Dionea

"Junger Mann! Junge! So bleib doch stehen, es ist nur zum Besten für dich an diesem Tag!"

Ein kurzer, dicker Mann in der zerschlissenen Kutte eines erfolglosen Wanderpredigers lief Barn schon eine ganze Weile hinterher und versuchte dessen Aufmerksamkeit mit wüsten Prophezeiungen des nahen Weltuntergangs zu gewinnen. Doch der hochgewachsene Abenteurer aus dem Norden hatte kein Interesse am Erwerb eines kleinen Anhängers zur Rettung seiner Seele für nur noch drei Kupfer.

Abgesehen davon, dass er nicht eine einzige Münze besaß, hatte er ein viel handfesteres Ziel als sein spirituelles Wohl: er wollte sich mit dem süßen Mädel treffen, das er vor nicht ganz einer halben Stunde bei einem Brunnen an der Landstraße kennengelernt hatte.

Es hatte da ein Versprechen eines gemeinsamen Nachmittags im hohen Gras gegeben, das er einzufordern gedachte.

Barn lächelte, als er an die Begegnung zurückdachte.

Das Mädel hatte gerade Wasser aus dem Brunnen in zwei Eimer geschöpft, als er, durstig vom Wandern, hinzugekommen war und seinen Kopf einfach in das Becken gesteckt hatte.

Nachdem er wieder aufgetaucht war, hatte das Mädel ihm einen seiner Eimer übergeschüttet. Angeblich, weil er so ein großer, ungehobelter Bursche sei und es mit seinem plötzlichen Erscheinen erschreckt habe.

Aber Barn hatte in den großen, grünen Augen gleich gesehen, dass er dem Mädel richtig gut gefiel. Was sicher auch daran lag, dass er sein Hemd wegen der Sommerhitze ausgezogen hatte und ein feiner Film aus Schweiß und Straßenstaub seine ohnehin schon prächtigen Muskeln auf sehr subtile Weise zusätzlich betonte. Doch auch Barn war angemessen begeistert gewesen von dem, was er sah, denn das Mädel hatte sich bei der Arbeit ziemlich nass gemacht, und sein kurzes, helles Kleid klebte wie eine zweite Haut an dem jungen, kräftigen Körper.

Beide hatten gescherzt, dann sich bespritzt und schließlich begonnen, einander zu schubsen; sicher wäre noch viel mehr passiert, wenn nicht ein alter, griesgrämiger Bauer mit einem Eselsfuhrwerk dazugekommen wäre. Das Mädel hatte mit hochrotem Kopf seine Eimer gepackt und war davongerannt, aber nicht, ohne dem Mann aus dem Norden vorher zuzuflüstern, dass es ihn zur Mittagszeit an der großen, alten Eiche am Waldrand treffen würde, keine zwanzig Wegminuten vom Brunnen entfernt, Richtung Westen. Dort im weichen Gras könne man wunderbar gemeinsam in den Himmel schauen.

 

In den Himmel schaute Barn schon jetzt, um den Sonnenstand zu prüfen. Es war noch nicht ganz Mittag, also hatte er noch etwas Zeit, die Eiche zu finden. Das war gut, denn er hatte nur eine vage Vorstellung, was eine Eiche war. So eine Art Baum, vermutete er.

Dann runzelte er die Stirn. Es sah aus, als wäre die Sonne kleiner geworden. Oder dunkler. Als schöbe sich eine Wolke vor die strahlende Scheibe, dabei war das Firmament leuchtend blau und völlig leer. Barn schüttelte den Kopf. Das konnte nicht sein. Wahrscheinlich hatte er von der Spritzerei am Brunnen immer noch Wasser in den Augen.

"Ja, siehe nur, es beginnt!", krähte eine Stimme neben ihm. "Finsternis! Die Hunde des Flabbergasst fressen die Sonne! Doch noch ist es nicht zu spät, du kannst dich retten!"

Der kurze, dicke Mann hatte Barn eingeholt. Jetzt schwenkte er eine schlampig geflochtene Schleife aus trockenen Grashalmen vor dem Gesicht des Nordmannes.

"Das heilige Band der Brotmutter wird dich sicher durch die Dunkelheit geleiten, mein Sohn! Nur vier Kupfer, und es gehört dir!"

Barn schnaubte verächtlich. Er kannte diese Burschen, die sich Heilige Männer nannten. Überall längs der Landstraßen lauerten sie, und sie waren allesamt Betrüger! Das wusste er, seit er im letzten Herbst einem angeblichen Priester des Duun einen geweihten Kieselstein abgekauft hatte, der bei Vollmond Wasser in Bier verwandeln sollte. Eine ganze Nacht hatte er frierend mit einem Krug Wasser im Wald verbracht, und war dabei noch von einem Werwolf angefallen worden. Am nächsten Morgen war das Wasser immer noch Wasser gewesen, allerdings mit ein paar ertrunkenen Käfern darin.

Er gab dem kleinen Dicken einen kräftigen Stoß und eilte davon. Die Flüche des heiligen Mannes brachten ein Grinsen auf Barns Gesicht, doch schon kurz darauf bereute er die vorschnelle Tat.

Vielleicht hätte der Alte ihm erklären können, wo diese gruunzverdammte Eiche zu finden war – danach hätte er ihn immer noch umwerfen können.

 

Aber nachdem er den nächsten Hügel erklommen hatte, sah er den Baum. Selbst ihm, dessen Kenntnis von Pflanzen sich darauf beschränkte, niemals Gemüse zu essen, war klar, dass das nur Die Alte Eiche sein konnte. Sie erhob sich inmitten einer wilden Wiese, majestätisch wie ein Waldgott aus dem Anfang der Zeit. Mindestens dreißig Meter hoch musste sie sein. Sie stand in voller Blüte.

Barn grinste und verließ die Straße. Ob das Mädel schon da war? Er konnte es nicht sehen, aber vielleicht hatte es sich im Gras versteckt und wartete, dass er kam, stolperte und auf es fiel?

Das wäre ein guter Anfang.

Er leckte sich die Lippen. Bei Gruunz, er würde mit dem Mädel solange in den Himmel schauen, bis es Sterne sah! Dazu musste es nicht einmal Nacht werden.

 

Während der Nordmann mit festem Schritt durch das hohe Gras eilte, kam ein leichter Wind auf. Barn spürte ihn kühl am erhitzten Oberkörper. Er hatte auch plötzlich das Gefühl, als würde es bald regnen, aber über ihm gab es immer noch keine einzige Wolke.

Trotzdem schien der Himmel dunkler zu werden. Barn suchte die Sonne, doch die wurde von der Eiche verdeckt. Vielleicht war das der Grund für die Dunkelheit, obwohl der Himmel sich auch hinter ihm verfinsterte, wo keine Eiche war.

Er blieb stehen und betrachtete den Baum.

Der war wirklich gewaltig, größer als so mancher Turm. Hier konnte sich eine ganze Horde von Mädels verstecken.

Oder vielleicht auch nicht, denn aus dem dichten Blattwerk drang das aggressive Summen von Insekten. Barn hatte unangenehme Erfahrungen mit Wespennestern gemacht, daher beschloss er, zunächst in einigem Abstand um den Baum herumzugehen.

Als er die Eiche einmal umrundet hatte – eine Menge mehr Schritte, als dem Nordmann Zahlen zur Verfügung standen, waren dafür nötig gewesen – wurde er ungeduldig und rief laut: "Ho, Mädel, bist du auch hier?"

Es gab keine Antwort, aber Barn glaubte, ein leises, weiches Kichern zu hören. Es kam aus dem Inneren des dichten Netzwerks aus Laub und Ästen, das die Eiche umgab.

Also wollte das Mädel tatsächlich Verstecken spielen! Barn grinste. Seine barbarische Natur liebte die Jagd, und auch wenn er beim Aufspüren und Erlegen von Wild eher ungeschickt war, hatte er doch bei Mädels nie Probleme gehabt – wenn das Mädel mitspielte, natürlich.

Seine Befürchtungen in Bezug auf die Insekten vergessend, schob er sich durch die untersten Äste.

Er betrat eine andere Welt. Eine Welt, erfüllt von grünem Dämmerlicht und dem tiefen, fast dröhnenden Rauschen der Blätter. Über dem staunenden Nordmann wölbte sich die Krone des Baumes wie die Kuppel eines Tempels, getragen von mächtigen Ästen, die von der ungeheuerlichen, dunklen Masse des Stammes wie Balken sternförmig nach außen liefen.

Für einen Moment war Barn von der tiefen Ehrfurcht durchdrungen, die er als Kind beim Anblick der gewaltigen Bergriesen seiner Heimat verspürt hatte – wenn die Gipfel im letzten Sonnenlicht aufglühten, während überall sonst schon Nacht herrschte.

Doch dann hörte er wieder das sanfte Kichern, und seine Demut machte bereitwillig einem anderen Gefühl Platz.

Mit zusammengekniffenen Augen spähte er durch das Halbdunkel; war nicht dort, direkt neben dem Stamm, ein schlanker, glatter Umriss, die schmale Silhouette eines Mädchens? Noch während er hinsah, verschwand die Gestalt, als wäre sie in den Baum hineingezogen worden.

Barn lief los. Der Boden unter seinen Füßen war weich, bedeckt von einer dicken Schicht alten Laubs. Ein würziger, fast betäubender Geruch stieg von den zerfallenden Blättern auf.

Das wäre auch ein gutes Bett, dachte der Nordmann. Aber dann schüttelte er den Kopf. Nein, lieber doch draußen, im Gras – hier war es ein bisschen unheimlich.

Schließlich hatte er den Stamm erreicht. Natürlich sah er keine Spur von dem Mädel, aber ein süßer Duft lag in der Luft, der ihn an Honigwein erinnerte.

Er tastete sich an der rauen Rinde entlang, denn es war erstaunlich dunkel dafür, dass draußen die Sonne im Mittag stand. Der Stamm war warm, wie ein großes Tier. Waren Bäume immer so warm? Er wusste es nicht, aber mit Holz konnte man ja Feuer machen, also war es wohl  so.

Aus dem Augenwinkel bemerkte er hinter sich eine Bewegung und fuhr herum. Kurz sah er einen Schatten, aber dann waren da nur noch Blätter und das Aroma von Honigwein. Bei Gruunz, war das Mädel flink!

Dann spürte er eine sanfte Berührung an der Schulter und hörte wieder das weiche Kichern. Mit den Reflexen eines Tigers drehte er sich und bekam einen festen, glatten Arm zu fassen. Zumindest fast. Denn was er in Wahrheit gepackt hielt, war ein dünner Ast. Barn grunzte. War der schon die ganze Zeit da gewesen?

Kichern. Etwas berührte ihn an der anderen Schulter, er wirbelte herum und sah wieder nur einen schmalen Ast. Jetzt wurde es dem Mann aus dem Norden doch ein wenig zu viel.

"Ho, Mädel, zeig dich!", rief er in nicht ganz freundlichem Ton.

"Du willst mich sehen?", wisperte eine Stimme. "Aber ich bin doch schon die ganze Zeit hier, du musst nur richtig hinschauen!"

Und tatsächlich erkannte Barn, dass das, was er für herabhängende Blätter gehalten hatte, ein Gesicht war, das Gesicht einer Frau mit hell blitzenden, grünen Augen. Darunter entdeckte er einen Körper. Und was für ein Körper! Heißes Verlangen schnürte ihm für einen Moment die Kehle zu. Solche Perfektion war ihm nur einmal begegnet, in Ybris der Strahlenden, der Hauptstadt des Großreiches Myr Mamon. Dort hatte er im Tempel der Vaxina stundenlang stocksteif vor der Statue der Liebesgöttin gestanden, bis die Stadtwache ihn schließlich weggetragen und wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses für drei Tage in einem Käfig ausgestellt hatte.

"Hallo, ich bin Holla...", hauchte die Erscheinung mit dem Körper einer Göttin.

"Ho... Mädel", war alles, was Barn herausbrachte. Etwas stimmte hier nicht, sagte ihm ein kleiner Rest seines Verstandes. Das Mädel am Brunnen war schon recht hübsch gewesen, aber nicht so. Auch hatte es eine helle Haut gehabt, keine braune, die aussah wie poliertes Holz. Außerdem waren auf seinem Kopf Haare gewesen, blonde, glatte Haare. Keine Blätter, durchwoben von bunten Blumen und Gras. Und war das ein kleines Geweih, was da aus der Stirn herauswuchs?

Dann verstummte Barns Verstand, wie immer, wenn kein Denken, sondern Handeln gefragt war. Und zum Handeln war der harte Mann aus dem Norden mehr als bereit.

Er streckte die Arme aus.

Ein ungeheures Seufzen durchfuhr die mächtige Eiche.

 

*

 

Dinka blickte mit zusammengepressten Lippen auf den geschundenen Körper, der vor ihr im Gras lag. Dann blickte sie auf zu den sanft schaukelnden Ästen der Eiche.

Sie war spät an den Treffpunkt gekommen, weil es wegen der fast leeren Eimer noch Ärger auf dem Hof gegeben hatte.  Und dann war auf dem Weg plötzlich Dunkelheit hereingebrochen. Aber die Verfinsterung der Sonne hatte keine Viertelstunde gedauert, außerdem hatte sie glücklicherweise auf der Straße einen alten Priester getroffen, der ihr für zehn Kupferstücke ein schützendes Amulett überlassen hatte.

So hatte sie keine Angst haben müssen, von dämonischen Kräften bedroht zu werden.

Was aber war dem attraktiven, jungen Kerl in der Zwischenzeit begegnet, das ihn so zugerichtet hatte? Sie erkannte ihn kaum wieder. Sein muskulöser Körper, der ihr so gefallen hatte, war voller Quetschungen, Gesicht, Arme und Schultern waren zerkratzt und blutig. War er in den Baum geklettert, um nach ihr Ausschau zu halten, und während der Finsternis gestürzt?

Aber warum lag dann so ein seliges Lächeln auf seinen Lippen?

"Das ist ein schöner, ein besonderer Baum hier", sagte jemand hinter ihrem Rücken. "Aber kein guter Ort während einer Sonnenfinsternis."

 Die junge Frau wandte sich um und lächelte erleichtert, als sie den alten Priester erkannte, der ihr das Amulett verkauft hatte.

"Ist das da dein Freund?" Der Priester zeigte auf den am Boden liegenden Mann.

Die Frau errötete. "Ich... kenne ihn kaum", sagte sie leise.

"Er ist ein Wilder, ein Unvernünftiger, der keine Hilfe annimmt, wenn man sie ihm anbietet. Und nun hat er einen höheren Preis bezahlt als die paar Kupfer, die sie ihn gekostet hätte. Aber", der Priester strahlte und holte einen kleinen Tontopf aus den Falten seines Gewandes, "glücklicherweise habe ich eine besondere Salbe bei mir, die ihn wieder auf die Beine bringen wird. Sie ist versetzt mit kostbarem rotem Pfeffer und kostet dich ausnahmsweise nur zwei Kupfer!"

Der Mann am Boden grunzte.

"Holla!", nuschelte er.