Lamia

Die 'Scharrende Wüste' südwestlich von Thenil ist ein endzeitlicher Ort. Alles, was hier einmal bestanden haben mag - Felsen, Erde, Pflanzen, Tiere - ist zerfallen, vertrocknet und im Laufe von Jahrtausenden zu einem Pulver aus feinem, graugelben Staub zerrieben worden. Es gibt keine festen Konturen, keine Ordnung, aber auch keine Unordnung mehr.

Nur der fieberheiße Sand wälzt und verschiebt sich mit dem Wind, dem Zufall und der Zeit; ruhelos wie ein alpträumendes Meer.

In dem grellen, leeren Himmel, der wie ein Hohlspiegel über dieser Verwüstung hängt, steht eine von der eigenen Hitze aufgedunsene Sonne und übergießt alles mit gedankenloser, blendendweißer Glut.

Leben, diese hochmütige, selbstgerechte Regung verklebter Wassertröpfchen, ist hier, wo nicht einmal Stein bestehen kann, ein schnell verdunsteter Witz.

Und dennoch stapft das Leben, unerschrocken und dabei murrend und brummend, mit geschwollener Zunge und von Hitze dröhnendem Schädel, gerade hier durch den Sand. 

*

 Ein kräftig gebauter Mann in zerrissener und verschmutzter Wüstenkleidung torkelte mühsam in staubgefüllten Fußsäcken durch die Dünen der Scharrenden Wüste und sank immer wieder bis über die haarigen Waden in den brennend heißen Sand.

Blondes, verfilztes Haar starrte aus einem schlecht gebundenen Kopftuch wie die Dornenkrone eines Märtyrers, und aus dem wettergegerbten, bronzebraunen Gesicht darunter starrten wasserblaue Augen verkniffen in das Nichts der Umgebung.

Quer über dem Rücken trug der Mann ein riesiges Schwert, einen derben, uralten Bihänder, der schon von mancher Faust in allerlei aussichtlosen Schlachten geschwungen worden war.

In seinem breiten, silberbeschlagenen Ledergürtel klemmte ein halb geleerter Wasserschlauch aus Kalbsleder, runzlig braun wie eine gedörrte Traube, und neben dem Schlauch stak ein Krummdolch mit abgebrochener Spitze.

 Die blonden Haare und die blauen Augen wiesen den Mann als Angehörigen des wilden, unmäßigen Volkes der Norländer aus, doch die tiefe Bräune seiner Haut verriet, dass er schon lange im Süden lebte, Tausende von Meilen von der kalten Heimat entfernt.

Und seine breiten Schultern, muskelschweren Arme und das Schwert auf dem Rücken bewiesen deutlich, dass er sich auf die gleiche Weise am Leben hielt wie alle seines Volkes, die es so tief in die Zivilisation verschlagen hatte: Durch Gewalt.

 Eigentlich hatte der blonde Barbar, der als Feldwebel im Dienste der jungen und liebenswerten Königin Clandine von Thenil stand, nur eine beschriebene Ziegenhaut von der Stadt Thenil in das Feldlager der königlichen Truppen jenseits der Wüste bringen sollen, um den Hauptmann Jobbo Hakenschwang vor einer tödlichen Falle zu warnen, in die der König von Dungg die thenilen Gardisten mit seinem Hilferuf locken wollte, aber Barn - so hieß der Barbar - und sein Pferd waren schon bald nach dem Aufbruch uneins über den richtigen Weg zum Lager geworden.

Der Nordmann, ein miserabler Reiter mit wenig Verständnis für Pferde, hatte den störrischen Hengst durch Geschrei, Tritte und Schenkeldruck immer tiefer in die Wüste getrieben, bis das Tier, von größerer animalischer Schläue als der raue Barbar, instinktiv erkannt hatte, dass des Norländers Führung in eine fatale Richtung ging.

Es hatte begonnen zu tänzeln, zu schnauben und den Kopf zurückzuwerfen, aber Barn hatte die subtilen Signale nicht verstanden und nur mit Flüchen und weiterer Gewalt reagiert. Da hatte sich das Pferd in seiner Todesangst endlich aufgebäumt und den ungeschickten Reiter in einem hohen Bogen vor sich in den Sand geworfen.

Dann war es in einer gewaltigen Staubwolke davongaloppiert und hatte den wild brüllenden Barbaren und die wichtige Botschaft in der Wüste zurückgelassen. 

*

 Barn fummelte nach seinem Wasserschlauch, um durch einen Schluck diesen brüchigen Lederriemen, den er als Zunge im Mund trug, wenigstens für einen einzigen Fluch zu lösen. Seine Lippen rissen auf, als er das Mundstück aus geschnitztem Kamelhuf ansetzte, doch dann rann ihm das Wasser brennend heiß durch die staubige Kehle. Er verschluckte sich, hustete und versprühte dabei Myriaden Tröpfchen der kostbaren Flüssigkeit.

Die meisten verdunsteten in der staubtrockenen Luft, doch ein einzelner Tropfen gelangte durch einen wunderlichen Zufall bis hinab in den Sand, wo er ein ganz bestimmtes winziges Körnchen traf.

Das Wasser verband sich mit dem Staubkorn, das Staubkorn verklebte sich mit einem anderen Staubkorn, dieses mit weiteren. Uralte Kräfte gerieten in Bewegung.

Der Barbar merkte davon natürlich nichts. Nachdem seine schmerzende Kehle nicht mehr zuckte, konnte er einen Fluch über gewisse gruunzverdammte Gäule ausstoßen, und danach ging es ihm besser.

Entschlossen bedeckte er die Augen mit den Händen und starrte angestrengt nach Süden.

Hinter Schwaden fiebrig flirrender Luft glaubte er eine Bergkette erkennen zu können. Er grunzte, rieb sich ein wenig die Augen und die Nase, starrte dann wieder, und tatsächlich, er glaubte, immer noch eine Bergkette erkennen zu können.

Er brummte, nickte zufrieden und wollte den Wasserschlauch wieder an den Gürtel schnüren, da hörte er hinter sich eine Stimme.

 "Sei gegrüßt, Wanderer!"

Sanft und zart wie ein Kuss wehten die Worte an seine Ohren. Der Barbar fuhr auf der Ferse des linken Fußes herum, beide Hände zum Schwertgriff über der Schulter erhoben. Mengen von Staub wirbelte er auf. Doch was er dann sah, ließ ihn alle Abwehrbereitschaft vergessen. Er hörte sogar für längere Zeit auf zu atmen.

Eine junge Frau stand vor ihm, eine dunkle Schönheit von vollendeten Proportionen, bekleidet nur mit ein paar goldenen Armspangen und goldenen Ringen. Dunkle, mandelförmige Augen blitzten den Barbaren an, und ein voller, auch ohne Worte vielversprechender Mund enthüllte Zähne, die so weiß waren wie die Milch, die man noch vor Morgengrauen aus einer Ziege gemolken hatte.

In langen, schlanken Fingern bot die Frau dem Mann aus dem Norden eine sandbraune Blüte dar, deren Blätter ineinander verschlungen waren wie die einer Rose.

Barn stand eine ganze Weile vor diesem Anblick und starrte. Verständnis stellte sich nicht ein. Der mächtige Unterkiefer sank herab.

Dann gewann der große blonde Krieger den Kampf gegen Kinn, Verstand und Zunge und brachte ein trocken gekrächztes: "Ho, bistu auch hier, Mädel?" heraus. Mit diesem Spruch hatte er in seiner Jugend schon so manche dralle und  rotwangige Schönheit auf den Tanzböden des Norlandes zum Beben gebracht, und warum sollte es nicht auch hier so sein?

 Nun, einem vernunftbegabten Menschen wäre es tatsächlich ausgesprochen ungewöhnlich, wenn nicht gar unmöglich, erschienen, dass eine Frau, deren Bekleidung selbst für eine Tasse Tee in einem schattigen Harem ungenügend schien, 'auch hier' in der Wüste war, wo die gnadenlos sengende Sonne jedes ungeschützte Stück Haut in Minuten zu schuppiger Scheußlichkeit briet. Für Barn war die Frage allerdings nur eine oft gebrauchte Floskel, die nichts Anderes besagte, als dass er bereit war, zudringlich zu werden.

 "Hast du einen kleinen Tropfen Wasser für diese trockene Rose, Wanderer?" fragte die Frau und hob dem Barbaren die Blüte entgegen.

"Ho, Mädel!" machte der Barbar verwirrt. Das war nicht ganz die erwartete Antwort auf seine Frage gewesen.

"Ein paar Tropfen nur, einige kleine Spritzer!" flehte die sanfte, heisere Stimme. "Ich bin erwacht, weil ein Hauch von Wasser ein Staubkorn berührte. Mit ein wenig mehr Wasser könnte diese Rose noch so viel mehr erwecken! Sieh dich um, und sieh die Wohnung des Todes! Aber früher war hier Leben, eine Stadt mit vielen tausend Menschen, tags voller Stimmen und nachts voller Lichter und Gelächter. Oh, unsere Märkte waren bunt und reich an Waren aus allen Winkeln der Welt, unsere Häuser wie Paläste, unsere Männer stur und stark, und unsere Frauen geschmeidig und verführerisch."

"Hm!" antwortete Barn. Er versuchte zu überlegen, aber die Frau sprach allzu schnell weiter.

"Und mächtig war unser Zauber!" rief sie. "Aber die Zeit, sie neidete uns unseren Glanz und unsere Macht, und sie ließ von allen Seiten Sand an die Mauern unserer Stadt branden, und über die Jahrhunderte hinweg nagte die brennende Wüste an den Steinen der Häuser, Plätze und Basare, und die Trockenheit ließ die Brunnen und zuletzt auch den Lebensmut meines Volkes verdorren. Hohläugig saß es in den Straßen, und wenn etwas einstürzte, wurde es nicht mehr aufgebaut. Ich war die Tochter des letzten Königs dieser Endzeit, und ich musste erleben, wie die Wüste endlich die Stadt besiegte, zwischen ihre Mauern kroch und auch vor der Schwelle der Königshalle nicht Halt machte. Ich sah, wie die letzten Brunnen versandeten. Obwohl viel Wissen verlorengegangen war, war ich noch erfahren im Zauber der Alten, und ich opferte meinen lebendigen Körper dem Gotte Suspeth, um mein Volk wieder erwecken zu können, wenn das Wasser zurückkehren sollte. Die Seele meiner Stadt und meines Volkes - sie steckt in dieser Blüte."

Die Frau hob dem Barbaren die Rose so weit entgegen, dass sie fast seine starke Nase berührte.

Barn rieb sich die breiten Nasenflügel und grunzte ungeduldig. Er musste zusehen, dass er aus diesem heißen Loch so schnell wie möglich herauskam, sonst würde er verdursten. Für so einen überspannten Kram, wie ihn das Mädel erzählte, hatte er wirklich keine Zeit.

"In deiner Hand allein liegt es nun, mich und mein Volk wieder zu erschaffen", rief die dunkle Frau, und ihre Augen blitzten wie schwarze Diamanten. "Das Wasser aus deiner Flasche auf diese Rose, und du schenkst tausendfach Leben!"

"Ho, Mädel", meinte Barn, vom eindringlichen Ton der Frau bewegt, obwohl er nicht wirklich verstand, worum es ging. "Wir könn' Spaß haben, aber mein Wasser brauch' ich selber!"

Kurzentschlossen streckte er die muskulösen Arme aus, um die Schönheit zu packen und an seine breite Brust zu zerren, doch seine Hände griffen nichts als heiße Luft. Die Frau verschwamm wie ein Spiegelbild in stillem Wasser, in das jemand einen Stein wirft, dann wurde ihr herrlicher Körper wieder deutlich.

"Krieger, du siehst es selbst", seufzte die Frau. "Ich bin nur ein Hauch heißer Luft aus den Höllen Suspeths, wo meine Seele seit Jahrtausenden auf Erlösung hofft, aber dein Wasser kann mir wieder einen Körper geben, so dass du mich besitzen kannst, und hunderte wie mich dazu! Ein ganzes Königreich kann dir gehören, und tausend tapfere Krieger, dir weitere Reiche zu erobern! Ein Thron, ganz aus Gold und Elefantenbein! Sklaven, Häuser, Tempel, Reitpferde und heilige Katzen, und alle Steuervergünstigungen!"

Barn runzelte die Augenbrauen. Dann massierte er sich das mächtige Kinn mit der Linken, wie er es immer tat, wenn er ratlos war.

Schließlich schüttelte er den Kopf. Es war besser, nicht weiter nachzudenken und das Mädel Mädel sein zu lassen. Der Schädel dröhnte ihm von der kochenden Hitze, das Leben war schon ohne Denken schwer genug. Er fummelte ungeschickt an den Lederschnüren des Wasserschlauches, bis er den faltigen Balg wieder an den Gürtel gebunden hatte, dann straffte er entschlossen seine Gestalt, hob das Kinn und meinte: "Ho, Mädel, bis bald, hm?"

Denn eigentlich war es für anständigen Spaß sowieso zu heiß.

Das schöne, schmale Gesicht verzog sich jäh zu einer erschreckenden Grimasse, für einen Moment wirkte es wie die uralte Fratze eines bocksköpfigen Dämons. Die langen Finger fuhren krallengleich durch die Luft.

"Barbar! Wasserlos verrecken wirst du, wenn du weiter hier wanderst! Auf hundert Meilen gibt es keine Quelle, kein Leben, nicht einmal Schatten, um darin zu ruhen!" zischte die Frau aus einem Mund, dessen Zähne lang und spitz und braunrot von altem Blut waren. "Dein Leben ist besiegelt, doch du kannst neues geben, wenn du das Wasser aus deinem Beutel opferst!"

Barn grinste schwach. Er knetete seinen sonnenverbrannten Nasensattel mit dem Daumen und dem Zeigefinger der rechten Hand. Er war müde, und er hatte keine Ahnung, wo er heute Nacht schlafen würde. Vielleicht konnte er das dunkle Mädel mitnehmen, vielleicht aber wollte es auch nicht. Nun, das Leben eines Kriegers war wie der Fall der Würfel. Unberechenbar, unverständlich und oft mit einem hohen Preis verbunden. Er zwinkerte träge, dann begann er, festen Schritts auf das ferne Gebirge zuzugehen.

"Ho, Mädel, seh' dich dann bald mal wieder, wie?" winkte er fröhlich, während er an der schwarzen Schönheit vorbeistapfte, hinein in den strahlenden, heißen Sand, dessen graue Wirbel ihn bald verschlungen hatten. Ein schrilles Kreischen, das hinter ihm aufstieg wie ein erboster Geier, verhallte bald in der gewaltigen Weite.

 Hinter Barn brannte die Sonne auf einen kleinen Klumpen nassen Sandes, der schnell wieder zu Staub zerfiel und vom Wind auseinander getragen wurde. Die schlanke Gestalt einer jungen Frau, die vielleicht dem Kopf eines Ziegenbocks hatte, aber eigentlich eher doch nur sie selbst war, verblasste und verschwand, wie es Trugbilder in der Wüste tun.