Frostvater

Barn hatte vergessen, wie kalt der Wind seiner Heimat war. Das musste er feststellen, während er langsam in die Berge stieg, die sein Land vom Rest der Menschheit trennten. Natürlich trug er Felle, die Besten, die man im Süden bekommen konnte, aber was einen Schafbock im Flachland behaglich durch den Winter bringen mochte, war hier in den Bergen nicht viel besser als die halbtransparente Seidenbluse einer engelsgesichtigen Adelstochter aus Dawodaso.

Auch schien es, als käme der Nordwinter früh dieses Jahr. Wolken lagerten dunkel, tief und schwer zwischen den Berggipfeln. Erste Schneeflocken wirbelten durch die Luft, getrieben von einem schneidenden Wind.

Dabei hatte im Rest der Welt der Herbst kaum begonnen – noch vor sieben Tagen hatte Barn in der Gemarkung Beutelsbach die Winzer bei bestem Wetter Reben schneiden gesehen, und die drallen Mädchen unter lautem Singen auf den Dorfplätzen rote Trauben treten; auch in den weiten Kiefernwäldern der Bärenmark nördlich davon war die Luft warm, harzig duftend und voll summender Bienen gewesen.

 

Doch als die kantigen Umrisse der Berge am Horizont aufgetaucht waren, war es mit jeder Wegstunde Richtung Norden kühler geworden, und schon in den Vorbergen hatte Barn die Felle aus seinem Rucksack geholt und angezogen.

Jetzt wanderte er zwischen den steinernen Riesen der eigentlichen Berge, und fühlte die Kälte wie scharfen Stahl auf seiner Haut. Der schmale Pfad, auf dem er ging, war schon glatt vom Eis.

Dennoch stieg Barn mit den gleichmäßigen, kraftsparenden Schritten eines erfahrenen Bergwanderers, seine Augen behielten Weg und Umgebung stets im Blick. Das war auch nötig – neben seiner rechten Schulter ragte eine Bergwand steil nach oben, wo in der Höhe Schneebretter drohten, und neben seinem linken Fuß fiel der Fels hunderte Meter lotrecht ab.

Er hielt kurz an, wischte sich die blonden Haare aus der Stirn und sah hinunter.

Dort unten jagte der Wind die Reste des Frühnebels aus dem Tal, und dort zog sich auch der Alte Ergerweg entlang, ein dunkles Band zwischen Felsen und Geröll.

Barn knirschte mit den Zähnen. Dass er hier oben gehen musste, und nicht dort unten, erfüllte ihn mit Wut.

Der Alte Ergerweg, gepflastert, nur allmählich ansteigend und windgeschützt zwischen Talwänden gelegen, war seit undenklichen Zeiten die Verbindung zwischen dem Norden und dem Rest der Welt. Durch das Gebirge, das Barns Leute die Steilen Zähne nannte, war er der bequemste und sicherste Weg. Aber nicht heute, zumindest nicht für Barn.

 

*

 

Barn war ein Norländer, ein Angehöriger des wilden und freien Volkes, das das gebirgige, kalte Land hinter den Steilen Zähnen bewohnte. Es war ein Land, in dem in der einen Hälfte des Jahres erbarmungsloser Winter herrschte, und in der anderen Hälfte ebenso erbarmungslose Raubtiere damit beschäftigt waren, sich eine Fettschicht für den nächsten Winter anzufressen. Irgendwo dazwischen versuchte die eingeborene Bevölkerung, ihre Existenz einzufügen.

Trotz dieser Umstände waren die Norländer nicht unglücklich mit ihrer Heimat, denn der Winter machte sie hart und zäh, und von den Tieren hatten sie gelernt, wie sie ein gutes Leben führen konnten, ohne allzu viel zu arbeiten: durch Raub.

Einmal im Jahr, zu Beginn des Herbstes, sammelten sich die waffenfähigen Frauen und Männer aller Stämme auf dem Gedingens – dem einzigen Ort im Norland, an dem Friedenspflicht herrschte – an der Nordseite der Steilen Zähne und wählten einen Kriegshäuptling. Und dieser Kriegshäuptling führte sie dann über die Berge, in den Süden – zur sogenannten Ernte.

Die hieß so, weil sie die Ernten anderer erntete.

 

Die Zeit der aktuellen Ernte stand kurz bevor. Das war selbstverständlich auch im Süden bekannt.

Daher hatte dieses Jahr ein Bündnis der Städte des Grenzlands – Brucken, Oberdreist, Hindelang und sogar das gemächliche Kleinwonnig – den Alten Ergerweg abgeriegelt. Hunderte von schwer bewaffneten Soldaten lagerten bei der Ruine der alten Grenzfestung Ouwslac, und Gruppen von zwanzig oder mehr Männern patrouillierten die Straße bei Tag und bei Nacht, bis hinauf zum Klödenpass. Alle tausend Schritt gab es befestigte Barrikaden und Signalfeuer.

Jeder, der auch nur entfernt wie ein Norländer wirkte, wurde aufgegriffen, auf hässliche Weise getötet, und die Überreste als Warnung ausgestellt.

Barn hatte die Pfähle mit blonden Köpfen und anderen, ebenfalls behaarten Teilen gerade noch rechtzeitig genug gesehen, um die Straße unbemerkt verlassen zu können und den alten Pfad zu nehmen.

Wie es schien, war der Raubzug von Kriegshäuptling Hauleif dem Schänder, der im letzten Herbst fast zweitausend beutegierige Bierserker über den Klödenpass geführt und mehr als zwei Dutzend Orte geplündert und niedergebrannt hatte, im Süden nicht als der positive wirtschaftliche Erfolg aufgenommen worden, als der er im Norland galt.

 

*

 

Ein Schatten? Barn hob jäh den Kopf, er glaubte, eine Bewegung über sich bemerkt zu haben. Aber da war nichts, außer den Bergen und den Wolken.

Vor ihm machte der Pfad eine Biegung nach rechts.

Der Norländer blieb stehen. Nebel aus dem Tal kroch hier einen Einschnitt in der Bergwand hinauf, und der Pfad führte mitten hinein in die schwere, graue Suppe. Das war nicht gut. Nebel auf kaltem Stein in dieser Höhe bedeutete Eis. Und Eis bedeutete Glätte. Und Glätte war nichts, man unter den Füßen haben wollte, wenn es eine Handbreit weiter links so tief hinunter ging, dass man mindestens zehnmal 'Gruunzverdammt!’ brüllen konnte, bevor man aufschlug.

Barn blickte in den Himmel und suchte die Sonne – vielleicht konnte er warten, bis sie hoch genug stand und den Nebel wegbrannte. Aber die Sonne kämpfte selbst mit den Wolken, die sie wie der ausgestreckte Arm eines verkaterten Gottes verdecken wollten. Ihre blassen Strahlen gaben nicht mehr Wärme ab als eine Silbermünze in der Kollekte eines Todeskults.

 

Eine einzelne Schneeflocke traf Barn im linken Auge. Er fluchte lautstark. Das war genau das Nordland, das er jahrelang nicht vermisst hatte! Weiter fluchend und blinzelnd trat er in den Nebel.

Es wurde dunkel um ihn. Dunkel und wirklich kalt.

Während er sich langsam vortastete, ging ihm wieder der Grund seiner Reise durch den Kopf – ungebeten, denn er war kein großer Denker, und er brauchte seine Aufmerksamkeit eigentlich für den Weg.

Der Grund war: Barn hatte Heimweh.

 

Er hatte seine kalte Heimat verlassen, als er fast noch ein Knabe gewesen war, und lange Zeit hatte er sie angesichts der unglaublichen Wunder einer scheinbar grenzenlosen Welt auch nicht vermisst. Er hatte sich auf seiner Wanderschaft durch die Länder des Südens mit jeder Menge harter Frauen und Männern, finsterer Zauberer, bestialischer Dämonen und einmal sogar mit einem gefallenen Gott geprügelt; hatte mit schönen und weniger schönen Mädchen und Frauen Heuhaufen, Wiesen, Waldböden und manchmal sogar Betten geteilt; war wohlhabend und bettelarm gewesen; war einmal auch zur See gefahren – auch wenn er sich als Kind der Berge nicht gern daran erinnerte.

Er hatte alles gehabt, und alles verloren, aber er war eigentlich immer zufrieden gewesen.

Doch dann hatte ihn, wie eine göttliche Hand, mitten auf einem staubigen Feldweg plötzlich der Wunsch gepackt, wieder in den Norden zu gehen, zu seinen Leuten, nach Täppenwinkel, seinem Dorf. Jede Nacht hatte er plötzlich von Starkbier und Eisbein geträumt, vom prasselnden Feuer im großen Kamin des Männerhauses, von den anerkennenden Schulterschlägen und den derben Scherzen der Krieger.

Aber vor allem war in diesen Träumen immer wieder ein Gesicht aufgetaucht: ein lächelndes, freundliches Gesicht unter einem wirren Schopf weißblonder Haare, mit einer kleinen Nase und viel zu vielen Sommersprossen. Skjörga. Das Mädel, das er geliebt hatte, das seine Frau hätte werden sollen.

Wenn er nicht gegangen wäre. Nun, hm, wenn er ehrlich war – wenn er sich nicht verlaufen hätte und irgendwie in den großen Süden geraten wäre, aus dem es gar nicht so leicht war, herauszufinden.

 

Jetzt wollte Barn Skjörga und seinen Platz im Norland wieder zurückgewinnen, er wollte ein Krieger unter Kriegern sein, vielleicht sogar Häuptling. Er hatte zwar keine große Vorstellung von den Aufgaben eines Häuptlings, vermutete aber, dass es viel damit zu tun hatte, auf einem Hügel zu stehen, eine große Waffe über dem Kopf zu schwenken und lauter zu brüllen als der Rest, möglichst vor dem dramatischen Hintergrund eines flammenden Sonnenaufgangs. Das Brüllen hatte er auf seiner Reise immer wieder geübt – einmal war sogar eine Herde Schafe in wilder Panik vor ihm geflohen.

 

Doch Barn wusste auch, dass er sich seinen Leuten erst beweisen musste, wenn sie ihn wieder aufnehmen sollten. Und das bedeutete, dass er Taten begehen musste, die es würdig waren, von den Skalden besungen zu werden.

Die beste Gelegenheit, vor den Augen aller Krieger des Nordens ein Held zu sein, war natürlich die Ernte, der große Raubzug.

In einer heruntergekommenen Taverne in Pichelmond hatte Barn einen alten Landsmann – Hraufgar den Schnorrer – getroffen, der ihm mit leuchtenden Augen und schwerer Stimme von dem gewaltigen Fest erzählt hatte, das Hauleif der Schänder letztes Jahr nach seiner Rückkehr veranstaltet hatte – in fünf Tagen waren mehr Schweinebraten gegessen, mehr Bier getrunken und mehr Geschenke verteilt worden als jemals zuvor im Norland. Und neun Monate später waren so viele Kinder geboren worden, dass die Goden dies zu einem Zeichen göttlicher Gunst erklären mussten, um größere Streitereien unter Eheleuten zu vermeiden.

Das hatte Hauleifs Namen in den Tälern des Nordens schon jetzt unsterblich werden lassen.

Solchen Ruhm wollte Barn auch. Und natürlich das Bier und die Schweinebraten.

 

Ein eisiger Windstoß riss ihn in die Gegenwart zurück. Der Nebel war in Aufruhr wie eine Herde Schafe, in die der Wolf fährt, er wurde gejagt und zerfetzt von plötzlichen Böen. Der Norländer hatte selbst Mühe, unter dem wilden Ansturm kalter Luft sein Gleichgewicht zu halten.

Er blieb stehen und drückte den Rücken an die Wand, in der Hoffnung, dass der Spuk bald vorbei wäre. Solche Winde waren nicht selten im Gebirge – sie stürzten wie Raubvögel heran, und genauso schnell waren sie auch wieder verschwunden.

Doch dann blies ihm der Wind diesen Geruch ins Gesicht, den Geruch, den er seit frühester Kindheit kannte und in all den Jahren im Süden nicht vergessen hatte – etwas bitter, wie eine Walnuss vom Vorjahr, mit einer leichten Beimischung von nassem Felsen und einem Schlag auf die Nase: der Geruch eines kommenden Schneesturms.

Barn fluchte leise.

Er erinnerte sich nicht nur an den Geruch, sondern auch an die Gewalt dieser Stürme. Besonders die der ersten Herbststürme. Da war nicht nur die Kraft des Windes – schon die reichte aus, einen erwachsenen Mann von den Füßen zu reißen und ein paar Schritte weit durch die Luft zu wirbeln. Diese Stürme trugen auch Wolken messerscharfer Eisscherben mit sich, die Haut und sogar festes Leder in Fetzen reißen konnten.

Wenn der Sturm ihn hier in der Wand erwischte, war das so sicher sein Ende, als hätte er den Gottkaiser von Myr Mamon in Gegenwart seiner gesamten Praetoren und Meuchler einen fetten, faulen Sack genannt. Er musste einen geschützten Ort finden, und zwar schnell.

Mit zusammengepressten Lippen sah er sich um.

Zurückgehen war sinnlos. Hinter ihm verlief der Weg mehrere Meilen direkt auf dem Grat eines schmalen Bergrückens, da gab es nicht einmal einen Spalt, in den er sich klemmen konnte.

Und vor ihm bog der Pfad nach rechts und verschwand hinter der Felswand.

Wenn er sich richtig erinnerte, führte er noch eine ganze Strecke an der Bergflanke entlang, bis er in eine Schlucht zwischen zwei Gipfeln mündete. Leider erinnerte er sich nicht daran, wie lang diese Strecke war.

Barn zuckte die mächtigen Schultern. Die Wahl zwischen eine schlechte Idee und todsicher eine schlechte Idee fiel ihm nicht schwer – er traf sie nicht. Er ging einfach weiter.

 

Noch waren die Schneeflocken groß, schwer und träge, aber sie würden bald kleiner werden, schneller, und scharf wie Glassplitter. Barn biss die Zähne zusammen. Natürlich geriet ein Nordmann nie in Panik, aber manchmal gab es Situationen, in denen auch ein kühnes Herz schneller schlug.

In der Ferne rollte erster Donner.

Als er die scharfe Kurve nach rechts erreicht hatte, sah er die ganze Seite des Berges vor sich. Er fluchte lange und herzhaft.

Denn der Pfad setzte sich nur als ein dünner Strich fort, kaum ein Kratzer in der meilenhohen Felswand. Völlig ungeschützt zog er sich mindestens zwei Meilen hin, bis er weit vorne den Einschnitt zwischen den Gipfeln erreichte. Barn kniff die Lider zusammen. Es war nicht sehr wahrscheinlich, dass er vor dem Sturm dort ankommen würde.

Ein Blitz zuckte und tauchte die ganze Welt in weißes Licht. Barn schloss reflexhaft die Augen, aber er glaubte, in dem kurzen Moment davor etwas gesehen zu haben. Mitten in der Wand. Tatsächlich war es sogar in dem Nachbild festgehalten, das hinter seinen geschlossenen Lidern brannte – ein grelles Inferno aus namenlosen Farben, doch mitten darin ein kleiner, heller Punkt. Ungeduldig wartete er, bis seine Augen wieder etwas anderes zeigten als nur bunte Flecken, dann suchte er nach der Stelle, auf die er zuletzt geblickt hatte.

Da! Da war neben dem Pfad ein Schatten in der Bergwand, kaum dunkler als der umgebende Fels. Ein Spalt, vielleicht sogar eine Höhle – obwohl er sich nicht erinnern konnte, längs des Weges je eine gesehen zu haben. Aber das war jetzt nebensächlich. Er schätzte die Entfernung auf etwa ein Vierteil einer Meile. Das konnte er schaffen!

Es schneite stärker. Er begann zu laufen.

 

Bissige Schneeflocken umtanzten ihn, und immer wieder wurden sie in Böen so dicht, dass er sein Ziel aus den Augen verlor. Schlimmer war noch, dass der Schnee sich auf dem Pfad zu sammeln begann. Zweimal war ihm ein Fuß weggerutscht, und beide Male hatte er sich nur knapp fangen können. Sein Herz raste, er war schweißnass, gleichzeitig halb erfroren.

Ein weiterer Blitz erhellte die Bergflanke, nach wenigen Herzschlägen folgte betäubender Donner, der in Dutzende von Echos zerbarst. Manche Goden sagten, dass der Donner das Gelächter der Götter war – aber war es aufmunterndes oder höhnisches Lachen? Barn rannte weiter, der Schnee spritzte von seinen Stiefelspitzen.

Es waren vielleicht noch zweihundert Schritte.

Nach einer Weile fiel ihm auf, dass der Donner kein Ende nahm. Er blickte nach oben. Da war eine gewaltige, weißgraue Wolke, viel näher als der Rest des Himmels. Er begriff nicht gleich, doch dann brüllte er vor Entsetzen: eine Lawine!

Der verfluchte Donner hatte einen Eissturz ausgelöst!

Erste feine Eisbrocken und Geröll prasselten bereits auf den Pfad.

 

Es war vorbei.

 

Es würde keine Rückkehr, keine Ernte und kein Wiedersehen mit Skjörga geben. Nur noch einen Sturz, und dann einen Platz an der Tafel der gefallenen Helden.

Aber der barbarische Instinkt, jener Katalysator, der bei einem Norländer Angst in Wut, und Wut in übermenschliche Kraft umwandelt – Ursache vieler Probleme, die Barn in der zivilisierten Welt gehabt hatte – hatte andere Pläne. Er übernahm. Eine tiefe Ruhe überkam Barn, er wurde zu einem Beobachter in seinem eigenen Körper. Und dieser Körper rannte und sprang mit dem Geschick einer Bergziege über den Pfad, wich den stürzenden Eismassen sicher aus und erreichte eine Geschwindigkeit, die einem denkenden Menschen unmöglich war.

Dann sah er vor sich das Ziel. Es war mehr als eine Höhle: drei dunkle Öffnungen, in der Mitte die größte, eckig wie eine Tür. Wie eine in den Berg gemeißelte Hausfassade. Ein kleiner Teil von Barn wunderte sich: er war hier als Kind und Jugendlicher ein paar Mal vorbeigekommen, aber nie waren ihm diese Öffnungen aufgefallen.

Mit einem ungeheuerlichen Laut, als knirsche das ganze Gebirge mit den Zähnen, brach jetzt die Hauptmasse der Lawine herunter, tonnenschwere Eisblöcke, die Jahrtausende friedlich unter dem Gipfel geruht hatten. Barns Körper sprang.

 

Er landete auf einem harten, mit Steintrümmern übersäten Boden. Er schlug sich Ellenbogen und Knie blutig und stieß sich den Schädel. Vollgepumpt mit dem roten Saft äußerster Erregung, bemerkte er das nicht einmal.

Draußen krachte und donnerte es ohrenbetäubend, der Fels bebte, während Eis, Geröll und Schnee in einem scheinbar endlosen Strom den Berg hinab rutschten.

 

Als alles vorbei war, war die folgende Stille genauso gewaltig wie der Lärm davor. Barn brauchte eine Weile, um den Unterschied festzustellen.

Mühsam stand er auf, sein Körper fühlte sich fremd an, wie totes Holz. Das war ihm unheimlich, also schüttelte er sich, ruderte mit den Armen und stampfte auf. Als nach und nach das Gefühl wiederkehrte, kam auch der Schmerz. Die überbeanspruchten Muskeln waren wie glühende Kohlenklumpen unter der Haut.

"Bei Gruunz!", stöhnte Barn.

"Nee, da bist du noch nich, min Jong!", kam eine tiefe Stimme aus dem Dunkel. Sie benutzte den breiten Dialekt von Barns Leuten, aber das hielt Barn nicht davon ab, trotz der Schmerzen eine kampfbereite Haltung einzunehmen und den Dolch zu ziehen.

Er versuchte, den Sprecher zu finden, aber seine Augen waren von dem Halbdunkel noch überfordert.

"Ho!", rief er und schwenkte blindlings den Dolch, den er in Hoffnung auf regelmäßige Nahrungsversorgung Schinkenschneider genannt hatte. "Wer spricht da? Zeig' dich, Mann!"

Ein amüsierter Laut antwortete ihm: "Ein Wanderer wie du bin ich, möcht' ich meinen, der hier drin Schutz sucht. Un' der viel zu müde is', um jetz' für dich aufzusteh'n. Steck' dein Messer weg un' setz' dich, wir werd'n hier wohl zusammen sein, bis der Sturm weitergezog'n is', da woll'n wir doch nich' mit Streit anfangen, hm?"

Barn runzelte die Stirn, vor allem wegen der Bezeichnung 'Messer' für seinen mächtigen Dolch, aber er senkte die Waffe.

"Ho! Ich bin der Barn aus Täppenwinkel, un' wer bist du?"

"Nenn mich Reimer, Barn aus Täppenwinkel, so nannten mich schon viele." Etwas raschelte in der Finsternis, dann glomm ein Funke auf, aus dem langsam eine Flamme wuchs. Barn sah ein von Falten durchzogenes Gesicht mit einem gewaltigen weißen Bart, aus dem eine lange Pfeife ragte. Der Mann zündete die Pfeife an, paffte eine dicke Wolke und nickte.

"Ah! Min Jong, du kannst übern Süden sagen, wassde willst, aber sie ham ein verdammt gutes Kraut da! Auch 'n Pfeifchen?"

Barn schüttelte den Kopf. Er hatte die Raucherei einmal ausprobiert, und ihm war davon so schlecht geworden, dass er ein gutes Abendessen und drei Liter Bier verloren hatte. Seit der Zeit war er überzeugt, dass man das Rauchen dem Feuer überlassen sollte.

Im Licht der Glut konnte er etwas von seiner Umgebung erkennen. Er befand sich in einem rechteckigen Raum, vielleicht fünf Schritte breit und zehn tief, kunstvoll aus dem Felsen gehauen und verziert, aber in erbärmlichem Zustand. Überall lagen Trümmer einer früheren Einrichtung herum, Teile der Decke waren schwarz, als habe ein Feuer gewütet, und es gab derbe Schmierereien an den Wänden. Einziger Zugang war die Türöffnung, durch die er gekommen war.

Der Mann, der Reimer genannt werden wollte, saß mit gekreuzten Beinen auf einem großen, rechteckigen Steinblock etwa in der Mitte des Raumes. Ein unförmiger Mantel verbarg das meiste seines Körpers. Er lächelte. Barn fiel auf, dass seine linke Augenhöhle leer war.

"Da hast du es ja gerade nochmal geschafft, dem Zorn des Berges zu entgehen, wie?"

Barn zuckte mit den Schultern. Er drehte sich um, trat zur Tür und blickte hinaus. Der Pfad war in der Richtung, aus der er gekommen war, begraben unter Eis und Geröll. Richtung Norden sah es besser aus, es lagen nur ein paar Brocken herum. Ein entschlossener, kräftiger Mann konnte sich dort einen Weg freimachen.

Er betrachtete den Himmel. Goldener Sonnenschein lag über allem. Es wirkte, als habe sich mit der Lawine auch der Sturm entladen – die Luft war still, es gab nur noch einzelne Schneeflocken, und die Wolkengebirge ruhten wie gesättigte Riesen auf den majestätisch leuchtenden Gipfeln.

Barn grunzte. Er erinnerte sich: manchmal war das im Norden so – erst gab es einen mächtigen Wind, und dann passierte gar nichts. Dieses Phänomen hatte auch die Kultur des Zweikampfes der Norländer geformt: die Herausforderer brüllten sich entsetzliche Drohungen zu, schlugen auf ihre Schilde und fuchtelten mit den Waffen, um dann in Gelächter auszubrechen und gemeinsam einen trinken zu gehen.

"Lass dich nich' täuschen!", rief Reimer von drinnen, als Barn sich anschickte, die Zuflucht zu verlassen. "Der Sturm holt nur kurz Luft, bevor er richtig loslegt."

Und tatsächlich wurde Barn in diesem Augenblick von einem gewaltigen Windstoß gepackt. Er stolperte zurück und musste sich am steinernen Türrahmen festhalten.

Reimer lachte gutmütig.

"Jo, min Jong, der Nordwind, der is' ein linker Bursche, der lässt dich hier nich' mehr so einfach 'raus!"

Barn brummte. Er blickte nach draußen, zu Sicherheit diesmal durch eines der Fenster – und sah dichtes Schneegestöber, wo gerade eben noch Sonnenschein gewesen war. Kopfschüttelnd wandte er sich ab, schlurfte nach hinten und ließ sich neben dem Steinblock auf dem Boden nieder.

"Ho, und jetz'?", fragte er Reimer.

Reimer lächelte, zog an seiner Pfeife, seufzte behaglich und sagte: "Jetzt warten wir ab, was sonst noch passiert."

 

Eine Weile passierte nicht viel, wenn man vom Lärm des Gewitters und den großzügigen Mengen von Schnee absah, die durch die Tür und die beiden Fenster hineinwehten. Der Rauch von Reimers Pfeife sammelte sich unter der Decke und bildete wirbelnde Muster, die sich manchmal fast zu Bildern fügten. Barn betrachtete sie und wurde davon schläfrig.

Plötzlich schreckte er hoch. Er hörte etwas – Geschrei? Ein Schatten verdunkelte das rechte Fenster, dann zeigte sich ein Umriss in der Tür. Barn sprang auf, und wieder war Schinkenschneider in seiner Faust.

"Hallo?", fragte eine helle Stimme. "Is' da wer drin?"

Barn ging in Angriffsstellung – die Knie tief gebeugt, den Dolch vorgestreckt. Neben ihm gluckste Reimer amüsiert.

"Nur zwei Nordmänner!", rief der alte Mann. "Kommt rein, Mädels, wir haben euch erwartet!"

 

Klirrend und klimpernd traten zwei Gestalten in die Kammer. Sie trugen Spangenhelme auf dem Kopf und zottige, bunt gefärbte Bärenfelle über den Schultern. Ihre Lederrüstungen waren mit Ketten aus Bärenzähnen, Silbermünzen und Glasperlen behängt. Beide hielten riesige Äxte.

Als Barn erkannte, was sie waren, knurrte er. Aber er steckte Schinkenschneider wieder weg.

Kampfmädels aus Eisbachtal!

 

Es war nicht so, dass Barn etwas gegen weibliche Krieger hatte – schon seit Jahrhunderten gingen die Frauen und Männer des Nordens gemeinsam auf Raubzug in den Süden, sie marschierten, kämpften und schliefen Seite an Seite. Was den meisten Frauen an körperlicher Kraft fehlte, das machten sie durch Wildheit und Geschick mehr als wett.

Aber ein ungeschriebenes Gesetz war, dass Frauen stets als Frauen kämpften. Man sollte den Unterschied sehen – das verwirrte nicht nur die Gegner, der bewegende Anblick einer wohlproportionierten jungen Axtschwingerin mit bloßem Oberkörper im Kampfrausch motivierte auch ihre männlichen Mitstreiter nicht unerheblich.

Die Frauen aus dem Dorf Eisbachtal verstießen gegen dieses Gesetz – sie rüsteten sich wie Männer, verbargen ihre Formen unter Panzern aus Leder, trugen Hosen, und manche banden sich vor einer Schlacht sogar die Haare wie einen Bart ins Gesicht!

Dafür konnte ein echter Mann wie Barn kein Verständnis haben.

 

Trotz Reimers freundlicher Einladung sahen sich die beiden Kriegerinnen mit erhobenen Äxten misstrauisch um. Besonders lange ruhten ihre Blicke auf Barn, der mürrisch zurückstarrte. Dann nickten sie einander zu, senkten die Waffen und nahmen ihre Helme ab.

Barns Augen weiteten sich leicht.

"Ich bin Nyani, Freddas Tochter, Axtschwester von Eisbachtal", stellte sich die erste förmlich vor und schüttelte ihre gewaltige Mähne kupferroten Haares aus. "Bei mir ist Mørkhar die Elternlose. Sie spricht nicht zu Männern."

"Außer bei besonderen Anlässen", fügte Mørkhar hinzu. "Und dies ist keiner."

Sie hatte lange, glatte Haare von der Farbe von Rabenfedern, messerscharfe Wangenknochen und unverschämte, hellblaue Augen, mit denen sie Barn kurz zuzwinkerte. Der presste die Lippen fest zusammen und blickte zu Boden. Hier ging es ums Prinzip. Für einen echten Nordmann waren Eisbachtaler Kampfmädels Objekte der Verachtung, nicht der Begierde.

"Ah, ich werde euch Feuerhaar und Rabenschwinge nennen, meine Schönen!", rief Reimer vergnügt. "Ihr dürft mich Honigzunge nennen!"

"Und ich bin Barn Halmschmied, Helmers Sohn, aus Täppenwinkel", sagte Barn knapp.

 

Nachdem der Höflichkeit damit Genüge getan war, herrschte ein längeres Schweigen, das nur von gelegentlichem Donner unterbrochen wurde. Jeder außer Reimer schien seine Stiefelspitzen oder Fingernägel für das Interessanteste zu halten, das es je zu sehen gegeben hatte.

Schließlich räusperte sich Nyani, gähnte demonstrativ und sagte: "Da wir eh nix tun könn', bis der Sturm vorbei is', werd' ich 'ne Runde schlafen."

Sie lehnte die Axt an eine Wand, warf das Bärenfell ab und begann, die Riemen ihres Brustpanzers zu lösen. Barn blickte aus dem Fenster. Draußen war es jetzt fast so dunkel wie in der Nacht, dabei konnte es noch nicht einmal Mittag sein.

"Aber Feuerhaar, meine Sonnenschöne, wie kannst du uns einfach allein lassen, wenn Rabenschwinge nich' mit uns spricht?", rief Reimer. "Wer soll uns denn die Zeit mit der Anmut ihrer Rede vertreiben?" Er lachte.

Nyani, die mit ihren Schmuckstücken kämpfte, verzog das Gesicht. "Ich will nich' respektlos erscheinen, alter Mann, aber ich bin seit zwei Tagen unterwegs, wir sind durchgefroren und eben auch noch fast verschüttet worden – mir is' nich' nach Anmut, ich bin müde." Sie wandte sich an Mørkhar: "Du legst dich besser auch hin, der Weg bis Ouwslac wird schwer."

"Ich bin nicht müde, Nyani."

"Mørk... ich will keinen Ärger, und du auch nicht!"

Mørkhar zuckte mit den Schultern.

Barn wandte den Blick vom Fenster ab.

"Ihr wollt nach Ouwslac? Das is' voller Südländer!"

Der Brustpanzer und die Ketten fielen klappernd zu Boden. Nyani stieß einen Seufzer der Erleichterung aus.

"Deswegen geh'n wir ja hin, Täppenwinkel - wir sin' Kundschafter." Sie beugte sich vor, um ihre klobigen Stiefel aufzuschnüren.

"Ihr zwei Mädels?" Barn schnaubte.

Nyani hielt inne. Langsam hob sie den Kopf und schenkte dem großen Nordmann einen verächtlichen, müden Blick.

"Hast du ein Problem mit Mädels, Täppenwinkel?"

Barn antwortete nicht. Er hatte tatsächlich ein Problem: Nyani. Als er ihr Gesicht zum ersten Mal gesehen hatte, war da etwas wie ein heißer Stich in die Brust gewesen. Sie hatte eine kleine Nase mit viel zu vielen Sommersprossen, große Augen von der Farbe von Libellenflügeln im Sonnenlicht, und auch ihre Stimme mit dem leichten Lispeln erinnerte ihn an Skjörga. Das machte ihm zu schaffen, und das wiederum machte ihn aggressiv.

Reimer räusperte sich in das immer schwerer wiegende Schweigen. "Freund Barn hier kommt aussem Süden, er hat Ouwslac gesehen. Er wird euch später alles darüber erzähl'n, stimmt's nich', Barn?"

Barn nickte. "Ho, sicher, Alter!"

Nyani breitete ihren Bärenpelz auf dem Boden aus und wickelte sich hinein. "Gut also. Komm' mir nich' zu nahe, Täppenwinkel, dann bleibt hier alles friedlich", sagte sie, drehte sich weg und zog das Fell über den Kopf. Barn zuckte mit den Schultern. Vielleicht sollte er sich auch hinlegen und schlafen, bis der Sturm vorüber war. Dann würden alle ihrer Wege gehen, und sein Leben konnte wieder seinem Plan folgen.

 

Er starrte lange an die Wand, auf der hinter Ruß und Dreck die Reste von Malerei zu erkennen waren: eine Gruppe von Kriegern, die von einem großen Mann angeführt wurde. Über dem Mann zeigte die Rune der Kraft, dass es sich wohl um einen Gott handelte. Gruunz wahrscheinlich.

"Draußen is' was!", rief Mørkhar. Sie stand bei der Tür und blickte hinaus. Ihre schwarzen Haare wehten unheilvoll im Wind. Barn ging zu ihr. Sie war groß, stellte er fest. Aber er überragte sie trotzdem um mehr als einen Kopf. Das gefiel ihm an Frauen.

"Ho, was denn, Mädel?"

"Irgendwas is' vorbeigeflogen, direkt vor der Tür! Was Großes!"

"Mädel, hier fliegt gar nix, außer Eis un' Schnee."

Draußen tobte der Sturm mit voller Kraft. Der Schnee trieb so dicht, dass er aussah wie Gischt in einem waagrechten Wasserfall. Kein Vogel konnte sich bei so einem Wetter in der Luft halten.

Trotzdem blieb Barn noch eine Weile stehen und starrte hinaus. Er hatte plötzlich das Gefühl, als wäre die Welt hinter dem Vorhang aus Schnee nicht mehr die gleiche wie die, aus der er hierhergekommen war. Und dann sah er tatsächlich etwas - ein riesiger, schwarzer Schatten schoss vor ihm vorbei.

Eine Eisplatte, die sich vom Gipfel gelöst hatte, vielleicht. Aber seit wann flogen Eisbrocken solcher Größe von unten nach oben?

Er stieß gegen Mørkhar, oder sie gegen ihn. "Mir is' kalt", flüsterte sie. Ihr warmer, würzig riechender Atem streifte sein Ohr. Barn wandte sich hastig ab und ging zu Reimer.

"Alter, da draußen is' wirklich was, ich hab's auch gesehen!"

 

Reimer sog an seiner Pfeife und runzelte die Stirn: die Pfeife war ausgegangen. Er legte sie neben sich und faltete die Hände.

"Dann ist es bald soweit. Kommt zu mir, und hört zu."

Barn blickte ihn verwirrt an, dann nickte er und stellte sich neben den Steinblock, um sowohl Reimer als auch die Tür im Blick zu behalten. Mørkhar stellte sich zu ihm, so dicht, dass er über einem Gemisch aus Öl, Leder, Schweiß und Fisch wieder ihren süßen Atem riechen konnte. Und er verstand endlich.

Jerkwurz! Mørkhar kaute Jerkwurz!

Eine Pflanze, die gegen Schmerzen, Kälte und Müdigkeit helfen konnte, im Übermaß aber zu unkontrollierbarer Raserei und schließlich zu völliger Idiotie führte. Der Saft der Rübe wurde in kleinen Mengen dem heiligen Bier beigemischt, das die Krieger vor einer Schlacht tranken, um sich in den Bierserkergang genannten Kampfrausch zu versetzen. Aber wer die Wurzel roh kaute, galt als von den Göttern verlassen.

 

Es wurde jäh dunkler in der kleinen Kammer – Reimer richtete sich auf seinem Stein auf, und Barn erschrak, als er erkannte, wie gewaltig der Mann unter seinem formlosen Mantel sein musste.

"Kinners, es sin' finstere Zeiten", begann Reimer mit tiefer, eindringlicher Stimme. "Ich wandere seit langer Zeit durch die Berge des Nordens, ich kenne ihre Geheimnisse, ihre dunklen Orte, die kalten und verzweifelten Geister, die dort umgehen. Ich habe mit den Frostriesen gerungen und den Fylgjur beigewohnt, ich habe den abscheulichen Schneemann bezwungen und seine hundert Weiber geschwängert; und mehr als einmal habe ich die Sterne auf ihren eisigen Sitzen über der Welt besucht, um Zwiesprache zu halten. Aber ich werde alt, und meine Kräfte schwinden."

Barn holte ehrfürchtig Luft. Ho, der Alte war gut, großartig sogar! Was er da von sich gab, konnte mit den Liedern der besten Skalden mithalten, und er schien noch nicht einmal betrunken! Neben ihm kicherte Mørkhar leise; sie lehnte ihren Kopf gegen Barns Schulter und legte eine Hand auf seinen Oberschenkel.

Für einen Augenblick rückte das Bedrohliche der Situation in den Hintergrund, und Barn fühlte sich wie der kleine Junge, der zum ersten Mal seinen Vater ins Männerhaus begleiten durfte, um dort mit weiten Augen den Prahlereien der Krieger zu lauschen und den Schankmädels in den Ausschnitt zu schielen.

Reimers Schatten wuchs, obwohl nicht klar war, welches Licht ihn warf.

"Alt! Ich beginne, den Biss der Mittwinterkälte zu fühlen, und wenn ich auf die Gipfel steige, höre ich das Schlagen meines Herzens schneller werden. Bei den Frauen steht mein Sinn nur noch nach dem Tropfen süßen Mets, der ihre Worte sind, wo ich früher die runden Krüge ihrer Körper bis zur Neige trank! Und mit dem Auge, das immer stets das Rechte sah, seh' ich nur noch Dunkelheit."

Reimer senkte das gewaltige Haupt, und für eine Weile sahen Mørkhar und Barn nur das schmierige Weiß seines Scheitels und die schuppig-rote kahle Stelle in der Mitte.

Dann riss der Mann den Kopf wieder hoch, und sein Auge blitzte.

"Und das grausigste Gespenst von allen, das verfolgt mich jetzt!", rief er laut und dröhnend, als wären seine Worte nicht nur an die Menschen in der Felskammer gerichtet.

Ein grellbunt gefärbtes Bärenfell flog aus der Ecke, in der Nyani lag, und die Kriegerin sprang wütend auf: "Scheiße! Kann ich hier keine zwei Herzschläge lang liegen, ohne dass irgendjemand durchdreht?"

Schwer atmend, mit geballten Fäusten, stand sie im Raum, in einem fleckigen Wollkittel, der verrutscht war und eine tätowierte Schulter entblößte.

"Mørk!" Ihre Stimme überschlug sich fast, als sie ihre Begleiterin neben Barn sah, aber nicht deren Hände, die unter Barns Bocksfell verschwunden waren. "Auf der Stelle kommst du hierher! Das war deine letzte Chance, jetz' bist du raus!"

Mørkhar lächelte sanft und etwas leer. "Wir ham nix gemacht. Mir war nur kalt, un' ich wollt' nich' allein sein, wegen der Dinger da draußen."

"Dinger da draußen!", kreischte Nyani. "Dinger da draußen! Du denkst doch nur an sein Ding da drin!" Sie zeigte auf Barn, dem jetzt leicht das Blut in die Wangen stieg.

In diesem Augenblick explodierte ein gleißendes Licht durch Fenster und Tür in den Raum. Ein ungeheurer Donner erschütterte die Kammer, den Berg, vielleicht die ganze Welt.

Nyani riss es von den Füßen, Barn und Mørkhar taumelten übereinander, nur Reimer blieb ungerührt sitzen.

"Er is' da", sprach er in die folgende Stille.

 

Benommen stemmte Barn sich hoch. Etwas lag auf ihm, er verschob seine Schultern, und Mørkhar rutschte neben ihm zu Boden. Ihr Haar war staubig, sie blutete aus einem Schnitt auf dem rechten Wangenknochen, aber sie kicherte. "Das war ja was…"

Blau gefärbter Speichel lief aus ihrem Mund.

"Was war das?", rief Nyani. Barn wandte den Kopf. Sie lag auf dem Rücken, und ihr Kittel hing in ihrer Taille. Barn sah die ganze Länge ihrer muskulösen Beine, eine Narbe auf der Innenseite des linken Oberschenkels und eine auffällige Tätowierung an einer interessanten Stelle etwas weiter oben. Er grinste breit und bekam dafür einen mit viel Kraft geführten Fuß ins Gesicht.

"Du willst ein Krieger sein?", keifte Nyani und zog den Kittel herunter. "Du bist ein großes Kind, sonst nix!"

Wieder brandete eine Lichtflut herein, und wieder wurde der Berg erschüttert. Die Kammer dröhnte wie ein Schild unter dem Schlag eines Kriegshammers. Nyani kroch zu ihrer Axt, Barn mühte sich, an sein Schwert zu kommen, und Mørkhar schob sich ein weiteres Stück Jerkwurz zwischen die Lippen.

"Alter, was is' das?", schrie Nyani. "Du weißt es doch, oder?"

"Ach, Kinners", seufzte Reimer. "Das is'... aber wartet, ich war noch nich' fertig mit meiner Geschichte."

"Ich will wissen, was da draußen ist", sagte Nyani scharf. Sie machte einen Schritt auf die Tür zu.

"Lass das mal besser, Feuerhaar."

"Ich will es sehen!"

"Nein. Das. Willst. Du. Nicht." Die Stimme des alten Mannes schien Nyani zu treffen wie eine Keule. Sie taumelte, die Axt fiel ihr aus der Hand, dann sackte sie in die Knie.

"Schön." Reimer lächelte, seine großen Zähne glänzten wie weißes Metall in seinem Bart. "Jetz' hört her."

Er breitete die Arme aus.

"Als ich jung war, war die Welt klein, und alles in ihr war mein Eigentum. Diese Kammer hier war meine Wohnung, ich schlug sie mit den Fäusten aus dem Stein. Ich war frei, und ich jagte und kämpfte, und bei der Jagd und im Kampf gab es keinen, der mir gleich war. Und ich war auch freier als alle anderen. Andere, kleinere als ich, kamen zu mir, um von mir zu lernen. Ich zeigte ihnen, wie ich schneller lief als der Hirsch, stärker war als der Bär, und mein Biss kräftiger als der des Wolfs."

Reimer seufzte.

"Aber sie lernten es nicht. Ich zeigte es wieder und wieder, sie konnten es nicht. Ich wurde zornig, denn sie nahmen mir die Zeit, zu jagen, zu kämpfen und frei zu sein. Ich vertrieb sie, tötete wohl manchen, und benahm mich wirklich ekelhaft. Jetzt würden sie mich in Ruhe lassen, dachte ich."

Er fummelte an seiner Pfeife.

"Doch sie kamen immer noch. Etwas hatten sie gelernt: sie konnten nicht so sein wie ich, aber es genügte ihnen, dass ich war wie ich. Jetzt kamen sie mit Bitten. Ich sollte das tun, was sie nicht konnten oder wollten: töte den Troll, zerschmettere den Fels, trink den See leer, pflüg meinen Acker. Sie brachten Geschenke. Ich erfüllte ihre Bitten, damit sie mich in Frieden ließen."

Reimer grinste.

"Es machte sogar Spaß. Als ich mit allem fertig war, war eine Zeit lang Ruhe. Doch dann kamen sie mit mehr Geschenken, und mehr Bitten: segne mein Haus, mach meine Frau fruchtbar, vergrößere meine Herde, sorg' dafür, dass mein Mann sicher heimkommt. Sieh' zu, dass die Schlampe sich den Hals bricht."

Er verdrehte sein Auge.

"Das war zu viel. Ich verließ meine Wohnung, um mir andere Gesellschaft zu suchen. Ich stellte fest, dass die Welt viel größer war, als ich gedacht hatte, und dass es andere gab, die mir ähnlicher waren als die Menschen. Ich hatte eine Menge Spaß, und eine Menge wunderbaren Ärger."

Barn wurde unruhig. Er wusste nicht, wohin das Gerede führen sollte, und immer noch bebte der Berg, immer noch zuckte der Blitz. Er sah sich nach Nyani um. Sie kauerte immer noch am Boden, ihre Augen waren leer. Und Mørkhar war wieder zu ihm gerutscht und fingerte zaghaft an seinem Bocksfell.

Er blickte zur Tür. Was immer von dort kommen mochte, sie hatten ihm wenig entgegenzusetzen.

Der alte Mann fuhr ungerührt fort.

"Als ich einmal hierher zurückkehrte, sah ich, dass die Menschen nicht untätig gewesen waren. Sie hatten die Wände bemalt, den Raum geschmückt – und sie hatten diesen Stein hier aufgestellt."

Reimer klopfte mit dem Kopf seiner Pfeife auf seine Sitzgelegenheit.

"Der Stein war voller Dinge – da waren Figuren aus Holz, Lehm oder Knochen, Bilder, auf Häute gemalt, bunte Stoffstücke und anderer Kram. Nach einer Weile begriff ich: da ich nicht mehr da war, um sie zu hören, hatten sie ihren Bitten eine Form gegeben. Die Figuren und Bilder waren Beschreibungen dessen, was sie von mir wollten. Und hinter dem Stein stapelten sich Geschenke."

Er rümpfte die Nase. Dann lächelte er.

"Das meiste konnte ich nicht brauchen, aber es gab eine neue Art von scharfem Met – viel stärker als das alte Zeug – die mir zusagte. Ich trank eine Menge davon, und beschloss dann, ein paar von den Sachen zu machen, die die Menschen sich gewünscht hatten. Die Sachen, die ich verstand. So ging das eine lange Zeit. Im Winter und Frühjahr lag ich bei den Frauen, im Sommer jagte ich, im Herbst kam ich hierher, trank und erfüllte Wünsche."

Reimer seufzte und blickte zur Tür. Barn tat es ihm nach. Bewegte sich draußen nicht etwas?

"Es war keine schlechte Zeit. Doch irgendwann merkte ich, dass der Stein nicht mehr so voll war, und es auch weniger Geschenke gab. Und eines Tages wartete dann dieser Bursche in meiner Kammer!"

Der alte Mann ballte die Fäuste.

"Er hatte all den scharfen Met geleert, und er war ziemlich betrunken. Er sagte, sein Name sei Gruunz, und er sei mein Sohn."

Reimer lächelte.

"Das mochte ich nicht bestreiten, denn wahrscheinlich habe ich mehr Kinder gezeugt als ich Haare auf dem Kopf habe. Aber dieser Kerl sagte, er wäre jetzt der, dem die Menschen hier ihre Wünsche schickten, und ich hätte meinen Teil getan und sollte mich ausruhen. Ausruhen, ich!"

Seine rechte Faust krachte mit solcher Gewalt auf den Stein, dass der Block einen Riss bekam.

"Ich schlug hier alles kurz und klein, aber er lachte nur, und sagte, er kenne einen guten Ort, an den ich gehen könne, und wenn wir uns das nächste Mal sähen, würde er mich hinbringen. Dann ging er."

Reimer blickte zur Tür.

"Seit diesem Tag wanderte ich durch die Welt. Ich mied die alten Orte, um niemandem zu begegnen, und blieb nie lang am selben Fleck. Aber das war kein Leben für mich. Ich musste eine Entscheidung treffen. Also habe ich lange nachgedacht, und schließlich bin ich zurückgekommen und habe noch einmal nach meinem Volk gerufen. Ihr drei habt den Ruf gehört. Und der da draußen natürlich."

Barn runzelte die Stirn. Er war sicher, dass ihn niemand gerufen hatte. Er war aus eigenem Antrieb hier. Nun ja, fast – in diese Kammer hatte ihn die Not gezwungen, aber sicher kein Ruf.

Reimer hob eine Hand.

"Meine Kinder, ich habe Fragen an euch – ihr wisst, wer dort draußen auf mich wartet?"

Barn öffnete den Mund und schloss ihn wieder, als ihm auffiel, dass er keine Ahnung hatte, was er sagen sollte. Mørkhar kicherte nur. Es war Nyani, die antwortete.

"Wir sollen glauben, dass es Gruunz ist?"

Reimer nickte.

"Und wisst ihr, warum ihr hier seid?" fragte er weiter.

Schweigen.

"Ihr seid Menschen, aber jeder von euch trägt etwas von mir in sich. Feuerhaar", er zeigte auf Nyani, "ist meine Klugheit und mein Wissen, aber auch meine Sorgen. Du, mein Junge", sein Finger schwenkte zu Barn, "bist Kraft, Wildheit und Unvernunft. Und die süße Rabenschwinge", er machte eine delikate Pause und lächelte schief, "ist meine dunkle Seite. Ihr seid die letzten Kinder von Kindern von Kindern von mir, in denen noch etwas von meinem Blut fließt. Deswegen seid ihr gekommen. Ihr allein könnt die Antwort auf meine letzte Frage wissen."

Der alte Mann hob die Brauen, als er fragte: "Wie ist mein richtiger Name?"

Barn starrte ihn verwirrt an. "Du heißt gar nich' Reimer?", stieß er hervor.

Der Mann auf dem Stein legte eine Hand an die Stirn und schloss sein Auge.

"Nich' wirklich. Es is' ein Beiname, ein Epitheton, wie meine Freunde im Süden sagen. Man hat mir'n Haufen davon gegeben.", brummte er. Er holte tief Luft. "Rabenschwinge, weißt du es?"

Mørkhar zuckte mit den Schultern. "Ich kann dir nich' helfen, alter Mann. Ich vergess' immer alles sofort wieder." Sie kicherte.

Die Gestalt auf dem Block schien ein wenig kleiner zu werden. Der weißhaarige Kopf hob sich nur mit Anstrengung. Ein rotgeädertes Auge blickte auf Nyani.

"Aber du, Feuerhaar, Wissensbrand, du weißt es sicher! Mein richtiger Name? Der, den früher alle kannten? Den sie riefen in ihrer Not, oder in ihrer Freude? Oder wann immer es sonst ihnen einfiel?"

Nyani erwiderte den Blick nicht, sie sah zu Boden, auf die Trümmer und den Dreck.

"Du bist…", begann sie leise.

"Sag es! Sag den Namen!", forderte der Mann.

Nyani sprang auf.

"Du bist ein alter Spinner, der Märchen erzählt, genau wie alle anderen alten Säcke, die wichtig tun und Lügengeschichten über ihr bedeutungsloses Leben verbreiten, um damit ihre Angst vor dem Tod zu übertönen!", brach es aus ihr heraus. "Ich glaube nichts von dem, was du gesagt hast. Wenn du einen Namen brauchst, nenne ich dich Silberzunge!"

Der Mann sah sie schweigend an, dann senkte er den Kopf. Für einen langen Augenblick schien auf dem Steinblock nur ein lebloser Haufen aus wirren Haaren und faltigem Stoff zu liegen. Dann begann der Haufen zu zucken, und ein Laut wie ein heiseres Schluchzen drang aus seinen Tiefen. Er wurde lauter und lauter, um schließlich zu einem dröhnenden Lachen zu explodieren. Der Raum vibrierte.

Reimer, oder wie immer er sonst hieß, richtete sich auf und brüllte sein Gelächter in die Welt. Tränen liefen ihm über das faltige, hochrote Gesicht, und er schlug sich immer wieder auf die Schenkel.

"Feuerhaar, Zornesflamme!", prustete er hervor. "Wenn ich nur ein Weltalter jünger wäre, würde ich dich hier auf der Stelle zu meinem Weib machen! Silberzunge! So hat mich noch keine genannt! Ich muss wahrhaft alt geworden sein."

Für eine lange Zeit wurde sein Körper von Eruptionen entsetzlichster Heiterkeit erschüttert. Nur langsam beruhigte er sich. Schließlich wischte er sich die Augen, atmete tief und fragte: "Ihr wisst also wirklich nicht, wer ich bin? Selbst ihr habt mich vergessen?"

Barn sah ihn nur hilflos an. Mørkhar hatte das Interesse an Barns Bocksfell verloren, sie spielte mit den Perlen an ihrer Rüstung und beachtete den alten Mann nicht. Wieder war es Nyani, die etwas sagte.

"Ich weiß nich', wer oder was du bist, und ich hab' auch keine Lust, das Spiel weiter zu spielen, falls es ein Spiel ist. Wahrscheinlich bist du nur ein verwirrter alter Mann, der in seinem Leben einen Schlag zu viel auf den Kopf bekommen hat. Mir ist aber auch in den Sinn gekommen, dass du ein Spion der Südländer sein könntest, der uns hier aufhalten soll, bis die Soldaten kommen. Was auch immer es ist, sobald der Sturm vorbei ist, wirst du mit uns mitkommen zum Gedingens, und Zeugnis ablegen."

Der Mann lächelte milde und schüttelte seinen großen Kopf. Er drehte sich auf dem Stein und beugte den Oberkörper, um etwas hinter dem Block aufzuheben.

Als er wieder hochkam, hielt er einen gewaltigen Speer, den er auf die drei Norländer richtet.

Die reagierten mit der Geschwindigkeit, die ihnen das Leben in ihrer unbarmherzigen Heimat seit früher Jugend aufgezwungen hatte.

Barn rollte sich nach hinten über eine Schulter ab und sprang auf, während er sein gewaltiges Schwert Windmacher aus der Hülle auf seinem Rücken riss, Nyani war flink wie eine Katze bei ihrer Axt, und was Mørkhar tat, war das Unglaublichste, was bisher in diesem Raum passiert war. Was es genau war, konnte Barn nicht feststellen, ihre Bewegungen waren so schnell, dass selbst seine geübten Augen nicht folgen konnten. In einem Augenblick saß sie noch träge am Boden, im nächsten stand sie hinter dem alten Mann auf dem Block und hielt ihm zwei Messer an die Schläfen.

Der Alte schien nicht im Geringsten beeindruckt. Er neigte den Kopf kurz nach vorne und sagte leise: "Verzeih' mir, Rabenschwinge." Der Speer verschwamm, und Mørkhar kippte mit einem Schmerzensschrei nach hinten.

Dann schwang er seine Beine nach vorne, warf den Umhang ab und stand auf.

Barns Finger verkrampften sich um den Schwertgriff. Verflucht, war der Bursche groß! Eine solche Ausstrahlung urgewaltiger Kraft ging von dem Körper des Mannes aus, dass er sich wie ein Kind neben einem Riesen fühlte.

Er hörte, wie Nyani hinter ihm scharf die Luft ausstieß. Wahrscheinlich bezweifelte sie – genau wie er selbst – dass ein Kampf mit diesem Mann zu etwas Gutem führen würde. Er überragte Barn um mindestens zwei Köpfe, und seine Arme waren dicker als dessen Oberschenkel.

"Kinners", sagte der Alte freundlich, "wir hatten eine lehrreiche Zeit miteinander. Ich will euch nich' wehtun, aber seid sicher, dass der alte Wabbler hier", er schüttelte den Speer, dessen schwertartige Spitze bis unter die Decke ragte, "nie sein Ziel verfehlt. Ich hab' mich selbst schon mal damit gepiekt, un' es is' kein Spaß, ihn in den Rippen zu haben. Vor allem, wenn man dabei noch inner Esche hängt."

Er nickte Barn zu und zwinkerte. Zu Nyani sagte er: "Ich habe gehört, was ich hören wollte. Ich werde jetzt gehen. Mach nix Dummes."

Die Kriegerin entblößte die Zähne wie eine in die Enge getriebene Katze. Die Axt in ihren Händen zitterte.

Mit ruhigen, langsamen Schritten ging der alte Mann zwischen Barn und Nyani hindurch. Sein Auge war auf die Tür gerichtet, sein Gesicht trug einen Ausdruck entspannter Erwartung.

Barn blickte Nyani an, doch die schüttelte kaum merklich den Kopf.

Der Mann trat in die Tür und wurde zu einem beeindruckenden Umriss vor dem bleichen Licht des Schneesturms. Er hob die Arme und nahm den Speer mit beiden Händen über den Kopf.

Was dann geschah, war etwas, von dem Barn sofort wusste, dass er es gerne gleich wieder vergessen würde. Es waren nur wenige Augenblicke, in denen alles passierte, aber sie brannten sich in sein Gedächtnis wie ein glühendes Eisen in die Haut.

Der Alte brüllte wie rollender Donner. Als Antwort zuckten von überall gleißende Entladungen auf ihn herab. Eine blendende Aura schien den Mann einzuhüllen. Für einen Moment erhellte sie das ganze Rund der der Berge, bis zu den entferntesten Gipfeln - und alles, was dazwischen war.

Der Mann drehte sich triumphierend um. Bart und Haare standen in Flammen, aus seinem Auge strahlte reines, weißes Licht. Er öffnete die Lippen.

"Frei! Tatsächlich frei!", rief er, und das Echo seiner Stimme hallte von dem Himmel wider.

Da traf ihn ein Messer mitten in die Brust. Barn hörte Mørkhars Triumphschrei hinter sich.

Das Licht um den Körper des Mannes flackerte, und seine gewaltige Gestalt taumelte. Der Speer fiel aus seinen Händen. Sein Gesicht zeigte einen Ausdruck milder Verwunderung. Dann kippte er nach hinten und war verschwunden.

Der folgende Donner war wie der hallende Schrei von myriaden Stimmen in einem Gewölbe, größer als die Welt. Er krachte mit körperlicher Wucht gegen den Berg und zerschmetterte die Front der Kammer, als sei sie morsches Holz.

Nyani warf sich zu Boden, Barn wurde in einem Regen aus Trümmern und Schnee gegen eine Wand geschleudert. Als letztes sah er hunderte gewaltige Schwingenpaare in wildem Aufruhr, dann umgab ihn schwere Dunkelheit.

 

*

 

Barn erwachte mit einem Schädel, der sich anfühlte, als hätte er zwei Wochen lang in einer Taverne gefeiert und sich dabei die Hälfte der Zeit geprügelt. Oder vielleicht war es auch andersherum gewesen. Er fühlte Trümmer auf sich liegen und hörte ein erbärmliches Stöhnen, von dem er nicht sicher war, ob es aus ihm oder von jemand anders kam.

Er kannte solche Situationen und blieb erst einmal liegen. Üblicherweise waren jetzt die Soldaten der Stadtwache schon unterwegs, und jeder der sich regte, würde gepackt und ins Loch geworfen.

"Barn, Nyani?", rief eine schwache Stimme. "Seid ihr da? Etwas liegt auf mir, ich kann mich nich' bewegen. Ich glaub', mein Arm is' kaputt."

Barns Erinnerungen kamen zurück wie eine Horde alter Rachegeister: der Weg ins Gebirge, der Sturm und der Eissturz; die Kammer, der alte Mann und die Mädels aus dem Eisbachtal; Reimers Geschichte und sein Ende; und dann die riesigen Gestalten im Licht der Blitze.

Ächzend stemmte er sich hoch, schüttelte Staub und Trümmer vom Rücken. Seinen schmerzenden Augen war es zu hell, doch er zwang sie auf. Er fürchtete sich vor dem, was er vielleicht sehen musste, aber er hatte noch mehr Angst davor, blind ins Verderben zu stolpern.

Er war sehr überrascht, als er als erstes ein Stück unschuldig blauen Himmels erblickte, in dem ein paar Wolkenlämmer Fangen spielten. Die gesamte vordere Wand der Kammer war verschwunden, und die Sicht war frei auf die schneebedeckten Gipfel der Steilen Zähne, die im Sonnenlicht funkelten. Es war eiskalt und still.

Er zuckte zusammen, als neben ihm Nyani hustend aufstand und fluchte wie ein Eisangler bei Tauwetter. Ihr Wollkittel war völlig zerrissen und bot Einsichten, die Barn unter anderen Umständen beflügelt hätten, aber jetzt sandte der Anblick der üppigen Tätowierungen einen Schauder über seinen breiten Rücken.

"Hallo?" Mørkhars Stimme kam aus einem Haufen Geröll, wo vorher der Steinblock – Reimers Sitzplatz – gewesen war. Ihre Beine ragten seitlich heraus. Barn wühlte mit den bloßen Händen, bis er Gesicht und Oberkörper freigelegt hatte. Mørkhar spuckte blutigen Staub. Ihr rechter Arm lag verdreht über ihrer Brust, der linke war eng an den Körper gepresst, und in der Hand hielt sie noch das Messer. Das, das sie nicht geworfen hatte.

Sie lächelte Barn mit rotverschmierten Zähnen an. "War es auch gut für dich?", fragte sie, bevor sie das Bewusstsein verlor.

 

*

 

Der alte Bergpfad war auf wundersame Weise von dem gewaltigen Schlag, der die Fassade der Kammer zertrümmert hatte, verschont geblieben, und der Sturm hatte ihn freigefegt von dem Eis und dem Geröll der Lawine.

Barn und Nyani humpelten langsam durch den Nachmittag, während die Sonne in ihrem Rücken sank. Sie gingen nach Norden.

Nach Nyanis Rechnung konnten sie das Gedingens in zwei Tagen erreichen.

Nyani trug Mørkhars Mantel und ihre Stiefel. Ihre eigene Kleidung war bei der Zerstörung der Kammer verloren gegangen. Sie wirkte wie ein kleines Mädchen in den abgelegten Sachen einer viel älteren Schwester.

Und Barn trug Mørkhar, eingewickelt in den schmuddeligen Umhang des alten Mannes. Ihr rechtes Knie war geschwollen und steif, dort, wo der Speerschaft sie getroffen hatte, und ihr rechter Arm war dicht unter der Schulter gebrochen. Trotzdem lag sie glücklich grinsend in Barns Armen, starrte aus winzigen Pupillen in den Himmel und kaute andächtig Jerkwurz. Bläulicher Speichel lief ihr über die Lippen und sammelte sich in der kleinen Grube zwischen ihren Schlüsselbeinen. Manchmal kicherte sie, ohne besonderen Anlass.

 

Nyani war sehr still, ihr Blick war starr auf den Boden vor ihren Füßen gerichtet. Barn überlegte, wie er es anfangen konnte, ihr zu erzählen, was er gesehen hatte. Er war sich allerdings nicht sicher, ob er das wirklich wollte. Bei Gruunz, er war sich nicht einmal mehr sicher, ob er wirklich gesehen hatte, was er glaubte, gesehen zu haben!

Frauen mit Speeren, geflügelten Helmen und knielangen Zöpfen, auf deren blau schimmernden Körpern sich lebendige Tätowierungen wanden wie schwarze Schlangen. Achtbeinige Pferde mit kalt flammenden Augen und Schwingen aus Eis. Schwärme von Raben, ihr Geschrei schneidender als das schärfste Schwert. Dazwischen Reiter in Panzern aus funkelndem Frost, groß wie die Berge selbst. Und dahinter, auf einem gigantischen, schwebenden Thron… nein, bei Gruunz, sie würde ihn bloß auslachen.

"Ho, das war'n komischer Bursche, nicht?", sagte er schließlich nur.

Die Axtschwester zuckte mit den Achseln.

"Er war'n Spinner", antwortete sie. "Zu lang allein in den Bergen, und dann hatter im Gewitter den Verstand verloren. Liegt an den Blitzen. Ist schon anderen passiert."

Sie runzelte die Stirn. Ihre hübsche kleine Nase mit den Sommersprossen legte sich in Falten.

"Er wusste aber was über den Ort", fügte sie hinzu. "Das war vor ewigen Zeiten tatsächlich so was wie'n Tempel, da ham die Leute Sachen hingelegt, um Glück auf der Reise in den Süden zu haben. Bevor es den Ergerweg gab. Die Alten nannten die Höhle Frostvaters Horst."

Ein Windstoß blies ihr das wirre rote Haar aus dem Gesicht.

"Er war'n Spinner", bekräftige sie. "Un' vielleicht war er'n Spion von den Südländern."

Sie blieb plötzlich stehen. Große Augen von der Farbe von Libellenflügeln im Sonnenlicht richteten sich auf Barn.

"Wo wir gerade dabei sind, Täppenwinkel – was machst du eigentlich hier?"

Barn starrte sie an. "Ho, wer, ich?"

"Horst."murmelte Mørkhar, aus keinem besonderen Anlass.

Tief unten im Tal stieg eine Schar Raben auf.