohl gemacht hat?"

Slif zuckte nur mit den Achseln. "Barn, wir gehen!", rief sie.

Der Barbar, der erst jetzt die Wunde in seiner Hand entdeckt hatte, war etwas gekränkt, dass sich niemand um ihn kümmerte, vor allem sein… Mädel?... nicht. Mädel. Das stürzte ihn in Verwirrung. Wenn er jemals eine Frau getroffen hatte, die kein Mädel war, dann war das Slif. Er seufzte. Er würde sich etwas Neues ausdenken müssen.

"Was machen wir mit ihr?", fragte Slinni und deutete auf Aya.

"Die Möwen haben sicher Hunger", meinte Slif kalt. "Kommt jetzt, alle beide, sonst fällt der gute Barimov noch ins Meer."

 

Barimov Kaskatan stand vor dem Seiteneingang und blickte enttäuscht in den Himmel.

"Man kann gar nichts sehen!", beschwerte er sich und zeigte vorwurfsvoll auf die grauen Wolken, die vom Meer herangezogen kamen, dick, schwer und bereit, ihre nasse Last jederzeit abzuwerfen.

"Was kann man nicht sehen?", fragte Slif.

"Den Mond!"

"Auch ohne Wolken könntest du ihn nicht sehen", sagte Slinni. "Er ist noch nicht aufgegangen. Du solltest das wissen."

Barimov Kaskatan seufzte und senkte den Kopf. Er wirkte, als würde er sich gern die Haare raufen, hätte er welche.

"Jetzt sieht ihn irgendein Bauernlümmel vor mir, irgendwo im Horstland, in Das Hossa oder Torrn. Oder schlimmer noch, ein Seemann auf dem östlichen Meer! Ich hasse Seemänner!"

"Was, bei Vaxina?", fragte Slinni, erneut irritiert durch ihren Arbeitgeber. "Was sehen die zuerst?"

Der Gelehrte blickte zu ihr auf. Seine Augen waren milde und feucht.

"Den zweiten Mond natürlich."

Slinni blinzelte. "Du glaubst doch nicht, dass…"

Barimov Kaskatan nickte langsam und bedeutungsvoll. "Ich glaube nicht, ich weiß", sagte er. "Und du wirst sehen. Ihr werdet alle sehen! Im Tode macht Maralago Drumm seinen größten Fehler wett!" Er hob die Arme zum Himmel und rief: "Der wahre Maralago Drumm!"

Dann fragte er, etwas leiser: "Wann geht der Mond denn auf?"

Slinni inspizierte eine imaginäre Tabelle.

"Etwa eine halbe Stunde, nachdem das Licht des Kummers aufgestiegen ist. Und wenn ich mich nicht täusche, ist er heute sogar voll. Aber das alles macht nur Sinn, wenn die Wolkendecke aufreißt."

"Sie wird aufreißen, liebe Slinni."

Als wolle er widersprechen, landete klatschend ein dicker Regentropfen auf dem kahlen Kopf des Gelehrten. Der zuckte zusammen. "Aber vorher brauchen wir alle noch ein warmes Abendessen! Zurück ins Lager!"

Und Barimov Kaskatan setzte sich mit einer für seine kurzen Beine erstaunlichen Geschwindigkeit in Richtung Damm in Bewegung.

Slinni, die fluchende Slif und der Mann aus dem Norden folgten ihm, während immer mehr kaltes Wasser vom Himmel fiel.

 

Keiner von ihnen warf einen Blick zurück. Das war gut so, oder vielleicht auch nicht – denn für einen Augenblick schienen sich die Wolken über der Halle Maralago Drumms zu der Gestalt eines gedrungenen Mannes mit spitzem Hut und buschigem Bart zu formen, einer Gestalt, die sich den dicken Wolkenbauch hielt und herzlich lachte.

 

*

 

Slif saß am Feuer, gegen Barn gelehnt, und knabberte auf provozierende Weise an einer dicken Bratwurst. Der Zubereiter des Abendessens – Bratwurst mit Bratkartoffeln und Bratspeck, dazu Bratensoße – starrte sie über die Flammen hinweg unergründlich an.

Neben Slif kauerte Slinni, vor sich einen Mörser aus poliertem Granit, in dem sie mit einem Stößel und einem energischen Gesicht getrocknetes Kraut zu Pulver zerstieß.

Plötzlich hielt sie inne und sah zu ihrer Schwester hinüber.

"Was meinst du, war Ayas Ziel?", fragte sie.

Slif nahm die Wurst aus dem Mund. "Die welke Prinzessin, würde ich sagen. Wenn sie tatsächlich eine Tochter von du-weißt-schon-wem ist", sie warf einen schnellen Blick hinüber zum Bratwurstverkäufer, "dann sind ihre Auftritte eine Schande für Papa. Da ist es nur konsequent, dass jemand das große Schweigespiel mit ihr spielen will. Schade nur, dass wir den Vertrag nicht bekommen haben."

Sie gähnte. Barimov Kaskatan hatte, zur Feier des Tages, zum Essen jedem eine kleine Portion eines dicken, dunkelbraunen und bitter-süßsauren Likörs aufgedrängt, den er Atem des Baah nannte. Slif, die normalerweise Alkohol vermied, um den erhabenen Tempel ihres Körpers nicht zu schänden, war davon massiv getroffen worden. Sie war sicher, momentan keinen einarmigen Handstand länger als eine Minute durchzuhalten.

"Aber warum hat sie uns angegriffen?"

"Was weiß ich – wahrscheinlich, weil sie uns so liebhat. Du weißt, wie oft wir sie auf die Matte geschickt haben, und nicht immer sanft."

"Es war ein hartes, aber faires Training."

"Nicht jede ist so hart und fair wie du, große Schwester. Ich hab' sie verdroschen, weil ich sie nicht leiden konnte." Slif gähnte erneut. "Wir werden wohl nie erfahren, was sie wollte, aber was mich angeht: ich bin nicht traurig. Ich hab' alles was ich brauche, stimmt's, Barn?"

Sie rammte dem Nordmann einen Ellenbogen in die Seite. Der, aus etwas gerissen, was man bei anderen Menschen als Nachdenklichkeit bezeichnet hätte, schüttelte kurz den Kopf und fragte: "Hm?"

"Siehst du", grinste Slif Slinni an. Die verdrehte die Augen.

 

"Bald ist es so weit!", tönte die Stimme von Barimov Kaskatan aus dem Dunkel. Seit der Regen aufgehört hatte, hantierte der Gelehrte auf dem Dach des ersten Wagens mit Objekten aus Glas und Messing, die er klirrend, scheppernd und murmelnd zu einem komplexen Apparat zusammensetzte. Zur Vorsorge hatte Slinni ihn dort oben mit einem kurzen Seil festgebunden – es wäre bei der Gilde schlecht angekommen, wenn Slif und sie einen Kunden so kurz vor Abschluss des Auftrags noch durch Unachtsamkeit verloren hätten.

"Sind immer noch Wolken da!", rief Slif fröhlich.

"Optimismus, liebe Slif!", kam es vom Wagendach zurück.

 

Es ist unwahrscheinlich, dass Slifs Lebensauffassung etwas damit zu tun hatte, aber während der Bratwurstverkäufer noch das schmutzige Geschirr einsammelte, riss die Wolkendecke tatsächlich auf. Als würden zwei Vorhänge langsam auseinandergezogen, öffnete sich im Zenit ein Oval aus nächtlichem Schwarz. Die westlichen Ränder dieses Ovals zeigten einen silbrigen Widerschein, und die Wolken im Osten wurden heller. Die Oberfläche des nahen Sees begann sachte zu schimmern.

Slinni schauderte sichtbar.

"Was ist, Schwester, Angst vorm Mond?" Wenn sie gute Laune hatte, war Slif unausstehlich.

"Heute vielleicht."

Slif hob eine Braue. Slinni schüttelte den Kopf. "Ich will nicht darüber reden."

 

Für eine Weile herrschte Stille. Barimov Kaskatan war ein stummer Schattenriss auf dem Dach seines Wagens, rundlich hinter dem fertiggestellten Apparat, dessen Hauptbestandteil ein großes Rohr war, das steil in den Himmel ragte.

Der Osten hellte sich weiter auf, und hinter den Wolken schob sich ein diffuser, silbriger Fleck langsam auf die Lücke zu, in der Dutzende Sterne blinkten und blinzelten.

Slinni stand plötzlich auf und hob einen Arm. Über ihren ausgestreckten Daumen peilte sie den Fleck an.

"Er ist schneller als sonst", behauptete sie. "Und er flackert."

"Unsinn, Schwester." Slif erhob sich und bedeutete Barn, ebenfalls auf die Beine zu kommen. "Hast du wieder Kraut gekaut?"

Die zwei Frauen und der Barbar studierten den schimmernden Himmel, während über ihnen Barimov Kaskatan Zahnräder an seinem Apparat drehte.

Nur der Bratwurstverkäufer behielt die Augen am Boden und scheuerte ungerührt Töpfe, Teller und Pfannen mit Sand.

 

*

 

Der östliche Wolkensaum strahlte bald in weißem Feuer und enthüllte hoch oben eine fantastische, vertikale Hügellandschaft aus wirbelndem Dunst, akzentuiert mit goldfarbenen Halbschatten, gekrönt von Sternen.

Eine dramatische Bühne, die der Mond nur noch betreten musste.  

Wie ein eitler Schauspieler, ließ er natürlich auf sich warten.

Barimov Kaskatan flüsterte auf dem Wagendach, es mochten Gebete, Flüche oder Berechnungen sein, und hätte jemand Slinni beobachtet, wäre aufgefallen, dass sie sich kaum zurückhalten konnte, an ihren perfekt manikürten, tödlich scharfen und häufig vergifteten Fingernägeln zu kauen.

 

Dann schob sich der gleißende Rand der Mondscheibe in die Wolkenlichtung, und die Welt leuchtete jäh auf, als sei sie mit Silber eingefasst. Ein kalter Windstoß fuhr ins Feuer, dass es sich flackernd duckte wie ein verängstigtes Tier.

Slif tastete nach Barns schwieliger Pranke, obwohl sie nicht verstand, wieso – es hatte in ihrem Leben schon fast dreihundert Vollmonde gegeben, warum sollte gerade dieser so aufregend sein?

"Barimov, du machst uns alle verrückt!", rief sie entsprechend empört ins Dunkel.

"Sei bereit für ein Wunder, liebe Slif", sprach der Gelehrte salbungsvoll von oben herab. "Das letzte Wunder des Maralago Drumm!"

 

Und der Mond wanderte und wandelte sich. Zunächst schien da nur die gewohnte weiße Scheibe mit den dicken, bläulichen Adern zu sein, die den Gelehrten – unter ihnen natürlich Maralago Drumm, und, in einem weitgehend unbeachteten Essay, Barimov Kaskatan – seit Jahrhunderten reichlich Anlass zur Spekulation über das Wesen des Weltbegleiters gegeben hatte.

 

Manche betrachteten ihn als das gleißende Schild der Erdmutter im ewigen Kampf gegen die Dunkelheit; andere als das Ei der Weltkrake, bereit zu schlüpfen und den Kosmos mit tausend Armen zu zerquetschen; mehr materialistische Gemüter sahen in ihm das Schöpfungsjuwel, welches die Älteren Götter in den Himmel gehängt hatten, um die Sterblichen daran zu erinnern, wem sie ewig dankbar für das großartige Geschenk des Lebens sein mussten. Und es gab Dutzende weiterer Theorien.

Einige Wenige hatten auch auf die Ähnlichkeit mit einem wohlgereiften Blauschimmelkäse hingewiesen, aber die fromme Priesterschaft des Pala, die niemals und nirgendwo Zweifel an der Erhabenheit des Erhabenen duldete, hatte dafür gesorgt, dass diese Gruppierung nichts mehr zum Hinweisen aufwies.

 

"Sieht aus wie immer", sagte Slif, doch ihr gelangweiltes Gähnen misslang. Die seit frühester Kindheit gnadenlos trainierten Sinne, die es ihr erlaubten, mit verbundenen Augen fünf bewegte Ziele mit fünf Wurfmessern innerhalb von fünf Sekunden tödlich zu treffen, verrieten ihr, dass nichts war wie immer, und vielleicht auch nie mehr sein konnte. Sie drückte Barns Hand ein wenig fester. "Flackert nur ein bisschen stärker als sonst", schloss sie kläglich.

 

"Sie!", jauchzte Barimov Kaskatan von der Höhe seines Wagens. "Sie! Sie tanzt! Seht doch!"

Tatsächlich schien die gleißende Kugel am Himmel zu schwanken und verschwimmen wie eine Reflexion in einem geschüttelten Glas Wasser. Es war ein beängstigender, schwindelerregender Anblick.

Barn grunzte. Er hatte den Mond schon öfter so gesehen, auch wenn das immer mit ausgedehnten Zechereien oder Schlägen auf den Kopf verbunden gewesen war. Meist mit beidem, weil das eine aus dem anderen häufig hervorging.

Doch dann schob sich mit erstaunlicher Geschwindigkeit ein rotbrauner Ball, an den Rändern kupfergelb leuchtend, vor die weißblaue Scheibe – vielleicht ein Drittel so groß wie sie. Und der Ball tanzte ebenfalls, tanzte mit dem Mond.

Von Barimov Kaskatan kamen Laute, die sehr unvereinbar waren mit seinem Anspruch als bescheidener Universalgelehrter.

"Der zweite Mond! Der zweite Mond!", krähte er mit all der Ekstase eines Hahns, der eines Morgens die doppelte Menge an Sonnen aufgehen sieht. "Drumm hat ihn gedacht – und wir haben ihn gemacht!"

Dann fiel er, allen Vorsichtsmaßnahmen zum Trotz, vom Dach.


 

Epilog

Es war das Jahr des Untiers, im Monat des Doppelbocks am Tag der Elster. Auf dem Forum stand der kaiserliche Herold auf einem mit purpurnem Samt bespanntem Podest. Das Podest war eine umgedrehte Transportkiste für junge Schweine, aber das musste niemand wissen. Etwas Besseres war in der Kürze der Zeit nicht aufzutreiben gewesen – die Aufstände hatten Verwaltung und Infrastruktur der Stadt empfindlich getroffen. Immerhin brannte mittlerweile nur noch das Armenviertel.

Stolz und selbstgefällig blickte der Herold über die Menschenmenge, die sich vor ihm versammelt hatte, prächtig war er in seinem geprägten Lederpanzer, der einen athletischen Körperbau suggerierte, der sich darunter nicht fand.

Die geschwärzte Ruine der Ratshalle und die Trümmer der Basilika daneben übersah er ganz bewusst. Ebenso die Mengen Bewaffneter, die das Forum abgeriegelt hatten, an ihren Bärten als Mitglieder der Dritten Legion, der 'Nördlichen', erkennbar. Und besonders die rußschwarze Frau in der ersten Reihe vor ihm, die Unverständliches kreischte und ihn auf irritierende Weise an den Kaiser erinnerte, vor allem die Nase.

 

Es war sicher, dass die Botschaft, die er gleich verkünden würde, dem Volk nicht gefallen würde, aber Volk war Volk, und er vertraute den allzeit gewaltbereiten Soldaten des Imperiums. Und dass es praktisch nichts mehr gab, was man in dieser Stadt noch stürmen, plündern oder auch nur anzünden konnte.

 

Er hob das offizielle Dokument mit der Willenserklärung des Kaisers über den mit Stachelbeerzweigen bekränzten Kopf: zwei schmale Zylinder aus Messing. Dramatisch zog er sie auseinander und enthüllte so eine Bahn gelblichen Pergaments. Nichts stand darauf geschrieben, aber ein guter Herold brauchte keinen Text, um die Worte des Kaisers zu vermitteln.

"Untertanen Myr Mamons!", rief er mit trainierter Stimme, selbstsicher in dem Wissen, dass Hunderte andere kaiserliche Herolde fast zeitgleich mit ihm auf Hunderten anderer Foren in den Städten des inneren und äußeren Reiches diese Botschaft bekannt gaben.

"Du bist ein schweinisches Klötenschwein auf einer Schweinekiste!", schrie die schwärzliche Frau in der ersten Reihe. "Genau wie mein schweinischer Vater! Runter mit dir!"

Protest war zu erwarten gewesen, aber er hatte seine Rede doch noch nicht einmal begonnen?

Der Herold gab einen sachten Fingerzeig, und vier Legionäre packten die Frau, zerrten sie zu Boden und taten, was sie tun mussten, um die Würde des Kaiserreichs zu wahren.

 

"Untertanen Myr Mamons!", wiederholte der Herold. "Es ist eine Zeit der Zeichen und der Wunder! In seiner grenzenlosen Weisheit hat der Kaiser beschlossen, aller Welt ein Symbol der immerwährenden Herrschaft Myr Mamons zu schenken!"

Er holte tief Luft und deutete in den blauen Himmel, in dem nichts stand als eine blasse und ziemlich desinteressierte Herbstsonne.

"Er gab uns… den zweiten Mond! Ihr alle habt ihn gesehen in seiner bronzenen Pracht! Er umkreist das weiße Gestirn des Himmels, den ersten Mond. Den ersten Mond, der seit jeher Ybris die Prächtige symbolisiert – ewige Hauptstadt des Reiches und Zentrum der Welt."

Er erlaubte sich ein verschmitztes Lächeln.

"Ihr versteht? Der zweite umkreist den ersten Mond, so wie das Reich die Hauptstadt und den gottgleichen Kaiser umkreist!"

Er machte eine Pause. Die Menge um ihn raunte und murmelte ein wenig.

"Es gab Unruhe, es gab Zweifel unter euch, treue Untertanen Myr Mamons! Nicht wenige deuteten das plötzliche Erscheinen des zweiten Mondes als ein dunkles Omen, ein Zeichen des Weltuntergangs! Viele dachten, das Imperium habe sie im Stich gelassen."

Das Murmeln der Menschen um ihn wurde lauter.

"Aber", der Herold zeigte dramatisch irgendwohin, "Nichts könnte falscher sein!"

Er ballte eine Faust.

"Der Kaiserrr!", brüllte er jäh, und das Wort rollte, getragen von seiner rhetorischen Kraft, über den Platz wie Donner. "Der Kaiser hat ihn euch geschenkt! Der Kaiser gab euch den zweiten Mond als Leuchtfeuer und Inspiration. Als Botschaft der Hoffnung an seine treuen Untertanen!"

Er senkte den stachelbeerbekränzten Kopf.

"Und den Feinden Myr Mamons als Zeichen seiner unermesslichen und unerbittlichen Macht!", fuhr er leiser fort.

Mit dem Geschick langer Erfahrung rollte der Herold das Pergament wieder zurück in die Messingröhren.

"Jetzt geht nach Hause, und denkt nach über diese Macht, die einen neuen Körper in unseren Himmel bringen kann. Denkt nach, wie ihr dieser Macht als treue Untertanen dienen wollt, denn ihren Zorn wollt ihr nicht erregen!"

Er ließ das Dokument zu Boden fallen. Dumpf schlugen die Zylinder auf dem purpurnen Samt und der Schweinekiste darunter auf.

Irgendjemand rief etwas von Sandmännern, und dass sie vor den Toren stünden.

Der Herold lächelte wohlwollend und hob seine Arme, als wolle er das Volk umarmen.

"Doch keine Sorge! Als Zeichen seiner Gnade hat der Kaiser bereits entschieden, wie ihr ihm dienen wollt: ab dem heutigen Tag werden alle Steuern um zweimal zwei Prozent erhöht, zur Feier und Ehre des zweiten Mondes. Frohlocket!"

Leichtfüßig sprang der Herold vom Podest und wartete, bis sich sechzehn besonders kräftige Männer der Dritten Legion in einem soliden Quadrat um ihn versammelt hatten.

Während er gemessen in Richtung des Statthalterpalasts schritt, wurden erste Stimmen aus dem Volk lauter, und bei der Dritten Legion erste Schwerter gezogen.

 

*

 

Neunzig Meilen südlich der Stadt saßen Slinni und Barn nebeneinander auf der Kutschbank des ersten und mittlerweile einzigen Wagens, vor sich die struppigen Rücken der Ponys, über sich Slifs schmutzige Füße, und hinter sich – aus dem Wageninneren – das Stöhnen und Brummen von Barimov Kaskatan, der seit Tagen an seiner Monografie über Maralago Drumm saß und nicht vorankam.

 

Nach der Rückkehr aus dem Wald hatten die Reisenden den dunklen Rauch über der fernen Stadt gesehen, und Barimov Kaskatan hatte beschlossen, nicht mehr dorthin zurückzufahren, sondern sich direkt auf den Weg nach dem Hafen Vaesternisse zu machen, wo er, Slinni und Slif ein Schiff nach Dawodaso zu finden hofften.

"Dann trennen sich hier unsere Wege. Ist nun mal mein Zuhause", hatte der Bratwurstverkäufer mit schiefem Grinsen erklärt und auf die Rauchwolken im Osten gedeutet. "Wo es räuchert, ist ein guter Ort, zumindest für Würste."

"Ho, Mann!", hatte Barn ihm zugerufen. "Halt mir eine warm!"

Der Bratwurstverkäufer hatte schmerzlich das Gesicht verzogen, einen kurzen Blick auf Slif geworfen, die extreme Akrobatik an einem Wagenrad betrieb, und dann genickt. "Sicher, Barn. Eine Wurst, ein Kupfer, kein Kredit."

Von Barimov Kaskatan spontan beschenkt mit dem dritten Wagen, den Ponys davor und den Vorräten darin, war er mit zusammengepressten Lippen der brennenden Stadt und einer ungewissen Zukunft entgegengefahren.

 

Den zweiten Wagen hatte Barimov Kaskatan drei Tage später in Bärenwohl, einem kleinen Dorf in der Nähe von Kleinwonnig, an eine Gruppe Wanderprediger des Ottwanz verkauft, denen zwar die farbenfrohe Lackierung missfallen hatte, die aber von der mürrischen Natur der Zugtiere entzückt gewesen waren.

"Der Herr spricht: Gelächter ist der Acker des Bösen!", hatten sie aus ihren Schriften zitiert, und zwei Goldähren hatten den Besitzer gewechselt.

 

*

 

"Da komm' Leute!", rief Slif vom Dach.

 

Die Leute kamen schnell näher. Es waren vier Reiter auf großen, eleganten Tieren, denen man ihre Herkunft aus den kaiserlichen Zuchtställen deutlich ansah. Die Zugponys fletschten beim Anblick so viel equiner Schönheit die gelben Zähne und wirkten, als dächten sie über eine Abkehr von rein pflanzlicher Kost nach.

 

"Ho! Fahrendes Volk!", rief der Anführer der Gruppe, ein großer, kräftiger Mann mit brutalen Gesichtszügen über der unverkennbaren Kleidung eines Pala-Priesters – graue Roben und grauer Umhang, darunter mattgrauer Stahl, auf der Brust des Panzers eingeätzt das Spatensymbol. Hinter ihm ritten zwei geringere Ausgaben seiner selbst, sowie eine zierliche Frau mit ätherischen Gesichtszügen, einer Eruption rotgoldenen Haars und sehr spitzen Ohren. Ihre Haut hatte die Farbe gebrannten Tons. Sie trug keine Rüstung, sondern so etwas wie eine blühende Trauerweide. Die Füße waren nackt und endeten nicht in Zehen, sondern in Hufen. Und das Geweih auf ihrer Stirn war sehr wahrscheinlich kein Schmuck.

"Eine Joiren", flüsterte Slinni.

"Eine was?", fragte Slif von oben, obwohl sie genau wusste, was eine Joiren war. Man wurde in der Gilde über Mitbewerber umfassend informiert – vor allem mit welchen, trotz allen exzellenten Trainings, man sich besser nicht anlegte.

"Halt dich zurück, kleine Schwester. Überlasse mir das Reden."

"Klar." Slif rollte sich auf dem Wagendach zusammen, und ein unaufmerksamer Beobachter hätte sie für ein Gepäckstück gehalten, so weiß und still war sie plötzlich.

 

Der Pala-Priester zügelte sein Pferd und stellte es quer über den Weg. Dann hob er eine Hand, als vermute er, seine Aktion wäre noch nicht deutlich genug.

"Anhalten!", bellte er schließlich, damit es selbst für fahrendes Volk verständlich wurde.

Slinni brachte den Wagen zum Stehen. Trotz ihres Berufs hielt sie sich für eine sanfte Person, die Gespräche der Gewalt vorzog. Zumindest bis zu einer gewissen Grenze.

Der Priester ließ seinen Hengst näher an den Kutschbock herantänzeln, wobei er darauf achtete, außer Beißweite der Ponys zu bleiben.

"Ihr kommt aus dem Westen", stellte er fest und musterte Slinni mit farblosen Augen. "Aus den Wäldern vielleicht?"

Den Barbaren ignorierte er.

Barn spannte die Oberarme und begann, leise zu knurren. Seine Erfahrungen mit dem Dienern des Pala waren ausnahmslos schlecht, und er wollte sie gerne zurückvermitteln. Slinni legte eine Hand auf seine.

"Wir sind nur Gewürzpflücker, Herr. Blutwurz, Hahnenpfeffer und Schweinklau haben wir geschnitten an den Rändern des Westwaldes", sprach sie mit klarer Stimme. "Sogar Beißende Zunge haben wir gefunden. Es war eine gute Ernte. Wir haben schon einen köstlichen Likör angesetzt. Wollt ihr etwas davon kaufen, Herr?"

Der Priester starrte sie mit seinen kalten Augen an.

"Red' keinen Unsinn, Weib. Antworten will ich! Was wisst ihr von einem Ort der Fäulnis auf einer Insel vor der Küste der verfluchten Wälder?"

Slinni senkte demütig den Kopf. "Nichts, Herr. Wir sind Gewürzpflücker. Solche Dinge gehen uns nichts an."

"Bist du sicher, Weib?" Er grinste freudlos. "Du siehst selbst aus wie ein Ding der Fäulnis, mit deiner weißen Fresse und den blassen Haaren. Aber hübsch genug bist du. Sollen wir deinen bleichen Leib mal auf Hexenmale untersuchen?"

"Es ist gut, Rektifikator." Die Joiren trieb ihr Pferd neben den Priester. "Wir haben eine Aufgabe. Bauernmädchen könnt ihr in eurer Freizeit foltern."

Der Priester presste die Lippen zusammen. Das Knirschen seiner Zähne war bis zum Kutschbock zu hören.

"Ja, Frau Aellin", stieß er schließlich hervor.

Er riss sein Pferd brutal am Zügel herum und drängte es so dicht am Wagen vorbei, dass Barn den vereinten schlechten Atem von Ross und Reiter riechen konnte.

Die zuschnappenden Ponys verfehlten das Paar leider alle.

Seine zwei Gefährten folgten ihm wie treue Hunde. Nur die Joiren blieb zurück. Die exotische Frau legte die Nase in Falten. Sog die Luft ein wie ein witterndes Raubtier.

"Gilde", stellte sie fest. "Ihr wart da."

Slinni nickte.

"Maralago Drumm?"

Slinni nickte ein weiteres Mal. "Tut uns allen einen Gefallen und haltet die drei Schwachköpfe aus dem Zimmer mit dem Kartentisch heraus", sagte sie.

"Kartentisch?"

"Kartentisch. Da ist ein Modell mit zwei Monden. Ihr werdet sehen. Lasst sie nichts anfassen – es könnte sehr schlecht ausgehen für das Reich, die Welt und den ganzen Rest. Und achtet auf aufdringliche Möwen."

Die Joiren verzog das Gesicht, wenig begeistert von der Auskunft. "Ich sehe, was ich tun kann."

Dann ritt auch sie davon.

 

Slif, die während der Begegnung auffällig zurückhaltend gewesen war, sprang vom Dach und landete präzise und nicht allzu sanft in Barns Schoß.

"Große Schwester, wir haben Geschichte gemacht!", rief sie, während der Nordmann um Atem rang. "Sogar Barn!"

Slinni seufzte nur.

"Was ist denn los?", kam es aus dem Wagen. "Ich habe Stimmen gehört. Warum haben wir angehalten, liebe Slinni? Ist es schon Zeit für das Abendessen?"

"Es ist nichts, Barimov. Schreib weiter."

Dann ließ sie die Zügel über den Ponys schnalzen und trieb sie nach Südwesten, in das goldene Zwielicht der beginnenden Dämmerung.

Hinter dem Wagen hoben sich die zwei Monde langsam über den Horizont, einander eng umkreisend wie ein frisch verliebtes Paar in einer Welt mit ungewisser Zukunft.

 

ENDE