Mürrisch blickte Barn auf den grauen Nebel, der von den Salzwiesen heranzog. Bei Gruunz, jetzt wurde auch noch das Wetter schlecht!
Während er zusah, griff der Nebel mit klammen Fingern nach der sinkenden
Sonne und verwandelte sie in eine bleiche Scheibe; es wurde schlagartig
kalt.
Der Nordmann fluchte. Als ob ihm heute nicht schon ausreichend Unrecht
widerfahren wäre!
Er war aus Brokel verjagt worden und hatte dabei seinen Umhang zurücklassen
müssen. Mit Knüppeln und fauligem Kohl hatten sie ihn verfolgt – bloß wegen
dieser Sache mit dem Schwein und dem Kleid!
Natürlich hatte er nur einen Spaß machen wollen, als er das Schwein in das
Kleid gesteckt hatte. Es hatte auch sehr drollig ausgesehen, in der weißen
Schürze und dem weiten Rock – wie ein dickes Mädchen. Aber Brassica, der das
Kleid gehörte, hatte nicht gelacht, sondern war schreiend zu ihrem Vater Ole
gelaufen. Da Ole – der den Gefährten seiner Tochter ohnehin für einen
Nichtsnutz hielt – der Schultheiß von Brokel war, war plötzlich das ganze
Dorf auf den Nordmann losgegangen.
Und selbst ein Hüne wie Barn konnte nicht gegen zwei Dutzend aufgebrachte
Bauern bestehen. Daher hatte er das Dorf verlassen, fluchend und im
Laufschritt, verfolgt von einem Hagel aus Beleidigungen und alten
Kohlstrünken.
Wütend, wie er war, war er sehr lange gelaufen.
Jetzt blieb er stehen, sah sich um und musste feststellen, dass nicht nur
der Abend hereingebrochen war, sondern der Zorn ihn auch sehr weit getragen
hatte: die scheinbar endlosen Grünkohlfelder, deren streng riechende
Gleichförmigkeit das Land hinter der Küste bestimmte, waren einem wilden
Gemisch aus Schilf, Binsbeerenbüschen, Birken und vereinzelten Eichen
gewichen. Der breite Feldweg war zu einem Trampelpfad geworden.
Er hatte das Gebiet der Kohlbauern hinter sich gelassen.
Barn presste die Lippen zusammen. Das war es dann wohl gewesen. Brassica war
ein nettes Mädel gewesen, wohlgerundet und offenherzig. Es war traurig, dass
er sie nicht mehr sehen würde. Aber andererseits hatte sein Herz auch nicht
allzu sehr an ihr gehangen – Mädels wie sie gab es überall.
Was ihn viel mehr schmerzte, war der Verzicht auf seinen üblichen Abend im
Dorfkrug von Brokel; auf das Nachtmahl mit Bier, fettglänzenden Knackwürsten
und Bergen der lokalen Spezialität – Grünkohl mit Speck. Als jemand, der
vielleicht einmal der Schwiegersohn des Schultheißen werden würde, hatte er
all das kostenlos bekommen, und manchmal sogar noch einen Kohlbrand – den
besonderen Schnaps der Gegend – dazu. Die Leute hatten ihn zwar nicht
besonders gemocht, aber sie hatten respektiert, was er darstellte.
Während er die Umgebung betrachtete, wurde ihm bewusst, dass er noch auf
erheblich mehr würde verzichten müssen als nur auf Grünkohl mit Speck – das
Land war öde, grau und abweisend, nirgendwo war ein Anzeichen einer
menschlichen Behausung zu entdecken. Nebelfetzen trieben wie verirrte
Geister über dem Schilf. Es stank nach Salz, Schlamm und Einsamkeit.
Barn erschauderte in seiner abgetragenen Lederkleidung. Eine Nacht hier
draußen in den Marschen ohne seinen Umhang würde hart sein, jetzt, da er
sich daran gewöhnt hatte, in einem Bett zu schlafen. Seine Hände
verkrampften sich zu Fäusten.
Verdammt, es hatte doch wirklich nur ein Scherz sein sollen!
Er brüllte seine Frustration in einem wilden Fluch heraus. Und zuckte
zusammen, als ihm ein langgezogenes Heulen antwortete. Ein tiefer, hohler,
einsamer Laut, als habe das leere Land eine eigene Stimme gefunden.
Barns linke Hand fuhr zum Griff seines Schwertes
Windmacher. Langsam zog er die
schwere Klinge aus der Scheide, die er nach Barbarenart schräg über den
Rücken geschnallt trug. Dabei lauschte er. Für den Moment blieb es still.
Kein Hinweis darauf, dass sich etwas näherte. Er presste die Lippen zusammen
und schritt langsam weiter.
Ein Blick auf die Sonne – ein verwaschener Lichtfleck zu seiner Rechten –
machte ihm noch einmal deutlich, dass der Tag zu Ende ging. Es blieben
vielleicht noch zwei Stunden Helligkeit. Der hereindrängende Nebel würde die
Sicht allerdings schon viel früher einschränken. Schlechte Bedingungen, wenn
es hier etwas gab, das auf
diese
Weise heulen konnte.
Barn starrte auf den schmalen Pfad im Schilf. Er konnte nur hoffen, dass
dieser Weg schnell irgendwo hinführte. Am besten in ein Dorf. Mauern und ein
helles, warmes Feuer, das war, was er jetzt brauchte.
Das Heulen ertönte erneut. Es kam von links, dort, wo sich die Birken und
Eichen allmählich zu einem Wald verdichteten. Barn biss die Zähne zusammen.
Er kannte kein Tier, das solche Töne ausstieß. Der Laut klang fast
menschlich, einsam, sehnsüchtig, voll Kummer und Wut. Aber kein Mensch hatte
eine solche Stimme.
Das Heulen wiederholte sich, es begann im tiefsten Bass, wie ein gewaltiges
Kriegshorn, um sich dann immer höher aufzuschwingen und in einem schrillen
Ton wie brechendes Glas zu enden.
Barn war ein muskulöser Riese und ein hervorragender Schwertkämpfer; er
hatte sogar einmal einen ausgewachsenen Seidentroll mit bloßen Händen
bezwungen. Aber jetzt steckte er sein Schwert weg und begann zu rennen.
Egal, wohin der Pfad führte,
weg von hier war im Augenblick
als Ziel gut genug. Es gab Herausforderungen, denen sich ein Mann stellen
musste, und es gab Situationen, in denen Distanz die beste Verteidigung war.
Sehr viel Distanz.
Er lief mit gleichmäßigen, weiten Schritten, darauf bedacht, im nassen Gras
möglichst wenig Geräusch zu verursachen und trotzdem schnell voranzukommen.
Es war unter anderem ein Wettlauf mit der Zeit: es wurde jede Minute
dunkler, der Nebel dichter, und jeder Baum zu einer bedrohlichen
Schattengestalt.
Das Heulen ertönte in unregelmäßigen Abständen in seinem Rücken; außer
seinem Atem war es das einzige Geräusch in der grauen Landschaft. Irgendwann
schien es leiser zu werden, als bliebe die Ursache hinter ihm zurück.
Aber konnte das nicht eine Täuschung des Nebels sein, der Geräusche ebenso
dämpfte und verzerrte wie das Licht? Vielleicht war das heulende Ding schon
ganz nahe, nur einen letzten, wilden Sprung davon entfernt, kalte Klauen in
seinen Rücken zu schlagen und seine scheußliche Zunge um seinen Hals zu
schlingen? Barn schauderte und beschleunigte seinen Lauf. Er mochte keine
Pferde, deswegen hatte er in der langen Zeit seiner Wanderschaft gelernt,
fast so schnell zu sein wie diese hochmütigen, unberechenbaren Biester.
Als sich plötzlich vor ihm ein riesiger Umriss aus dem Nebel schälte, konnte
er allerdings nicht so schnell anhalten wie ein Vierbeiner. Schlitternd und
mit den Armen rudernd, bewahrten ihn nur seine Körperbeherrschung und eine
Menge Glück vor einem Sturz. Als er stand, spürte er sein Herz im Hals
schlagen. Er fühlte sich hilflos, wie eine unachtsame Maus, die sich beim
Herumstreifen plötzlich vor dem aufgerissenen Maul einer Katze
wiederfand.
Dann erkannte er, was der Umriss war, und lachte er erleichtert auf. Das war
kein Ungeheuer aus der Niederwelt, das war ein Haus! Ein großes Haus, das
wie ein müder Riese im grauen Dunst der Dämmerung kauerte.
Ein einzelnes Fenster an der Vorderseite war erleuchtet und schickte ein
gemütlich goldenes Licht in den Nebel, ein Versprechen von Wärme und
Geborgenheit. Genau das, was er brauchte.
Für ein paar Augenblicke blickte Barn sehnsüchtig in das Licht, dann wurde
er nachdenklich. Er wusste, dass die Leute hier in der Gegend eher
berechnend als gastfreundlich waren, aber er hatte ein paar Münzen in seinem
Beutel. Vielleicht konnte er sich einen Platz für die Nacht kaufen. Oder
zumindest ein paar Stunden vor dem wärmenden Feuer.
Ein paar Schritte brachten ihn bis vor den Eingang – es gab keinen Zaun, was
ungewöhnlich war in einem Landstrich, wo die Menschen viel Wert auf Abstand
und Eigentum legten.
Vorsichtig stieg er die drei Steinstufen zu der großen, ovalen Haustür
hinauf und betrachtete sie. In der Mitte der Tür befand sich ein wulstiger
Ring aus glänzendem Messing: ein Klopfer.
Er griff nach dem Ring, dann zögerte er und ließ ihn wieder los. Stattdessen
schlug er mit der Faust zweimal sanft gegen die Tür.
"Ho, ich bin Barn aus Täppenwinkel, ein verirrter Wanderer!", rief er.
"Einen Platz zum Rasten suche ich, und eine Mahlzeit; ich kann dafür
zahlen!"
Nichts passierte, außer dass das entsetzliche Heulen einmal mehr hinter
seinem Rücken ertönte.
Mit erhöhter Dringlichkeit schlug er noch einmal gegen das dunkle Holz. Und
erstarrte, als die Tür lautlos nach innen schwang. Das goldene Licht floss
ihm entgegen wie ein Teppich aus warmem Honig. Er wartete, bereit, seinen
Satz noch einmal zu wiederholen.
Aber niemand stand hinter der Tür – sie hatte sich unter dem Druck seines
Klopfens von selbst geöffnet. Er sah einen langen, leeren Flur, in dem
zahlreiche Kerzen brannten: die Quellen des goldenen Lichts.
"Ho, ich bin Barn aus Täppenwinkel, ist jemand zu Hause?", rief er in den
Flur.
Es gab keine Antwort. Barn lauschte angespannt, aber aus dem Inneren des
Hauses kam kein Hinweis, dass ihn jemand bemerkt hatte. Die einzige Bewegung
war das Flackern der Kerzen.
Zögernd stand er auf der Türschwelle. Er wollte nicht für einen Einbrecher
gehalten werden, aber er wollte auch sehr gerne die Tür zwischen sich und
dem unheimlichen Heuler schließen.
Als der klagende Laut erneut aus der Ferne herandrang, und der Nordmann sah,
wie dunkel es hinter ihm schon geworden war, gab das den Ausschlag: mit
einem lauten "Ich komm' jetzt rein!", betrat er das Haus und schlug die
ovale Tür hinter sich zu.
Dann blieb er stehen und sah sich um. Der Flur war lang, mit weiß verputzten
Wänden und einem Boden aus hellen Holzplanken, die im Kerzenlicht sanft
schimmerten. Alles war sehr sauber. Am hinteren Ende des Flurs befand sich
eine geschlossene Tür aus hellbraunem Holz, die Oberfläche mit Schnitzereien
verziert. Auf der rechten Seite, vielleicht fünf Schritte entfernt, war eine
weitere Tür. Sie stand offen. Von dort kamen das knisternde Geräusch
brennender Holzscheite und ein anziehender Geruch von Rauch und
Gewürzen.
"Ho, ich bin jetzt drin!", verkündete er, auch wenn er mittlerweile sicher
war, dass niemand ihn hörte.
Langsam und vorsichtig ging er zu der offenen Tür und sah einen großen Raum,
in dem ein kräftiges Feuer in einem steinernen Kamin prasselte.
Er staunte: das war keine Bauernkate wie die anderen Häuser in der Gegend.
Der Boden war mit Teppichen und Kissen in hellen Farben bedeckt, Kerzen
brannten in großen Leuchtern, und der aromatische Duft von Räucherwerk
füllte die Luft.
Er trat ein. Entlang der Wände standen hohe Regale aus Birkenholz, gefüllt
mit einem faszinierenden Durcheinander unterschiedlichster Gegenstände.
Ausgestopfte Tiere; Bündel getrockneter Pflanzen; Glasflaschen mit bunten
Flüssigkeiten; verschiedene Werkzeuge aus glänzendem Metall; sogar ein paar
der komischen Lederkästen, die die Südländer 'Bücher' nannten. Trotz der
Unordnung war alles auffällig sauber, was im schlammigen Marschland keine
Selbstverständlichkeit war.
Dann fielen ihm die Figuren auf. Überall standen oder lagen sie herum –
kleine Menschen und Tiere aus Holz, Ton oder Stein. Er nahm eine besonders
auffallende Figurengruppe in die Hand, um sie genauer zu betrachten; es war
eine Darstellung von drei Frauen, die Schulter an Schulter ein Dreieck
formten. Eine trug eine verhüllende Robe mit Kapuze, die zweite gewöhnliche
Kleidung, die dritte war nackt und machte das durch eine aufreizende
Körperhaltung auch noch besonders deutlich. Alle drei hatten die gleichen
Gesichtszüge.
Grunzend stellte Barn das Kunstwerk wieder hin. Wer hier wohnte, war
vermutlich kein Kohlbauer.
Er ging zum Fenster, dem einzigem im Zimmer, und blickte hinaus. Hinter dem
dicken Glas war nur Schwärze. Schaudernd trat er zurück – nur Gewalt würde
ihn vor Sonnenaufgang wieder dort hinausbringen. Und nichts, was er bisher
in dem Haus gesehen hatte, wies auf gewalttätige Bewohner hin. Mit dieser
Erkenntnis kam eine ungeheure Erleichterung, und alle Anspannung fiel von
ihm ab. Der schreckliche Tag war vorüber!
Er nahm den Schwertgurt von der Schulter und lehnte die abgewetzte Hülle mit
Windmacher darin gegen ein
Regal. Dann zog er seine Lederjacke aus und hängte sie sehr behutsam über
den Schwertgriff, denn sie war nach dem Verlust seines Umhangs alles, was er
gegen Wind und Wetter noch hatte.
Mit seinen Stiefeln war er weniger rücksichtsvoll, sie landeten in zwei
verschiedenen Ecken des Zimmers.
Schließlich setzte er sich mit einem schweren Seufzer auf ein Kissen am
Kamin und streckte die Hände gegen die Flammen.
Schon nach kurzer Zeit spürte er die Leere seines Magens. Sein Blick
wanderte über die Regale auf der Suche nach etwas Essbarem, fand aber nichts
außer ausgestopften Tieren und getrockneten Pflanzen.
Da er nicht hungrig genug war, um den warmen Platz zu verlassen und den Rest
des Hauses zu durchsuchen, wandte er seine Aufmerksamkeit den Flaschen zu.
Eine üppig gerundete, mit schlankem Hals und zwei geschwungenen Griffen,
sagte ihm besonders zu, denn sie war nicht nur schön anzusehen, sondern auch
in Reichweite.
Als er sie in der Hand hielt, war sie unerwartet schwer. Er zog den Stopfen
und schnüffelte. Der Geruch ähnelte nichts, was er kannte, war aber nicht
unangenehm, sondern versprach Süße und Würze zugleich. Ohne weiter zu
überlegen, setzte er die Flasche an den Mund und nahm einen langen Schluck.
Dann wischte er sich mit dem Unterarm die Lippen, rülpste, und wartete.
Sehr schnell breitete sich Wärme in seinem Magen aus. Was immer in der
Flasche war, es war starkes Zeug. Ein weiterer Schluck, und seine
Fingerspitzen und Zehen begannen zu kribbeln. Er spürte, wie sein Herz
schneller schlug. Die Farben im Raum schienen intensiver zu werden, das
Licht heller, das Kissen weicher. Auf dem Rücken liegend, hob er die Flasche
über das Gesicht und schüttete sich die goldene Flüssigkeit in den Mund.
Einiges ging daneben und lief ihm in die Haare, aber das störte ihn nicht.
Bald umtanzten ihn die Aromen des Getränks wie ein ausgelassenes
Nymphenballet. Er lachte laut auf und ließ die leere Flasche fallen.
Ho, das war besser als Grünkohl und Räucherbier!
Es fehlte nur noch eine Sache – etwas Gesellschaft. Weibliche Gesellschaft.
Er streckte die Arme aus.
"Ho Mädels, lasst uns Spaß haben!", rief er der Figur der dreifachen Frau
zu.
Da hörte er das Knarren der Haustür.
Er sprang auf, schwankte, und wäre beinahe in den Kamin gefallen.
Reflexartig griff er nach dem nächsten Regal, bekam aber nur einen
ausgestopften Igel zu fassen. Laut fluchend schleuderte er das tote Tier von
sich und verlor dabei endgültig das Gleichgewicht. Er taumelte quer durch
den Raum und krachte mit Wucht gegen die Wand, bevor er zu Boden fiel.
Halb gelähmt vor Schmerz hörte er Schritte auf dem Flur, langsam und
vorsichtig; sein Sturz war unüberhörbar gewesen. Bevor er genug Kraft
gefunden hatte, um aufzustehen, erschien eine dunkle Gestalt in der Tür.
"Ho, ich bin Barn aus Täppenwinkel", stieß er gepresst hervor. "Ich such'
einen Platz zum Schlafen."
"Die Ecke ist doch schon mal ganz gut. Da bist du nicht im Weg."
Es war eine dunkle, kräftige Stimme, die das sprach, volltönend wie eine
alte Flöte, aber dennoch unzweifelhaft die einer Frau.
Sie trat in den Raum. Barn sog scharf den Atem ein. Es war eine Frau, nach
seinen Begriffen sogar eine alte Frau, einfach gekleidet und unbewaffnet,
aber sie wirkte auf unerklärliche Weise bedrohlich.
Sie war sehr groß und schlank, und von Kopf bis Fuß in Schwarz gehüllt.
Unter einer weiten Kapuze blickte ein schmales, blasses Gesicht hervor,
eingerahmt von einer Masse silberweißen Haars, das wie ein schäumender
Wasserfall in wilden Wellen über die Brust fiel. Das Gesicht hatte die
zeitlose Schönheit einer Statue – bis auf zwei scharfe Falten, die sich fast
wie Schnitte von der Nase über die Stirn zogen. Am auffälligsten aber waren
die Augen, die, obwohl sie weder besonders groß, noch irgendwie
hervortretend waren, die scharfe Präsenz von zwei Messerklingen hatten.
Die Frau ging langsam auf den Kamin zu und ließ ein großes Bündel, das sie
über der Schulter getragen hatte, in die Flammen gleiten. Barn war fast
sicher, dass sich das Bündel kurz bewegt hatte, bevor es ins Feuer fiel.
Dann drehte sich die Frau um und richtete ihre fatalen Augen auf den
Nordmann. Sie sagte: "Willkommen in meinem Haus, Barn aus Täppenwinkel. Ich
bin Triune."
Dann, als wäre damit alles gesagt, bückte sie sich und hob die leere Flasche
vom Boden auf. Sie drehte sie nachdenklich in ihren langen, weißen
Händen.
"Da war so ein Heulen, draußen", sagte Barn, dem sein Eindringen und die
Sache mit der Flasche plötzlich ungeheuer peinlich waren.
"Ich weiß." Triune stellte die Flasche zurück ins Regal und klopfte mit
einer Hand auf das Kissen neben sich. "Setz dich zu mir."
Barn zögerte, aber sie klopfte noch einmal, und da schien es, als bewege
sich sein Körper von alleine durch den Raum. Er ließ sich auf dem Kissen
nieder, schlug die Beine übereinander und verschränkte die Arme vor der
Brust.
"Sieh mich an."
Er gehorchte. Ihre Augen hatten die Farbe von Stahl in der Dämmerung, aber
es lag keine Drohung in ihnen, nicht einmal Ärger. Wenn es dort überhaupt
etwas gab, dann war es eine feine Belustigung.
"Barn von Täppenwinkel, hast du eine Ahnung, warum du hier bist?"
Der Nordmann runzelte die Stirn. Was für eine Frage. Natürlich wusste er,
warum er hier war, sonst wäre er ja woanders! Trotzdem erklärte er es.
"Da war so ein Heulen, von irgendeinem großen Biest. Ich hatte keine Lust,
zu kämpfen, also bin ich weitergegangen und hab' das Haus gesehen." Das war
nicht ganz wahrheitsgemäß, aber die Einzelheiten gingen die Alte nichts an.
"Die Tür war offen, also bin ich rein, weil es dunkel wurde."
Triune schüttelte den Kopf. Ihre weißen Locken raschelten wie Blätter im
Wind.
"Das meine ich nicht", sagte sie, und nun war ihre Erheiterung deutlich zu
sehen. Sie lächelte, als hätte der Barbar die Pointe einer witzigen
Geschichte nicht begriffen.
Barn presste die Lippen aufeinander. Was sollte das?
"Dann hab' ich keine Ahnung, was du meinst, Alte!", sagte er barsch. Die
Situation schien ihm zu entgleiten, und das machte ihn aggressiv.
Triune streifte ihre Kapuze zurück, und der Nordmann war erstaunt über die
üppige Menge an Haaren, die sie dadurch befreite. Ihre Augen funkelten, und
nun war geschliffener Stahl in ihrem Blick.
"Alte? Du solltest deine Worte sorgsam wählen, Junge, sie könnten dein
Schicksal bestimmen." Ihr Ton war jetzt kalt. "Aber weiter. Was war vor dem
Heulen? Wieso warst du in der Marsch unterwegs?"
Barn spannte die Schultern.
"Ich bin halt so rumgelaufen...", druckste er herum. Er wollte sich jetzt
nicht erinnern.
"Geht es auch genauer? Warum bist du herumgelaufen?"
"Wegen der blöden Bauern!", rief er trotzig. "Und wegen der Sache mit dem
Schwein!"
"Was war das für eine Sache, die mit dem Schwein?" Eine Spur der
anfänglichen Heiterkeit schwang wieder in der Frage mit, aber Triunes Augen
blieben hart.
Barn, der langsam das Gefühl bekam, dass die Alte ganz genau wusste, was am
heutigen Tag passiert war, spürte, wie ihm Wärme ins Gesicht schoss.
"Brassicas Kleid", nuschelte er.
"Was für ein Kleid?"
"Brassicas Tanzkleid, gruunzverdammt!", polterte der Barbar los. "Ich hab
dem blöden Schwein das verdammte Tanzkleid von der verdammten Brassica
angezogen! Das war ein Witz, ich wollte sie ärgern, weil sie mir auf die
Nerven gegangen ist!"
"Und, hat sie sich geärgert?"
Jetzt wurde es Barn zu viel. Er schlug mit der Faust auf den Boden.
"Ob sie sich geärgert hat? Sie hat
das ganze verfluchte Dorf auf
mich gehetzt! Wegen eines saudummen Kleides! Flittir soll sie holen, die
eingebildete Wachtel!"
Triune zeigte sich unbeeindruckt.
"Weißt du, was sie dann gemacht hat?", fragte sie.
"Woher soll ich das wissen? Ich war im Kampf gegen Dutzende von Bauern!"
Triune hob eine Hand. Ihre Nägel ragten weit über die Fingerkuppen hinaus
und glänzten im Licht der Flammen wie blutiges Glas.
"Ich weiß, was Brassica getan
hat, nachdem du aus Brokel verschwunden bist", sagte sie. "Sie hat geweint.
Und", Triune fügte dem Arsenal ihrer Augen und Fingernägel noch zwei Reihen
blitzend weißer Zähne hinzu, "dann
hat sie dich verflucht!"
Barn spürte, wie ein Schauer seinen Rücken hinunterlief.
Verflucht! In seiner Heimat
wurde bei jedem Anlass geflucht, so häufig, dass sich keiner mehr etwas
dabei dachte; aber hier, in diesem seltsamen Haus in den nebeligen Marschen,
klang ein Fluch nicht wie etwas, was man beiläufig über verschüttetem Bier
ausstieß. Hier klang es nach Verhängnis.
Er spürte ein Ziehen im Magen, und das ärgerte ihn. Er war ein Nordmann, ein
Kämpfer, und kein leichtgläubiger Bauer, der sich von den Worten einer alten
Frau einschüchtern ließ!
Betont gleichgültig zuckte er mit den Schultern.
"Und?", fragte er.
Triune lächelte. Es war kein beruhigender Anblick, ihre Zähne waren zu weiß
und zu scharf.
"Ich bin in dieser Gegend so etwas wie eine Instanz für Flüche", sagte sie
langsam und nachdenklich, als wäre ihr dieser Umstand selbst erst in diesem
Augenblick bewusst geworden. "Leider, denn das war nicht immer so. Früher
lebte ich im Süden und kümmerte mich um die schönen Seiten des Lebens. Aber
nach dem großen Krieg wollte ich allein sein, deshalb kam hierher.
Vielleicht war das ein Fehler. Das Geschäft des Kohlanbaus ist, wie es
scheint, eine derbe und freudlose Angelegenheit; es erzeugt harte Herzen.
Deswegen bin auch ich jetzt härter geworden und trage Schwarz, und statt
Leben zu geben, erwartet man, dass ich anderen das Leben schwer mache. Oder
nehme."
"Es war ein Witz, verdammt!", murmelte der Nordmann. Er hatte das
unbehagliche Gefühl, dass dieses Gespräch zu nichts Gutem führte. Seine
rechte Hand glitt – unauffällig, wie er hoffte – zu seinem Gürtel, dort, wo
sein Dolch Schinkenschneider in
der Hülle aus Eselshaut ruhte.
Triune legte mit einer schnellen Bewegung ihre Finger auf Barns Rechte. Ihr
Gesicht war plötzlich sehr nahe. Sie roch nach Herbst, nach erstem Schnee,
doch auch nach letzten Sonnenstrahlen. Ihre Finger waren kalt auf Barns
Haut.
"Aber es war kein guter Witz", sagte sie leise. "Du hast Brassica sehr
wehgetan. Sie rief dreimal meinen Namen, und sie war präzise in den
Beschreibungen dessen, was ich mit dir machen solle. Nicht originell, aber
präzise. Das darf ich nicht ignorieren – selbst wenn ich wollte."
Barn starrte auf die schmalen, blassen Finger, die wie Eisblumen auf seiner
gebräunten Haut lagen. Sie sahen zerbrechlich aus, diese Finger, aber er war
sicher, dass sie es nicht waren.
Er räusperte sich. Irgendwie musste er aus der Sache rauskommen, und er
hatte die vage Ahnung, dass das nicht mit Waffengewalt ging.
"Es tut mir leid", brummte er rau. Zu einem gewissen Maß war es sogar wahr –
es tat ihm leid, dass die Angelegenheit so eskaliert war.
Triune lächelte, diesmal mit einer Andeutung von Wärme.
"Das ist doch schon mal etwas. Reue. Aber es genügt nicht, fürchte ich."
Barn grunzte. Was wollte die Alte denn noch? Er war es nicht gewohnt,
anderen Rechenschaft über seine Handlungen abzulegen. Mit dem Zugeständnis,
dass es ihm Leid tue, war er bereits ein ganzes Stück über die
traditionellen Grenzen eines Nordmanns hinausgegangen. Triune schüttelte den
Kopf, und ihre Locken rauschten wie der Wind in einem Weidenbaum.
"Du erinnerst mich an jemand, den ich gut kannte. Ein rücksichtsloser
Grobian, jähzornig und selbstgerecht; außerdem ein Mädchenjäger der übelsten
Sorte. Aber irgendwie mochte ich ihn. Deshalb werde ich dir die Gelegenheit
geben, deinen Fluch abzuwenden, indem du etwas Nützliches tust." Triune
grinste. Für einen Moment sah es so aus, als schöbe sich ein anderes
Gesicht, ein wesentlich jüngeres und lebendigeres, von hinten durch ihre
Maske der Alterslosigkeit. "Etwas Nützliches für mich."
"Und wenn ich dazu gar keine Lust habe?", knurrte der Nordmann.
"Das, mein Lieber, wäre keine gute Idee." Sie zog ihre Hand zurück und fuhr
dabei sanft mit dem Nagel des Zeigefingers über Barns Unterarm. Das Fleisch
klaffte auseinander und begann sofort heftig zu bluten.
Reflexartig schlug der Nordmann nach der Frau und traf sie hart im Gesicht.
Dann umklammerte er seinen verletzten Arm und sprang auf.
"Bist du bescheuert, Alte?", rief er aufgebracht.
Triune hielt sich die Wange und starrte den Barbaren erstaunt an.
"Du hast mich geschlagen?",
fragte sie, mit weiten, fast kindlich blickenden Augen. Ein einzelner, roter
Tropfen erschien in ihrem Mundwinkel.
Barn knurrte und machte sich auf alles gefasst. Ihm war mittlerweile klar
geworden, dass die Alte eine Art Hexe war, und sicher über unnatürliche
Kräfte verfügte.
Offenbar war er jedoch nicht auf wirklich alles gefasst.
Das laute, herzliche Gelächter der Frau traf ihn unvorbereitet. In seiner
Überraschung fiel ihm nichts anderes ein, als selbst zu lachen. Für ein paar
Augenblicke war der Raum so angefüllt von den Lauten der Anarchie, dass
selbst das Feuer im Kamin in ihrem Rhythmus zu flackern begann.
Triune beendete ihr Lachen so abrupt, wie sie es begonnen hatte. In ihren
Augen funkelte ein seltsames Licht, als sie sich ihr Blut von den Lippen
wischte.
"Du hast deinen Aufgaben gerade eine weitere hinzugefügt, Mann aus
Täppenwinkel", sagte sie in sachlichem Ton. "Die alten Gesetze verlangen
drei, aber diesen Schlag wirst du mir extra bezahlen. Jenseits der
Gesetze."
Barn klappte seinen weit offenen Mund ernüchtert wieder zu. Triune stand
auf.
"Fangen wir gleich mit der ersten Aufgabe an."
Der Nordmann blickte zu seinem Schwert und seiner Jacke. Die Frau schüttelte
den Kopf. "Das brauchst du nicht." Sie trat an ein Regal und zog eine
kleine, runde Flasche aus dünnem Glas heraus. Die Flüssigkeit darin
schimmerte perlhell. Der Nordmann sah, dass sich kleine Bläschen vom Boden
der Flasche lösten, als Triune sie ihm reichte.
"Trink das, und dann mach es dir bequem. Nach einer Weile wirst du wissen,
was du zu tun hast."
Barn zog den Stopfen aus der Flasche und schnüffelte an der Öffnung. Sie
roch größtenteils nach nichts, und nur ein bisschen nach Waldmeister.
"Was issen das?", fragte er misstrauisch.
"Ein Likör von Stachelbeerwein und Xerion. Aus eigener Herstellung",
erklärte Triune. "Ich habe keine Ahnung, wie es zusammen mit dem Theriak
wirkt, den du ausgesoffen hast, aber es könnte gut ausgehen."
"Ho, austrinken ist meine erste
Aufgabe?", fragte Barn ungläubig.
"Fast", antwortete die Frau. "Ich muss noch mal nach draußen, Dinge für die
Nacht richten." Sie zog ihre Kapuze über und verließ den Raum, ohne sich
noch einmal umzusehen.
Der Barbar blickte ihr nach, dann schüttelte er den Kopf. Die alte Hexe war
scheinbar ziemlich einfältig, wenn sie glaubte, er könne so ein kleines
Fläschchen nicht austrinken! Er setzte es an die Lippen und nahm einen
Schluck. Die Flüssigkeit war überraschend kühl und schmeckte, wie sie roch.
Ein wenig erinnerte sie Barn an den 'Nebelwein', den die Wirte in der
Gemarkung Beutelsbach ausschließlich an Durchreisende verkauften.
Er trank einen weiteren Schluck, und dann war die Flasche auch schon leer.
Nach Barbarenart warf er sie hinter sich und streckte sich auf den bunten
Kissen der Hexe aus.
Er grunzte behaglich und blickte an die Decke. Ho, für einen Augenblick
hatte er wirklich geglaubt, die Alte könnte ihm etwas antun, aber sie war,
wie alle alten Weiber, doch nur eine zahnlose Katze. Er überlegte, wie alt
sie sein mochte – so wie sie aussah, war sie mindestens zwei Handvoll Winter
älter als er, wenn nicht sogar mehr.
Wie alt er selbst war, wusste er gar nicht so genau. Früher, im Dorf, hatte
sich der Druide Godskalk um das Zählen der Winter gekümmert, und von jedem
Mann und jeder Frau gewusst, wie viele Jahre sie schon lebten. Doch seit
Barn allein durch die Welt zog, war er mit dem Rechnen etwas durcheinander
gekommen, zumal Zahlen nicht seine starke Seite waren. Allerdings war er
ziemlich sicher, dass er nicht mehr als zweimal zwei Handvoll Winter alt
war. Vor allem, weil es im Süden gar keine richtigen Winter gab.
Er schloss die Augen. Die für seine Verhältnisse komplexen Gedanken hatten
ihn angenehm müde gemacht, und die weichen Kissen taten das übrige.
Das dumpfe, langgezogene Heulen, das das Fensterglas in Triunes Stube zum
Beben brachte, hörte er schon nicht mehr.
*
Als er erwachte, schien die Sonne auf ihn. Er zwinkerte verwundert und sah
einen strahlend blauen Himmel über sich, in dem ein paar rosa Wölkchen
trieben. Er richtete den Oberkörper auf und fand sich inmitten eines sacht
wogenden Meers aus goldenem Korn. Fluchend sprang er hoch. Wo war das Zimmer
– wo war das Haus?
Er blickte an sich herab und sah, dass er fast nackt war – er trug nur die
kurze Stoffhose, die er vor Jahren auf einer Wäscheleine gefunden hatte, und
die ärmellose Weste aus Hamsterfellen, das Abschiedsgeschenk eines Mädels,
dessen Namen ihm schon seit langer Zeit nicht mehr einfiel. Und er war
unbewaffnet!
Es gab nur eine Erklärung – die alte Hexe hatte ihn mit ihrem Zauberwein
betäubt und dann durch Hexerei hierhergebracht!
Er fluchte noch einmal, hemmungslos und laut.
"Schschsch, Herr Barn, willst du, dass das Monster uns findet?"
Barn fuhr herum. Vor ihm stand ein alter Mann in einer schäbigen
Lederrüstung, die in seiner Jugend einmal gepasst haben mochte, mittlerweile
aber nur noch von Riemen auf dem angeschwollenen Leib gehalten wurde. Er sah
aus wie ein missratenes Brot, bei dem der Teig zwischen der Kruste
hervorquoll. Ein missratenes Brot mit der roten Nase eines Mannes, der den
Wein zu sehr liebt.
"Ho, wer bist'n du?", fragte der Barbar gereizt.
Der Mann blinzelte mit wässrigen Augen.
"Wie? Ich bin doch der alte Faktor, der Leibdiener von Fräulein
Sissiphone!", sagte er entrüstet. "Dein Kumpel Faktor! Ich selbst hab' dir
mitten in der Nacht einen Trunk gereicht, als du völlig von Sinnen über den
toten Esel gestolpert bist, nachdem das Biest den Wagen umgeworfen
hatte!"
Barn starrte ihn nur verständnislos an.
"Du hast alles vergessen, was? War wohl der Schlag auf den Kopf." Faktor
kratzte sich das oberste seiner stoppeligen Kinne. "Komm mit, aber sei
leise, das Biest ist immer noch da draußen. Und Fräulein Sissiphone schläft,
der Gnade von Ottwanz sei Dank!"
Der Mann führte Barn durch die raschelnden Halme zu einer Stelle, an der das
Korn großflächig niedergetrampelt war. Ein umgekippter, zweirädriger Wagen
lag hier, und zwischen seinen zerschmetterten Deichseln steckte in den
Resten des Gurtwerks ein sehr toter Maulesel und erfreute die Fliegen.
Im Schatten des Wagenbodens ruhte eine junge Frau in einem hellen Kleid, das
sich über ihrem Bauch beträchtlich wölbte. Sie war schwanger, doch an ihrer
ungewöhnlich blassen Haut, den braunen Ringen unter den geschlossenen Augen
und dem Schweiß auf ihrer Stirn erkannte der Nordmann, dass es nicht gut um
sie stand. Neben ihr kniete ein halbnacktes Kind unbestimmbaren Geschlechts
und fächelte der Schwangeren mit einem Strohhut Kühlung zu. Denn es war
warm. Sehr warm. Obwohl die Sonne noch nicht besonders hoch im Himmel stand,
flimmerte die Luft bereits über dem endlosen Meer der Kornähren, das sich in
alle Richtungen bis zum Horizont erstreckte.
"Ho, was ist mit ihr?", wollte Barn wissen. Die junge Frau trug die einfache
Kleidung eines Mädchens vom Land, aber ihre ungewöhnlich feinen Züge und ihr
sehr gepflegtes, goldenes Haar ließen deutlich erkennen, dass sie nicht auf
einem Bauernhof aufgewachsen war. Irgendwie kam sie Barn bekannt vor, obwohl
er sich nicht erinnern konnte, sie jemals gesehen zu haben.
"Das weißt du auch nicht mehr?" Faktor schüttelte den Kopf. "Fräulein
Sissiphone hat ihren Zustand bis jetzt vor ihren Schwestern geheim halten
können, doch jetzt, da es ihr so schlecht geht, würde ich sie am liebsten zu
ihnen zurückbringen. Aber sie besteht darauf, dass nur die wunderliche
Hebamme von Vollwangen ihr helfen kann."
Er zeigte mit einem knubbeligen Finger in die Ferne, wo sich hinter dem Korn
die spitzen Dächer einiger strohgedeckter Häuser erhoben.
"So nah sind wir gekommen, es wäre nur noch eine Viertelstunde Fahrt
gewesen, doch dann kam das Biest", seufzte er. "Jetzt können wir nur hoffen,
dass es sich wieder verzieht, bevor es für Fräulein Sissiphone zu spät
ist."
Barn hob eine Hand vor die Augen und spähte zu den Dächern hinüber. Wenn er
sich nicht ganz täuschte, sah er an einem Haus das Schild einer
Gastwirtschaft.
"Ho, was für'n Biest eigentlich?", fragte er nebenbei, während er überlegte,
wie er ohne eine einzige Kupfermünze an ein kühles Bier kommen konnte.
Der alte Faktor rollte die wässrigen Augen.
"Der wilde Keiler von Baron Molchomort von Boese natürlich! Er hat ihn
wieder herausgelassen, um die Bauern zu terrorisieren."
Der Barbar brummte. "'n Schwein? Ihr habt Angst vor 'nem Schwein?"
"Kein gewöhnliches Schwein! Die Bestie ist von einem Dämon besessen – sie
wütet schlimmer als die schrecklichen Waldbeeren und Löffen aus den
Geschichten der Wandermönche!", rief Faktor, alle Vorsicht vergessend. "Man
sagt sogar, dass sie die jungen Mädchen schändet, bevor sie sie frisst!"
Er hob seine speckige Lederkappe, um sich den Schweiß vom kahlen Schädel zu
wischen.
"Barn?"
Der Barbar blickte irritiert auf die junge Frau, deren Augen jetzt offen
waren. Woher wussten hier alle seinen Namen?
"Komm zu mir", sagte sie leise und klopfte mit der flachen Hand sanft auf
den Boden neben sich. Barn grunzte und ging zu ihr.
"Setz dich." Ihre Stimme klang kraftlos, und in ihren Augen glänzte das
Fieber. Aber sie lächelte. Der Barbar tat, worum er gebeten wurde, und die
Frau fasste seine rechte Hand und legte sie auf ihren Bauch.
"Kannst du es fühlen?" Barn grunzte noch einmal. Der Bauch wackelte, sonst
fühlte er nichts. "Ich bin so glücklich und stolz", sagte die Frau leise.
"Das kann mir niemand mehr wegnehmen, auch Megraine nicht." Sie hob Barns
Hand und drückte sie mit ihren beiden eigenen. "Es war die schönste Zeit in
meinem Leben, bisher." Ihre Augen blickten tief in seine. Sie waren golden,
wie das Korn, und sie strahlten wie die Sonne. Der Barbar fühlte sich etwas
unbehaglich. "Und ich bin sicher, sie wird noch schöner, wenn unser Kind
erst bei uns ist." Der Druck auf Barns Hand wurde fester. "Aber du musst mir
etwas versprechen."
Sie machte eine Pause und wartete, bis Barn begriff, dass er nicken sollte.
Also nickte er, obwohl etwas in ihm nicht damit einverstanden war.
"Falls mir etwas zustoßen sollte, dann nimm unser Kind mit in deine Heimat
und lass es dort aufwachsen, damit es so groß und stark und frei wird wie
du. Versprichst du mir das?"
Der Barbar grummelte etwas Unverbindliches, dann nickte er ein zweites Mal.
Innerlich verfluchte er die Hexe. In was hatte das alte Weib ihn da
verstrickt?
"Herr Barn, könnt ihr nicht Hilfe holen?"
Dass auch das Kind seinen Namen kannte, nahm der Barbar mittlerweile einfach
hin. Es war schlank und langgliedrig, mit Haaren von der Form und Farbe
eines aufgebrachten Igels, und sein Blick ruhte mit einer Intensität auf dem
Nordmann, die entweder bedingungslose Verehrung oder absoluten Hass
bedeutete.
Fräulein Sissiphone schüttelte sanft den Kopf.
"Es ist zu gefährlich, Sitta ", sagte sie.
Barn brummte. "Aber... 'n Schwein?" Er verstand es noch immer nicht. Als
Kind des Nordens war er mit Schweinen aufgewachsen und kannte sie gut.
Sicher, sie waren große, stinkende Viecher mit schlechten Manieren, und sie
konnten unangenehm werden. Aber wenn man sie richtig anging, rannten sie
quiekend davon.
"Barn, nicht." Sissiphone legte eine Hand auf Barns Arm. "Es ist viel zu
gefährlich."
Dann verzog sich ihr Gesicht plötzlich zu einer Grimasse des Schmerzes. Sie
schloss die Augen und atmete stoßweise. Nach einer Weile wurden ihre
Atemzüge wieder ruhiger, und sie hob die Lider.
"Scheint, als ginge es wieder los", sagte sie und versuchte sich an einem
Lächeln. "Aber keine Sorge, es ist nicht so schlimm."
Sie krümmte sich krampfartig zusammen und bewies damit das Gegenteil.
"Herrin!", rief das Kind aufgeregt.
"Alles in Ordnung, Sitta", keuchte Sissiphone kläglich und bekam einen
Hustenanfall.
"Herr Barn." Das Kind richtete seinen durchdringenden Blick erneut auf den
Nordmann. "Ihr seid ein großer Held, ihr müsst die Bestie besiegen. Das seid
ihr der Herrin schuldig."
Der Barbar brummte. Er war zwar nicht der Ansicht, hier irgendjemandem etwas
zu schulden, aber
großer Held genannt zu werden –
wenn auch nur von einem Kind – gefiel ihm. Er stand auf und sah hinüber zu
den fernen Dächern. Eine Viertelstunde zu Fuß, vielleicht weniger. Dann
konnte er im Dorf ein paar Leute zusammentrommeln, die Sissiphone, Faktor
und das Kind hier abholten. Und bei einem kühlen Bier warten, bis alle
zurückkamen. Was das Schwein anging, machte er sich keine Sorgen – er war
bisher noch mit jeder Sau fertig geworden.
Faktor trat neben ihn. "Du überlegst doch nicht wirklich, nach Vollwangen zu
laufen, Barn?", fragte der alte Mann besorgt. "Die Bestie wartet genau
darauf. Ich habe eben ihren Rücken gesehen – sie lauert vor dem Dorf."
"Ho, wo?"
Faktor hob den Arm. "Dieser rote Buckel – das ist sie!"
Barn blickte in die angezeigte Richtung. Da war tatsächlich etwas – eine
runde Erhebung, wie ein Erdhügel zwischen den Halmen. Er hob die Hand über
die Augen und sah genauer hin. Der Hügel hob und senkte sich – bei Gruunz,
wenn das ein Schwein war, dann war es wirklich ein Riesenvieh! Mindesten so
groß wie die Mastsau der alten Zicka, damals in Täppenwinkel,
"Warum kommt es nicht her?", fragte er.
Faktor zuckte mit den Schultern. "Keine Ahnung. Es hat den Wagen umgestoßen,
den Esel getötet, und dann isses plötzlich davongerannt."
"Ich weiß es!", rief das Kind Sitta. "Es ist die Herrin selbst!"
"Hm?", machte der Barbar.
Faktor nickte und kratzte sich die Kinne. "Manche behaupten, dass eine Frau,
die ein Kind trägt, als ein Symbol des Lebens die Kraft hat, Dämonen zu
bannen", sagte er nachdenklich. "Das bedeutet, wir sind hier sicher, solange
Fräulein Sissiphone... " Er brachte den Satz nicht zu Ende.
In diesem Augenblick bäumte Fräulein Sissiphone sich laut stöhnend auf und
kippte dann zur Seite. Dort blieb sie zuckend liegen.
Sitta schleuderte den Strohhut von sich. "Nun ist es genug!", schrie das
Kind. "Wenn ihr beiden nicht Manns genug seid, gehe ich in das Dorf!" Und
tatsächlich rannte es aus dem Schatten des Wagens hinaus ins Korn.
Barn zögerte, starrte kurz auf den blinzelnden Faktor, dann auf Sissiphone,
die verkrümmt am Boden lag, und hinüber zu den Dächern des Dorfes.
Schließlich zuckte er mit den Schultern und rannte los, hinter Sitta
her.
Zwischen den eng stehenden Halmen herrschte eine bedrückende Hitze. Schon
nach wenigen Schritten begann der Barbar zu schwitzen.
Sitta lief erstaunlich schnell, und Barn musste sich sogar ein wenig
anstrengen, um das Kind einzuholen. "Ho, geh' zurück, Kind!", befahl er, als
er es erreicht hatte. "Ich geh' allein ins Dorf!"
Sitta schüttelte den Kopf und rannte noch schneller. Barn fluchte und
folgte.
"Ho, das is' kein Spiel!", brüllte er und wischte sich die schweißnassen
Haare aus dem Gesicht.
Staub und Fasern von dem niedergetrampelten Getreide füllten die Luft,
verklebten ihm Mund und Nase und brachten seine Augen zum Tränen. Er
blinzelte hektisch – er durfte das Dorf nicht aus dem Blick verlieren.
Dann hörte er von irgendwo ein tiefes, heiseres Bellen. Und plötzlich bebte
die Erde.
Gleichzeitig begann Sitta zu schreien.
"Der Dämon kommt, Herr Barn! Der Dämon!"
Barns linke Hand zuckte automatisch zur rechten Schulter, um Windmacher zu
ziehen. Aber das Schwert war natürlich noch im Haus der verfluchten
Hexe!
Er knirschte mit den Zähnen, ballte die Fäuste und rannte weiter.
Sitta war etwa zehn Schritte vor Barn stehengeblieben und gestikulierte wild
mit den Armen. Fünfzig Schritte jenseits des Kindes wogten die Halme um eine
gewaltige, dunkle Masse, die sich in einer Wolke aus Spreu und Staub einen
Weg durch das Korn bahnte. Dahinter, und etwas links davon, lag das Dorf,
bis dorthin mochten es etwa zweihundert Schritte sein. Vielleicht die Hälfte
mehr, wenn man einen weiten Bogen um das heranstürmende Biest machte.
Barn blieb stehen. Es war eine gruunzverfluchte dreifache Zwickmühle.
Er konnte Sitta sich selbst überlassen, zum Wagen zurückkehren und abwarten,
ob das Schwein irgendwann die Lust verlor und sich andere Opfer suchte. Er
konnte Sitta als Ablenkung benutzen und weiterlaufen zum Dorf, in der
Hoffnung, dort Hilfe zu finden.
Oder er konnte ein Held sein und das Schwein angreifen.
Die ungeschriebenen Gesetze der Krieger des Norlands waren in diesem Fall
eindeutig:
wenn dir von allen möglichen Entscheidungen keine gefällt, dann
entscheide nicht.
Mit lautem Gebrüll rannte er los, erreichte Sitta und warf sich das Kind
über die Schultern. Dann machte er einen Bogen und lief weiter - auf das
Dorf zu. Dabei versuchte er, den anstürmenden Keiler nicht aus den Augen zu
verlieren.
Das Ungeheuer reagierte zunächst nicht und donnerte in die ursprüngliche
Richtung weiter – dorthin, wo Sitta eben noch gewesen war. Doch dann stieß
es ein dumpfes Röhren aus, wie es Barn noch nie zuvor von irgendeinem
Schwein gehört hatte, und warf sich herum. Dreck und ausgerissene Halme
spritzen auf wie Gischt um das Heck einer wendenden Kriegsgaleere.
Zum ersten Mal konnte Barn einen genaueren Blick auf das Tier werfen, und
wünschte gleich darauf, er hätte es nicht getan. Faktor hatte Recht gehabt,
es war kein gewöhnliches Schwein.
Barn war sich nicht einmal sicher, ob es überhaupt ein Schwein war.
Es war von einem zottigen, schmutzverkrusteten Fell von der Farbe alten
Blutes bedeckt. Der breite Keil des Kopfes allein hatte schon die Größe
eines normalen Ebers, der Leib dahinter war fassförmig, massiger als der
eines Zugochsen und trug einen gewaltigen Buckel, der fast wie ein Geschwür
wirkte. Die großen Ohren waren vielfach eingerissen, ein Zeugnis
hemmungsloser Aggressivität. In der langestreckten Schnauze steckte ein
wirres Arsenal aus gebogenen Hauern, jeder davon länger als Barns treuer
Dolch Schinkenschneider, und an die Stirn hatte jemand dem Biest ein Geweih
aus rostigem Metall genagelt.
Das Schrecklichste aber waren die Augen: obwohl sie, wie bei Schweinen
üblich, klein und verkniffen seitlich im Schädel steckten, konnte der Barbar
sie deutlich sehen, denn sie leuchteten rot.
Barn fluchte laut und rannte schneller.
In seiner Heimat hatte er sich bereits als Halbwüchsiger einen Namen als
exzellenter Schweinereiter gemacht, aber dieser abscheulichen Bestie wollte
er nicht näher kommen als den flammenden Gruben des grässlichen
Flabbergasst.
Das Dämonenschwein dagegen hatte keine Hemmungen – mit einem fast
menschlichen Schrei jagte es dem Barbaren hinterher.
"Wirf' mich ab, dann bist du schneller!", keuchte Sitta in Barns Ohren.
"Rette dich, um die Herrin zu retten!"
"Quatsch!", brüllte der Barbar. Das Dorf war keine hundert Schritte mehr
entfernt, Barn sah bereits die niedrige Mauer aus grauen Steinen, an der das
Kornfeld endete, und dahinter eine Palisade aus zugespitzten Baumstämmen.
Doch dann rammte ihn etwas von hinten mit der Wucht eines Schleudersteins.
Er wurde von den Beinen gerissen und wirbelte durch die Luft. Sitta fiel mit
einem schrillen Schrei von seinen Schultern, dann schlug der Barbar zwischen
den goldenen Halmen auf. Instinktiv krümmte er sich zusammen und rollte
durch das Korn. Er schmeckte Blut, und irgendetwas stimmte mit seinem Rücken
nicht, aber er sprang sofort wieder auf und drehte sich um.
Das Schwein war stehengeblieben und schnüffelte an dem regungslosen Körper
von Sitta. Dann hob es den riesigen Kopf und starrte den Barbaren aus seinen
roten Augen an. Das hauerbewehrte Maul schien sich zu einem boshaften
Grinsen zu verziehen.
Schwer atmend starrte der Nordmann zurück.
Für einen endlosen Moment maßen der Mensch und die besessene Bestie einander
über das wogende Gold des Korns hinweg mit Blicken – bis der Keiler sich mit
einem Schnauben abwandte und mit einer fast beiläufigen Drehung des Kopfes
Sitta einen Arm abriss. Zufrieden auf dem blutigen Glied in seiner Schnauze
kauend, trabte es langsam davon.
Der Barbar hatte Schwierigkeiten, das Geschehen zu begreifen. Es war völlig
natürlich, wenn ein Schwein vor ihm davonlief – aber dass es ihm verächtlich
den Rücken zudrehte, das hatte er noch nie erlebt. Als dann langsam das
Verständnis einsickerte, dass ihn die Bestie wohl nicht als würdigen Gegner
ansah, ja, nicht einmal für eine lohnende Beute hielt, reagierte er auf die
einzige Weise, die einem Nordmann in dieser Situation übrig blieb: er wurde
wütend. Und zwar so richtig.
Die rote Flut des Zorns spülte alle Benommenheit und allen Schmerz davon,
ließ seine Muskeln schwellen und schärfte seinen Blick.
Jetzt erst sah Barn, dass das Tier von zahllosen Kämpfen gezeichnet war –
das rostrote Fell war an vielen Stellen schütter, an den Flanken fehlte es
fast völlig und zeigte eine ledrige schwarze Haut, die von schlecht
verheilten Wunden und eiternden Geschwüren bedeckt war. Abgebrochene Klingen
und die Reste von Pfeilen steckten in den Keulen der Hinterbeine, und aus
dem Buckel ragte der Griff eines großen Messers, das tief in den Körper
eingedrungen sein musste. Eigentlich war es ein Wunder, dass das Schwein
überhaupt noch lebte.
Barns Augen fixierten den Messergriff. Ein simpler Plan wurde ihm vom
Anblick der halb versunkenen Waffe fast aufgezwungen. Es war so einfach: er
musste die Waffe nur noch ein wenig tiefer hineindrücken, dann wäre alles
vorbei und Sitta gerächt. Ho, er würde die Bestie lehren, einem Nordmann den
Rücken zu kehren!
Er sog einen letzten, tiefen Atemzug in seine Lungen, dann sprintete er los.
Der Keiler schien ihn nicht zu bemerken. In wenigen Augenblicken überwand
der Mann aus dem Norden die Distanz zu dem Tier, dann sprang er hoch in die
Luft, um genau auf dem Rücken des Schweines zu landen.
Doch plötzlich stimmte gar nichts mehr: schneller, als die Augen des
Barbaren zu folgen vermochten, drehte sich die Bestie um und schnellte ihm
entgegen.
Ein tiefes, langgezogenes Heulen hallte wie Gewitterdonner durch Barns Kopf,
und eine kalte Stimme sagte: "Du bist ein
Narr, Barbar."
Dann drangen die rostigen Spitzen des Geweihs tief in Barns Brust und
durchbohrten sein Herz. Für den Barbaren erlosch die Sonne.
*
Krampfhaft hustend fuhr der Barbar hoch. Die Welt um ihn war ein
verschwommenes Chaos heller Farben. Er spürte einen stechenden Schmerz in
der Brust, Atmen war fast unmöglich. Verzweifelt tastete er um sich, auf der
Suche nach Halt, denn er hatte das Gefühl, zu fallen. Seine Hände fanden nur
weiche, plumpe Körper aus Stoff. Kissen, sagte ihm sein Verstand, aber das
half nicht weiter.
Dann fühlte Barn eine kühle Berührung auf der Stirn. Sehr plötzlich ließ der
Schmerz nach, und er konnte wieder atmen. Gierig sog er Luft in seine
Lungen. Sie war warm und erfüllt von aromatischen Düften.
Sein Blick wurde klar. Er erkannte die Umgebung und stieß einen Fluch aus:
er war wieder im verdammten Zimmer der verdammten Hexe!
Und die Alte selbst war über ihn gebeugt, mit einem sonderbaren Ausdruck in
ihren stählernen Augen.
Barn ballte die Fäuste. "Was machst du mit mir, Zauberweib?", stieß er
zornig hervor.
Triune lächelte milde.
"Ich sehe nur zu", sagte sie rätselhaft.
Der Barbar richtete sich auf und blickte sich um. Seine Jacke, sein Schwert
und die Stiefel, alles war noch da. Das Feuer brannte unverändert, und vor
dem Fenster wallte die Dunkelheit.
"Aber das Feld, die Leute, das Dämonenschwein?", fragte er verwirrt.
"Ein Schwein?" Triunes Lächeln wurde zu einem spöttischen Grinsen. "Hat es
ein Kleid getragen?"
Barn schnaubte verärgert. Dann betastete er seine Brust. Mit Schaudern
erinnerte er sich daran, wie die rostigen Spitzen des Geweihs tief in sein
Fleisch eingedrungen waren, wie seine Rippen nachgegeben hatten, wie sein
Herz durchbohrt worden war. Aber seine Finger fanden keine Verletzung, nur
dicke, verschwitzte Muskeln. Auch die Fellweste war unversehrt. Hatte er
alles nur geträumt?
Er rieb sich den Kopf. Warum musste ihn dieses verfluchte Schwein auch noch
in seinen Träumen verfolgen? Dabei war es doch selber schuld! Hätte es nicht
heute früh seinen Weg gekreuzt, und hätte Brassica nicht am Abend zuvor so
verständnislos reagiert, als er beim Erntetanz vielleicht ein bisschen zu
betrunken gewesen war, dann könnte er jetzt im Dorfkrug von Brokel sitzen,
mit einem kalten Bier vor sich und einer fettglänzenden Knackwurst auf dem
Teller!
Triune reichte ihm einen Krug aus grauem Steingut. Er war beschlagen, und
der Inhalt zischte leise.
"Trink das, das wird helfen", sagte sie.
Barn nahm den Krug und starrte ihn an wie die rettende Hand einer Fylgja am
Ende einer verlorenen Schlacht. Bei Gruunz, genau solche Humpen hatten sie
in Brokel! Ohne Zögern setzte er an und trank einen großen Schluck.
Angenehme Kälte umspülte seine Zunge, dann rann die Flüssigkeit frisch und
prickelnd seine Kehle hinunter.
Er hob den Humpen vor die Augen und grunzte anerkennend. Das war besser als
das Zeug aus dem Dorfkrug, das war sogar das verdammt beste Bier, das er
seit langer Zeit gekostet hatte! Er trank den Rest in einem Zug und reichte
den Humpen zurück an Triune.
"Ho, gibt's noch mehr davon?", fragte er und leckte sich die Lippen. Das
Prickeln breitete sich in seinem ganzen Körper aus und wärmte und kühlte ihn
zugleich.
Die Frau hob die Augenbrauen. "Ich bin mir nicht sicher, ob das gut wäre. Es
ist aus den Binden alter Mumien gebraut und sehr stark."
Der Barbar grinste, bis ihm der Sinn der Worte klar wurde.
"Aus was?", rief er dann, mit
mehr als nur einem Anklang von Hysterie in der Stimme.
"Aus Mumienbinden." Triune lächelte freundlich. "Der Sud ist unter
Zauberkundigen ein Vermögen wert. Es ist eine Ehre, einen ganzen Krug davon
trinken zu dürfen."
Der Barbar empfand das absolut nicht so. Seine Hände fuhren zum Hals, in dem
plötzlich ein dicker Klumpen zu stecken schien. Das Prickeln, eben noch so
angenehm, wurde jäh zu einem stechenden Schmerz, als hätte er gestoßenes
Glas im Magen. Er konnte kaum mehr atmen, ihm wurde schwindlig, der Raum
begann sich zu drehen. Barn würgte in dem verzweifelten Versuch, die
Flüssigkeit wieder loszuwerden. Aber es war zu spät. Eine schwere Dunkelheit
legte sich über ihn wie eine verschwitzte Decke und zwang ihn zu Boden.
Das letzte, was er wahrnahm, war Triunes Stimme: "Gut, vielleicht keine
Ehre, aber auf jeden Fall der Beginn deiner zweiten Aufgabe."
*
Kräftige Hände rüttelten Barn an den Schultern.
"Herr Barn, Herr Barn! Karach Schraoch und seine Horden haben Ilions Tor
durchbrochen und sind in der Stadt! Herrin Alexo braucht uns!"
Der Barbar knurrte. "Seht ihr denn nich', dass ich schlafe?", rief er
unwirsch.
"Ich kann einen Eimer kaltes Wasser über Euch ausgießen, wenn Euch das
besser gefällt", war die humorlose Antwort.
Grunzend stemmte sich der Nordmann hoch. Er lag auf einer schmalen, harten
Pritsche in einer kleinen, dunklen Kammer. Ein gerüsteter und bewaffneter
Mann mit einer Fackel in der Hand beugte sich über ihn. Sein Gesicht war
grimmig.
Barn rieb sich die Augen. Der Mann sah aus wie Faktor, der Diener von
Fräulein Sissiphone. Aber er war ein Faktor, der das harte Leben eines
Kriegers geführt hatte, mit Muskeln, die denen des Nordmanns nur um weniges
nachstanden. Statt einer Glatze und zahlreicher Kinne hatte er lange, graue
Haare und einen gepflegten Stoppelbart.
"Also, was is' los, Mann?", fragte Barn, während er seine Arme streckte und
herzhaft gähnte.
"Schraoch ist durchgebrochen. Uns bleibt nicht viel Zeit, um die Herrin und
ihre Schwester in Sicherheit zu bringen. Hört nur!"
Faktor hob einen Finger. Die Kammer hatte ein kleines, mit gekreuzten
Holzlatten vergittertes Fenster. Dahinter war es Nacht, und die Nacht war
erfüllt von Geschrei, dem Geräusch hastender Füße und dem fernen Geklirr von
Waffen.
Barn glaubte, auch einen schwachen, roten Schein am Himmel zu sehen, als
brenne irgendwo ein großes Feuer.
Er seufzte und stand auf. Schaffte die Hexe ihn durch Zauberei an diese
Orte, oder träumte er schon wieder? Er kniff sich kraftvoll in die Nase. Das
tat ziemlich weh, also war er wohl wirklich hier – wo immer das war.
"Was jetzt?", fragte er lustlos.
Faktors Gesicht verzog sich ärgerlich. "Habt ihr wieder zu viel Mumienbier
gesoffen, Herr Barn? Wir haben das seit dem Beginn der Belagerung jeden Tag
trainiert."
Barn zuckte bei der Erwähnung des schrecklichen Biers zusammen, aber er
schob die Erinnerung gewaltsam zur Seite und hob entschuldigend die
Schultern: "Ho, Mann, ich bin nur müde, Mann."
"Dann kommt, die Zeit läuft uns davon!"
Faktor verließ den Raum, und Barn folgte ihm durch einen dunklen Gang.
Fenster auf beiden Seiten boten einen Blick hinunter auf die Dächer und
Türme einer großen Stadt, schwarz und silbern im Licht eines tiefstehenden
Mondes. In der Stadt herrschte Aufruhr: überall tanzten hektisch die
Leuchtpunkte von Fackeln, und lautes Geschrei brandete auf wie das Tosen
einer stürmischen See. In der Ferne – Barn schätzte die Distanz auf über
eine Meile – stiegen die Flammen eines gewaltigen Feuers in den Nachthimmel.
Ein ganzes Viertel brannte. Was hatte Faktor gesagt? Karach Schraoch und
seine Horden waren in der Stadt. Offensichtlich leisteten sie ganze
Arbeit.
"Keine Zeit, die Aussicht zu genießen!" Faktor wartete ungeduldig an einer
kleinen Tür.
Dahinter lag ein breiter Korridor, der von ernst blickenden Statuen gesäumt
war. Farbenprächtige Mosaiken und goldbeschlagene Truhen funkelten im Licht
von Faktors Fackel, ein weicher Teppich umschmeichelte Barns nackte Füße.
Der Barbar stieß einen leisen Pfiff aus – wer hier wohnte, musste eine Menge
Geld haben!
Hinter einer großen, zweiflügeligen Tür aus poliertem Muggahholz, die Faktor
eilig auftrat, wurde die Ausstattung noch prachtvoller – die Statuen ein
ganzes Stück größer, die Mosaiken prächtiger und die Teppiche üppig wie ein
gepflegter Rasen; es gab sogar Springbrunnen mit kleinen, roten Fischen
darin. Wie die Segel himmlischer Schiffe hingen über allem riesige Banner
aus schimmernder Seide und bewegten sich sachte im Wind. Barn staunte – hier
war mehr Reichtum, als die vereinten Stämme des Norlandes in zehn Jahren
zusammenrauben konnten. Selbst die Luft roch kostbar. Das war kein Haus, das
war ein Palast!
Die Gruppe aufgeregter Frauen, die sich in einer Ecke versammelt hatte, bot
einen starken Kontrast zu dem umgebenden Luxus. Ihre Kleidung war
unordentlich, die Gesichter verschmiert und die Frisuren im Zustand der
Auflösung. Als sie die beiden Männer entdeckten, schrien sie wild
durcheinander. Manche flohen, andere blieben wie erstarrt stehen. Zwei von
ihnen warfen sich Faktor und Barn vor die Füße.
"Ihr Krieger! Wir flehen Euch an – nehmt uns mit euch!", jammerte die erste
mit tränenschwerer Stimme. Sie raufte sich die schwarzen Haare, als wolle
sie sie ausreißen.
"Wir tun auch alles, was ihr wollt, alles!", rief die andere. Sie griff nach
der goldenen Spange, die ihr Kleid hielt, riss sie ab und entblößte ihren
Oberkörper. "Alles!" Ihre schweren, blassen Brüste wogten vor Erregung.
Faktor packte den faszinierten Barbaren am Arm und zog ihn weiter. "Wir
können nichts für sie tun", sagte er durch zusammengepresste Zähne.
Als die Frauen begriffen, dass sie keine Hilfe zu erwarten hatten,
verstummte ihr Jammern. Die Schwarzhaarige richtete sich auf und bedachte
Faktor mit einem kalten Blick. "Dann tötet uns. Oder, wenn ihr zu feige dazu
seid, gebt uns wenigstens eine Waffe", sagte sie tonlos.
Faktor blieb stehen. Seine Hände zuckten. Dann senkte er die Fackel, löste
sein Schwert vom Gürtel und warf es der Frau zu.
"Es tut mir leid", sagte er leise.
"Mir auch." Die Schwarzhaarige zog das Schwert aus der Scheide und starrte
es an, als sei es eine Viper.
"Kommt, Herr Barn, hier gibt es nichts zu sehen." Faktor öffnete eine
weitere große Tür mit einem Tritt, schob den Nordmann hindurch und folgte
ihm. Dann legte er sorgfältig den goldenen Riegel vor. Hinter der Tür
ertönte ein erstickter Schrei.
"Ho, was war das denn?", fragte
Barn verstört.
Faktor rieb sich die Augen. "Sie alle haben gehört, oder sogar selber
gesehen, was Schraoch und seine Schänder vor den Toren mit den Gefangenen
gemacht haben", sagte er und wandte sich ab. Die gesenkte Fackel steckte er
achtlos in eine Vase, wo sie zischend erstarb.
"Und warum können wir sie nicht mitnehmen?" Dem Barbaren hatte das Angebot
der offenherzigen Frau durchaus zugesagt.
"Für einen Söldner stellt Ihr verdammt seltsame Fragen", knurrte Faktor. "Es
sind nur Dienerinnen."
Der Nordmann grunzte, von dieser Antwort nicht zufriedengestellt. Was eine
Frau beruflich machte, hatte ihn noch nie von etwas abgehalten.
"Kommt jetzt!", rief Faktor ungeduldig. Er stand schon an der nächsten Tür.
Diesmal trat er sie nicht auf, sondern öffnete sie langsam und
respektvoll.
"Herrin Alexo!", rief er gedämpft. "Wir sind hier."
Er erhielt keine Antwort. Stattdessen kam aus dem Raum das scharfe Geräusch
eines zersplitternden Gefäßes. Die zwei Krieger zuckten zusammen. Faktor
blickte Barn an, Barn blickte Faktor an. Barn nickte. Beide missverstanden
einander und stürmten gleichzeitig in den Raum. Ihre Schädel
kollidierten.
Mit den phänomenalen Reflexen eines Mannes, der schon in der Kindheit keinem
Zusammenstoß aus dem Wege gegangen war, sprang der Barbar blitzschnell
wieder auf, rieb sich den Kopf und sah sich um.
Der Raum war groß wie eine Thronsaal, und doch eindeutig ein Schlafzimmer,
denn er wurde von einem Bett dominiert, das etwa die Größe einer
Ringkampfarena hatte und offensichtlich ähnlichen Zwecken diente, denn die
üppig bestickte Bettwäsche zeigte Männer und Frauen in Positionen, die gut
trainierte Körper erforderten. Nach einer Weile wandte der Barbar seinen
Blick davon ab und sah, dass der gesamte hintere Teil des Raumes sich zu
einer weitläufigen Terrasse öffnete, auf deren marmorner Balustrade
vergoldete Heldenfiguren mit namenlosen Scheusalen kämpften.
Im Mondlicht stand dort als Schattenriss eine hochgewachsene Gestalt.
"Ihr seid spät", sprach eine Frauenstimme. Sie klang dunkel und kräftig, wie
eine Rohrflöte aus Palisander. "Seht euch an, was sie aus
meiner Stadt machen!"
Sie winkte den beiden Männern, zu ihr zu kommen. Die langen Nägel ihrer
schlanken Finger blitzten im Mondlicht, als wären sie aus Stahl.
Barn wich vorsichtig den im Eingangsbereich der Terrasse verstreuten
Scherben einer zerschmetterten Vase aus und blieb dann in einigem Abstand
von der Frau stehen.
Herrin Alexo bot einen furchterregenden Anblick – ihr langer Leib war von
Kopf bis Fuß in überlappende Lagen aus schwarzem Stoff gekleidet. Aus einem
flügelförmigen Schulterschmuck wuchsen zwei gebogene Dorne, die wie
Skorpionenstachel ihren Kopf überragten. Und ihr Gesicht war verhüllt von
einem spinnwebartigen Schleier, der unruhig im Wind wehte – was vor allem
deswegen bemerkenswert war, weil sich auf der Terrasse kein Wind rührte.
"Verzeiht die Scherben", sagte Alexo in einem Ton, der deutlich machte, dass
ihr die Verzeihung anderer völlig gleichgültig war. "Aber ich musste meinem
Unwillen Ausdruck verleihen."
Sie deutete mit einer grandiosen Geste auf die brennende Stadt. "Über
Jahrhunderte ist mein Ilion gewachsen! Wie ein Kristall, der aus einem
unscheinbaren Kern zur sterngleichen Schönheit wird. Und nun kommt diese
Bestie, die einzig nach Zerstörung trachtet, und zerschlägt es mit dem
Hammer maßloser Wut zu Staub!"
Mit eleganter Geste griff Alexo eine kleine Amphore von einem
Beistelltischchen und zerschmetterte sie kraftvoll auf den Marmorfliesen.
Die Splitter flogen wie Geschosse umher.
"Die Stadt ist verloren. Doch er wird mit ihr untergehen, dieser Schänder
allen Lebens, auf eine Weise, die selbst ihn entsetzen wird!"
Sie richtete einen langen Finger auf Barn. "Du!", sagte sie dunkel. "Das
Orakel der dreifachen Göttin sprach von einem Kind des trunkenen Gottes, das
mir meine Rache vollenden hilft!"
Barn blickte sich neugierig um, aber hinter ihm stand kein Kind. Also war
wohl er gemeint. Er zuckte mit den Schultern. Die Frau hob langsam den Arm,
und ihr Finger zeigte jetzt auf etwas, das sich weit hinter und über dem
Barbaren befinden musste.
"Du wirst mich zum Heiligtum auf dem höchsten Punkt der Stadt begleiten, und
dort werden wir Karach Schraoch zu Fall bringen!"
Neben Barn scharrte Faktor unruhig mit den Füßen. "Aber Herrin", sagte er,
nachdem er tief Luft geholt hatte. "Der Plan war doch, Euch und Fräulein
Sissiphone zum Hafen und in Sicherheit zu bringen?"
Alexo lachte laut und schrill. "Der Plan?", rief sie voll Bitterkeit.
"Euer Plan, Hauptmann Faktor!
Ich werde
mein Ilion nicht diesem Monstrum
überlassen und feige davonlaufen!"
Faktor fuhr sich durch den Stoppelbart. "Aber... ", begann er, doch eine
herrische Geste ließ ihn verstummen.
"Mein Wort in dieser Sache ist endgültig. Der Barbar begleitet mich zum
Telesterion. Ihr, Hauptmann, werdet Sissi finden und ebenfalls dorthin
bringen!"
"Fräulein Sissiphone ist nicht bei euch?", fragte Faktor alarmiert.
Alexo winkte ab. "Ich habe sie in die Ställe geschickt, ein fettes Schwein
zu holen, schließlich hat die dreifache Göttin ein Recht auf ein
angemessenes Opfer."
Faktor senkte den Kopf. "Natürlich. Ich gehe sie holen, Herrin."
Barn grunzte. Schon wieder ein Schwein! Diese dauernden Anspielungen gingen
ihm auf die Nerven.
Die Frau wandte ihren windlos wehenden Schleier dem Nordmann zu. "Auf denn,
Kind des trunkenen Gottes, bring mich zum Tempel! Den Weg dahin erinnerst du
sicher noch?"
Barn erinnerte sich natürlich nicht an den Weg, denn er war ihn nie
gegangen. Doch Alexo war ohnehin niemand, der einem anderen Menschen folgen
würde, und so war sie es, die führte. Trotz ihres engen, umständlichen
Kleides eilte sie mit einer Geschwindigkeit durch die Hallen und Korridore
des Palastes, die den Barbaren fast zum Laufschritt zwang. Nur die
prunkvollen Marmortreppen bewältigte sie nicht so gut, denn sie trug
exotisches Schuhwerk, dessen absurd hohe Absätze dünn wie Messerklingen
waren.
Die Gänge schienen endlos, und Barn wurde nervös. Wo immer ein Fenster oder
eine Tür sich nach außen öffneten, machten der brandrote Himmel, der Geruch
von Rauch und der anschwellende Lärm deutlich, dass die Eroberer dem Palast
näher kamen. Und an der Art der Schreie, die ihr Vorrücken begleiteten,
konnte man erkennen, dass sie keine barmherzigen Naturen hatten.
Der Barbar begann, sich nach Waffen umzusehen, aber die einzigen, die er
fand, bestanden aus Marmor und befanden sich in den Händen von
Heldenstatuen. Wo waren die Verteidiger, wo war die Palastwache? Außer
Faktor hatte er in dem großen Gebäude keinen einzigen Krieger gesehen. Waren
alle anderen bei der Verteidigung des Stadttors gefallen? Oder waren sie
schon lange zuvor geflohen?
Der Weg führte Barn und Alexo kontinuierlich nach oben. Mit der Zeit und der
Höhe wurden die Gänge nüchterner und enger, die Mosaiken machten erst
Wandmalereien und dann einfachen, geometrischen Mustern Platz, bis es
schließlich links und rechts nur noch blankes, schmuckloses Mauerwerk gab,
dessen Steine von einem beträchtlichen Alter zeugten.
Nach einer besonders langen, steilen und ziemlich ausgetretenen Treppe blieb
Alexo vor einer Tür aus grün verfärbter Bronze stehen. Zum ersten Mal seit
Beginn der Reise sprach sie wieder zu Barn.
"Hinter dieser Tür beginnt das Reich der dreifachen Göttin. Es ein kalter,
zugiger Ort voller Schatten, und auch, wenn er eigentlich mitten in Ilion
liegt, ist er kein wirklicher Teil der Stadt. Sei also auf der Hut,
Barbar."
Barn brummte nur. Er war angespannt genug, er brauchte nicht auch noch
mysteriöses Geschwätz von Orten voller Schatten.
"Und jetzt öffne verdammt nochmal diese Tür für mich!", riss ihn Alexo mit
lauter Stimme aus seinen Gedanken.
Der Barbar sah keinen Türgriff, also drückte er einfach gegen das Metall,
und tatsächlich schwang die bronzene Tür knarrend auf. Ein kalter Wind von
der anderen Seite wehte Barn die langen Haare ins Gesicht, so dass er die
seltsame Welt dahinter erst genauer betrachten konnte, als Alexo bereits ein
paar Schritte weit hineingegangen war.
Ein felsiger Gipfel ragte vor ihm auf, über den eilige Wolkenfetzen
hinwegzogen. Auf der Spitze befand sich ein kleines Gebäude, ein offener,
runder Säulentempel mit einer gewölbten Kuppel. Ein gewundener Pfad führte
zu diesem Tempel hinauf, und an seinem Eingang stand eine Gruppe von
Figuren, die der Barbar nicht genauer erkennen konnte, die aber ein
seltsames Unbehagen in ihm auslösten.
Das Ungewöhnlichste an der Szene war der Himmel – er war nicht schwarz, wie
ein ordentlicher Nachthimmel, sondern von der dunkelroten Farbe alten
Blutes. Hatte der Brand sich bereits so weit ausgebreitet, dass er den
Horizont umschloss?
"Trödle nicht, Barbar!", rief Alexo, die eilig aufstieg. "Wir wollen alles
hergerichtet haben, wenn Sissi mit dem Opfer kommt!"
Barn setzte sich grunzend in Bewegung. Der steile Pfad war kein Problem für
einen Mann aus einem Land, in dem Kinder schon klettern konnten, bevor sie
laufen lernten. Aber er ging ihn trotzdem langsam und bedächtig, denn er
hatte es nicht eilig, dem seltsamen Himmel noch näher zu kommen.
Als er eine Weile gestiegen war, blickte er sich um und stellte verwundert
fest, dass er weder den Palast noch die Stadt unter sich sehen konnte. Wo
beide sein sollten, floss nur ein tiefschwarzer Nebel, der sich von Horizont
zu Horizont zog und dort mit dem roten Himmel verschmolz. Barn schnüffelte.
Es war kein Rauch. Wenn in der kalten Luft überhaupt ein Geruch lag, dann
war es der von rostigem Eisen.
Stirnrunzelnd stieg er weiter.
Schließlich erreichte er die Figurengruppe vor dem Eingang. Während Alexo
direkt in den Tempel ging, blieb Barn stehen, um herauszufinden, was ihn aus
der Ferne so irritiert hatte.
Die Gruppe bestand aus vier lebensgroßen Statuen – drei Frauen, die sich an
den Händen hielten und einen Kreis bildeten, und ein Mann, der in der Mitte
dieses Kreises stand. Barn brummte überrascht: die Figur, die ihm am
nächsten war, sah genauso aus wie das Fräulein Sissiphone aus seinem ersten
Traum. Die zweite Frau ließ ihn die Stirn runzeln – sie sah ebenfalls aus
wie Sissiphone. Die dritte war nur an der Körperform als Frau zu erkennen,
das Gesicht war von einer tiefen Kapuze verhüllt.
Was ihn aber am meisten beschäftigte, war die Statue des Mannes in der
Mitte: ein muskulöser Riese mit langem Haar, kräftigem Kinn und einer großen
Nase, der dem Barbaren sehr vertraut erschien, ohne dass er sich erinnern
konnte, ihn bereits einmal getroffen zu haben.
"Verdammt, Barbar!", kam die aufgebrachte Stimme der
Herrin aus dem Inneren des
Tempels. "Steh da nicht wie versteinert, sondern komm und
hilf mir!"
Barn blickte hinauf in die windzerzausten Wolken und seufzte. Der Tag hatte
schlecht angefangen, und die Nacht entwickelte sich nicht besser.
Er wollte den Tempel gerade betreten, da erschien am Fuß des Pfades ein
Licht. Verwundert sah Barn, dass sich scheinbar im Nichts ein helles
Rechteck geöffnet hatte. Ein Schatten huschte hindurch, dann erschien der
Umriss einer Gestalt.
Jemand brüllte:
"Sie kommen!" Trotz der von
Entsetzen verzerrten Stimme erkannte Barn, das es Faktor war.
"Ho, hier oben, Mann!", rief er und winkte.
"Was ist denn jetzt schon wieder los, Barbar?", kam Alexos ärgerliche Stimme
aus dem Tempel, gefolgt von ihr selbst. Ihre schwarze Gestalt strahlte eine
sengende Ungeduld aus. Barn zeigte wortlos auf das leuchtende Rechteck, in
dem jetzt ein zweiter Umriss auftauchte.
Die Frau nickte in Richtung des Lichts.
"Das ist Sissi!" Sie hob einen Arm und winkte. "Wo ist das Schwein?", rief
sie nach unten.
"Karach Schraoch und seine Schänder sind hinter uns!", kam es statt einer
Antwort hoch und schrill von dort zurück.
Alexo stieß ein kompliziert klingendes Wort aus, und ein kalter Windstoß
fuhr vom Himmel herab. Dann rannte ein bleiches Ding aus der Dunkelheit
direkt vor Barns Füße. Instinktiv packte der Barbar zu.
Als er erkannte, was er in den Händen hielt, hätte er fast wieder
losgelassen – es war ein schwer atmendes Schwein, sehr ähnlich dem, das er
heute Morgen in Brassicas Kleid gesteckt hatte. Das Schwein war offenbar in
Panik, denn es besudelte dem Barbaren die geliebte Fellweste. Barn
fluchte.
"Das ist das Opfertier", rief Alexo ihm zu. "Halte es bloß fest!"
Barn, der kurz davor gewesen war, das übelriechende Tier in den Abgrund zu
schleudern, hielt inne. Nach kurzen Nachdenken klemmte er sich das Schwein
zwischen die Beine. Dann beobachtete er den Pfad.
Von dort näherten sich keuchende Atemzüge, und schließlich stolperte ein
schweißnasser Faktor in den Lichtkreis der Fackel. Er blutete aus
Schnittwunden an Armen und Beinen.
"Herrin, die Schänder sind uns dicht auf den Fersen...", stieß er kläglich
hervor." Wir konnten sie nicht abschütteln."
Die Frau winkte ab. "Kein Problem, Hauptmann, das ist der Wille des
Schicksals. Die Dinge kommen zusammen!" Sie lachte dunkel. "Wie der Barbar
und das Schwein." Barn knurrte verärgert. Dann fuhr er herum, alarmiert von
einem kleinen Geräusch. Gerade rechtzeitig, um Sissiphone aufzufangen, die
schwankend aus der Dunkelheit getaumelt kam.
"Schwester!", rief Alexo erschrocken. "Was ist dir passiert?"
Sissiphone war in keinem guten Zustand. Sie war leichenblass, die Haare
wirr, und ihre Kleidung hing in Fetzen. Sie atmete schluchzend. Tiefe
Schnitte zogen sich über ihren Rücken, als hätte sie jemand mit
Schwerthieben vor sich hergetrieben – was vermutlich der Fall gewesen war.
Barn drückte ihren zitternden Körper an seine Brust und brummte beruhigend.
Er sah jetzt, dass diese Sissiphone etwas anders war die aus dem Kornfeld –
sie war vor allem nicht schwanger, aber auch ein wenig kantiger und dunkler,
als habe sie viel Zeit unter der Sonne verbracht. Ein Duft nach Rosen, Blut
und Schweinestall ging von ihr aus – obwohl Teile des Aromas auch von dem
Tier stammen konnten, das immer noch zwischen Barns Beinen eingeklemmt
war.
"Sie hatten mich fast", sagte die junge Frau leise. "Das Schwein hat mich
gerettet. Sie sind drüber gestolpert..."
"Gut, ein Hoch auf das Schwein! Aber jetzt schnell, keine Zeit zu
verlieren!" Alexo klang bereits wieder geschäftsmäßig. "Alle in den
Tempel!"
Der Tempel war für einen heiligen Ort recht karg eingerichtet. In seiner
Mitte, unter einer Öffnung in der kleinen Kuppel, stand eine vielleicht
sieben Ellen hohe, dreikantige Säule aus verwittertem Sandstein. Vor jeder
Fläche der Säule befand sich ein rechteckiger Steinblock, und dahinter eine
stark stilisierte Frauenfigur, die mit dem linken Arm nach oben und dem
rechten auf die Oberfläche des jeweiligen Blocks zeigte.
Alexo ging mit schnellen Schritten zur Säule und stellte sich hinter den
ersten leeren Block. Von dort gab sie mit lauter Stimme Befehle.
"Schnell jetzt. Sissi, geh' auf deine Position. Barbar, du kannst Sissi
jetzt loslassen. Stell' dich
dort hin, vor den Block, und leg
das Schwein drauf. Halt es gut fest, dass es nicht wegläuft. Faktor, du
hältst draußen Wache!"
Nachdem alles wie angeordnet geschehen war, standen Sissiphone und Alexo vor
jeweils einer Fläche der Säule und blickten über die Steinblöcke hinweg in
die rote Leere. Der Barbar, der die Umarmung von Sissiphone unwillig gegen
die des Schweins eingetauscht hatte, kauerte vor dem Block und hielt das
ebenfalls unwillige Tier nieder.
Ihm war nicht klar, was das Ganze sollte – wenn ein blutrünstiger Eroberer
mit seinen Kriegern auf dem Weg hierher war, erforderte seiner Meinung ganz
andere Maßnahmen, von denen Rückzug an einen besser geschützten Ort die
dringlichste war.
"Jetzt, Schwester", wisperte Alexo. Die beiden Frauen hoben ihre Köpfe und
begannen einen rhythmischen Sprechgesang, der Barn schon nach wenigen Worten
auf die Nerven ging. Dem Schwein gefiel er auch nicht, es wand sich unruhig
in Barns Griff.
"Wirkerin. Verwirkte. Verwerfende.
Herrin der drei Wege.
Drei sind eins sind neun sind wir.
Wähle unsre Wege.
Schicksal ist dein Knecht und Herr.
Web sein Garn, zerschneide es,
Und gib uns einen Faden."
Das Licht um den Tempel veränderte sich – draußen geriet der schwarze
Horizont in Bewegung und bildete tausende dünner, schwarzer Nebelfäden,
die in den roten Himmel aufstiegen und ihn verdunkelten. Gleichzeitig fiel
durch die Öffnung im Dach ein heller Schimmer auf den Boden, als wäre über
dem Tempel der Mond aufgegangen. Das Schimmern wurde stärker, und dann
waren da plötzlich drei dicke Säulen aus Licht, die die Oberseite der drei
Steinblöcke mit gleißendem Weiß übergossen. Als der Strahl das Schwein
berührte, wurde das Tier plötzlich schlaff. Barn zuckte zurück und ließ es
los.
Der Gesang von Sissiphone und Alexo wurde lauter, und unter ihre drängend
gesprochenen Worte kroch ein langsamer, dumpfer Rhythmus, als würden in
der Ferne große Trommeln geschlagen. Die Lichtsäulen begannen zu
pulsieren, und der Barbar sah mit nervöser Faszination, wie dunkle
Schatten über das Schwein wanderten.
Dann ertönte ein Geräusch wie das Reißen von Stoff, und das Licht
erlosch. Das Schwein rührte sich nicht. Barn stand auf.
"Sie hat mir den Krug gesandt", hörte der Barbar Sissiphones verwunderte
Stimme. "Was hast du bekommen, Schwester?"
Mit Erstaunen stellte Barn fest, dass auf den Steinblöcken vor den Frauen
jetzt Gegenstände lagen – vor Sissiphone eine lange, schlanke Flasche mit
zwei Griffen, und vor Alexo ein dicker Holzknüppel, dessen eines Ende
brannte. Eine Fackel.
"Die Fackel. Aber wo ist Meg?" Alexo klang zum ersten Mal verunsichert.
Sie drehte sich zu Barn. "Barbar", rief sie mit scharfer Stimme. "Hast du das Schwein auch richtig festgehalten?"
Barn starrte erst sie an, dann das Schwein. Das Tier sah irgendwie tot
aus, aber das war ganz sicher nicht seine Schuld. Er setzte zu einer
Rechtfertigung an, doch Alexo hatte sich schon wieder von ihm abgewandt.
Ihr Schleier zuckte nervös ich Richtung Ausgang.
"Sie kommen!", zischte sie und hob ihre Fackel. "Verdammt!"
Barn hob den Kopf und lauschte. Das rhythmische Donnern, das er für ein
Teil des Rituals gehalten hatte, war immer noch da, und dann erkannte er,
woher es kam: vom Bergpfad. Es war das Geräusch von schweren
Schritten.
Faktor kam mit sehr bleichem Gesicht in den Tempel gestolpert und
bestätigte Barns Befürchtung: "Karach Schraoch ist da!"
Der Barbar grunzte missmutig. Er hatte es geahnt: jetzt saßen sie in der
Falle. Ringsum fiel der Berg steil ab, und über den einzigen Weg nach
draußen kam der Feind.
Mit zusammengekniffen Augen blickte er sich um. Irgendetwas musste man doch
als Waffe verwenden können! Vielleicht eine der Steinfiguren abbrechen?
Doch dann war dafür keine Zeit mehr.
Eine gigantische Gestalt erschien im Eingang, ein Monster von einem Mann,
gehüllt in einen stumpfschwarzen Schuppenpanzer, unter dessen Metallplatten
dicke Haarbüschel herauswuchsen, als hätte der Mann ein Fell. Er hielt eine
Waffe, die fast so groß war wie er selbst – eine brutale Klinge aus
schwarzem Roheisen, mehr Keule als Schwert.
Stumpfe Augen in einem Gesicht wie Schlachthausabfälle sahen sich kurz um,
dann machte der Mann Platz für einen weiteren seiner Art. Und noch einen.
Als fünf gepanzerte Gestalten schweigend in einem Halbkreis vor Barn, Faktor
und den Frauen standen, stieß der erste einen keuchenden Laut aus, und ein
sechster Gigant trat mit schweren Schritten in den Tempel: Karach
Schraoch.
Der Eroberer war in jeder Hinsicht ein noch größeres Monstrum als seine
Schergen. Mindestens acht Fuß groß, hatte sein Körper die Form eines
stumpfen Kegels: breite Schultern, breitere Hüften, die Beine unförmige
Säulen. Die Füße waren nackt und wirkten wie Baumstümpfe aus Fleisch. An
seinen Schultern, Armen und Brust schwollen enorme Muskelpakete wie
Geschwüre unter einer dicken, glasigen Haut, die von schwarzen Adern
durchzogen war. Der immense Sack eines geblähten Bauches hing über einem
blutbeschmierten Lederschurz.
Der Kopf war im Vergleich zum Körper winzig. Er steckte in einem
becherförmigen Helm aus rostigem Eisen, der nur einen schmalen Sehschlitz
aufwies.
Einzelne Rüstungsteile – ein halber Brustschutz, eine Schulterplatte, zwei
ungleiche Beinschienen – waren mit Hilfe von Haken und Schrauben im
Fleisch des Körpers befestigt, und Ketten voller Trophäen hingen um seinen
Hals und von den Handgelenken. Die meisten waren noch frisch.
Karach Schraochs Gegenwart füllte den Tempel mit dem Geruch von Blut, rohem
Fleisch, Urin und Verzweiflung.
Der Helm drehte sich langsam, als der Schänder die Anwesenden nacheinander
betrachtete.
"Macht sie kaputt. Ganz langsam", sagte er dann mit dumpfer, lebloser
Stimme. "Das junge Weib zuerst."
Barn ballte die Fäuste und machte sich bereit. Er vermutete, dass er einen
Kampf nicht gewinnen würde, aber er würde ihn kämpfen. Er knirschte mit den
Zähnen. Allein und unbewaffnet gegen sechs gerüstete Giganten der
Finsternis!
Das war eine unerhörte Heldentat, die ihm seinen Platz ganz oben an der
Tafel der gefallenen Krieger sichern würde. Der frostgraue Gruunz selbst
würde ihm zutrinken, und die Ahnen seinen Namen elfmal rufen. Elf würde auch
die Zahl der lieblichen
Fylgjur sein, die ihn auf ewig
mit besten Bratenstücken, Knödeln und anderen, intimeren Leckerbissen
versorgen mussten!
Schade war nur, dass kein Skalde in der Nähe war, um eine Saga auf ihn zu
verfassen.
Er atmete tief ein und machte sich bereit.
"So?", schnitt da ein schriller Schrei durch Barns gefassten Heldenmut. "Das
junge Weib zuerst? Was ist mit
mir?"
Alexo stand mit hoch erhobener Fackel vor den sechs Giganten und hielt die
freie Hand mit herausfordernder Geste dem schrecklichen Karach Schraoch
entgegen. Die Klingen ihrer Fingernägel blitzten, und ihr Gesichtsschleier
flatterte im unfassbaren Wind wie die schwarzen Schwingen des Todesvogels.
Dann griff sie nach dem Stoff und riss ihn sich vom Gesicht.
"Wen jetzt zuerst, Schänder?", rief sie triumphierend.
Der Barbar stieß überrascht den gesammelten Atem wieder aus. Alexo hatte das
gleiche Gesicht wie Sissiphone – sie mussten Zwillingsschwestern sein!
Schraoch reagierte nicht auf die Provokation. Der Riese zu seiner Rechten
dagegen überbrückte die Distanz zu Alexo mit einer für seine Masse und Größe
überraschenden Geschwindigkeit und ließ eine gepanzerte Faust niederkrachen.
Doch die Frau in Schwarz wich dem Hieb ebenfalls überraschend geschickt aus
und schwang die Fackel in einer komplexen Bewegung, die ein Muster aus
flammenden Linien in der Luft hinterließ. Der Mann, vom Schwung seines
Schlages getrieben, taumelte dagegen und begann unvermittelt zu
schreien.
Alarmiert setzten sich nun auch die anderen vier Riesen in Bewegung. Sie
drangen im Halbkreis auf Alexo ein, die Schwertkeulen hoch erhoben, die
grotesken Gesichter hasserfüllt. Alexo war nicht beeindruckt. Sie glitt mit
drei kurzen Schritten zwischen die Riesen, wirbelte umher wie eine
sturmberauschte Sylphe und webte mit ihrer Fackel ein dichtes Netz aus
Feuer. Wo die Flammen Haut oder Rüstung berührten, blieben sie kleben und
loderten auf. Die Riesen brüllten ihre Wut heraus, waren aber ohnmächtig
gegen die Fesseln aus Feuer; der stechende Geruch von versengten Haaren
füllte bald den Tempel.
Karach Schraoch stampfte mit einem gewaltigen Fuß auf: "Macht das Feuer
kaputt!", befahl er. "Löscht es mit Blut!"
Die fünf Männer gehorchten augenblicklich und begannen, mit ihren Schwertern
aufeinander einzuhauen. Sie fügten sich entsetzliche Wunden zu, aber das
aufspritzende Blut löschte auch die brennenden Fesseln um ihre Körper.
"Schwester! Wirf die Amphore!", schrie Alexo, die vor den wilden Schlägen
zurückweichen musste.
Sissiphone starrte sie mit weiten Augen an. "Den Theriak? Willst du sie
heilen?", fragte sie ungläubig.
"Theriak und Feuer haben eine besondere Beziehung, Sissi! Wirf'
einfach!"
Nicht überzeugt, hob Sissiphone dennoch die kleine Amphore vom Block und
schleuderte sie zwischen die Riesen. Das schlanke Gefäß traf eine Rüstung
und zerbrach. Heller, funkelnder Nebel sprühte heraus, und plötzlich hüllte
ein gewaltiger Feuerball die Männer ein. Eine Welle kochend heißer Luft
schoss vom Zentrum der Explosion nach außen.
Barn, der dem Geschehen fassungslos zugesehen hatte, sprang erschrocken
zurück. Er prallte gegen Faktor, der die Aktionen der Schwestern schwer
atmend verfolgte.
"Sie machen sie fertig, die Herrin und ihre Schwester, was, Herr Barn?",
kommentierte der Hauptmann und sah dabei geradezu glücklich aus.
Der Barbar schnaubte und schüttelte wütend den Kopf. Mit ihrer blöden
Zauberei hatte sie ihm seinen ruhmreichen Heldentod versaut, die
Herrin!
In ohnmächtigem Zorn ballte er die Hände zu Fäusten. Er konnte nicht
zulassen, dass ein Mädel in albernen Schuhen einen Kampf gegen sechs
Riesen gewann, während er einfach nur daneben stand!
Sein Blick fiel auf Karach Schraoch. Der Schänder stand teilnahmslos im
Hintergrund, mit herabhängenden Armen und scheinbar unberührt von den
Flammen und dem Schicksal seiner Männer.
Das brachte Barn auf eine Idee – der monströse Mann war vermutlich nicht
besonders beweglich. Wenn er einem der Krieger sein Schwert abnehmen konnte,
wäre der Vorteil der Reichweite, den Schraoch aufgrund seiner Größe hatte,
mehr als ausgeglichen.
Barn grinste. Die Mädels mochten die Krieger bezwungen haben, aber wenn er
den Anführer tötete, dann war er es, der den Kampf entschieden hatte!
Er sah sich bereits auf einem Triumphwagen – am besten einen rot bemalten –
durch die Straßen Illions fahren, umjubelt von der Menge und umgeben von
Dienerinnen mit entblößten Brüsten.
"Barbar!", unterbrach Alexos schrille Stimme seine Gedanken. "Nimm das
Schwein und wirf es auf Schraoch!"
Barn grunzte. War das Mädel völlig übergeschnappt?
Er schüttelte den Kopf. Ein Schwein! Ein Schwein war keine Waffe für einen
Krieger! Mit entschlossener Miene setzte er sich in Bewegung, den Blick fest
auf ein schwarzes Schwert gerichtet, das sein brennender Besitzer
fallengelassen hatte.
Im gleichen Moment aber bewegte sich auch Karach Schraoch. Mit dem achtlosen
Schwung eines gewaltigen Arms fegte er einen seiner sterbenden Männer
beiseite und stampfte mit den riesigen, nackten Füßen mitten durch das
Feuer. Die Flammen konnten ihm augenscheinlich nichts anhaben – sie schienen
sogar vor ihm zurückzuweichen.
"Ich mach euch alle kaputt!", röhrte er, und wie er so durch den Rauch
schritt, ein acht Fuß großes Wesen der Finsternis, war das durchaus
glaubwürdig.
"Herr Barn!" Faktor drückte dem Barbaren etwas Schweres in die Arme. Es war
das Schwein. "Werft, und werft gut!"
Barns erster Impuls war, das Tier fallen zu lassen. Aber dann sah er, dass
Karach Schraoch bereits seine langen Arme nach Sissiphone ausstreckte. Er
reagierte mit der Geschwindigkeit eines Mannes, der in Dutzenden
Wirtshausschlägereien gelernt hatte, alles als Waffe zu benutzen, was gerade
zur Hand war.
Brüllend vor Anstrengung wuchtete er das Schwein über den Kopf und
schleuderte das Tier mit aller Kraft vorwärts.
Dann passierten Dinge, die das Begriffsvermögen eines Barbaren aus dem
kalten Hochnorland bei weitem überstiegen. Noch im Flug veränderte das
Schwein seine Gestalt, wurde von einer verschwommenen bleichen Masse zu
einem großen, pulsierenden Schatten, der wie ein dunkles Verhängnis auf
Karach Schraoch zuglitt. Lange Arme wuchsen dem Schatten, und diese Arme
umschlangen den knotigen Hals Schraochs in der Parodie einer
leidenschaftlichen Umarmung. Dann waren da zwei Beine, die sich wie
Schlangen um die ausladenden Hüften des Eroberers wanden, und ein schmaler,
beweglicher Leib. Als letztes erhob sich ein formloses Gebilde dort, wo ein
Kopf sein sollte.
Schraoch schwankte, als habe dieses schwarze, dünne, spinnenartige Ding, das
ihn wie ein Parasit umklammerte, ein Gewicht, das selbst er nicht tragen
konnte.
Der Barbar erschauerte, als das Wesen den seltsamen Kopf zurückwarf und ein
Geheul ausstieß, das im tiefsten Bass begann, immer höher wurde und in einem
kalten, schrillen Ton endete, der wie splitterndes Glas klang.
Dann teilte sich der Kopf, und etwas, das aussah wie ein Bündel aus
schwarzen Schlangenleibern, stülpte sich über das behelmte Haupt von Karach
Schraoch. Der Gigant stieß einen hohen, dünnen Schrei aus und begann, wild
um sich zu schlagen.
Alexo stieß ebenfalls einen Schrei aus, aber ihrer war ein Laut des
Jubels.
"Nun seht, was denen widerfährt, die Ilion angreifen!", rief sie
triumphierend.
Es war in der Tat ein erschütterndes Schauspiel. Das Feuer hatten die fünf
Krieger überwältigt, ihre Körper lagen, noch immer brennend, in Pfützen aus
kochendem Fett auf dem Boden. Schwarzer, stinkender Rauch kroch wie ein
vielarmiges Wesen durch den Tempel und vereinigte sich mit der Finsternis,
die von außerhalb hereindrängte.
Und dazwischen rang der mächtige Karach Schraoch mit Parasiten. In einem
schwerfälligen Tanz drehte er sich um sich selbst und versuchte, die
schwarze Gestalt mit wuchtigen Schlägen von seinem Körper zu treiben. Doch
die war flink und wich den Fäusten geschickt aus, ohne den Kopf loszulassen.
Dabei kicherte sie schrill.
In seiner Verzweiflung begann Schraoch schließlich, mit aller Kraft auf den
eigenen Kopf einzuschlagen. Es schien, als hätte der Parasit genau darauf
gewartet, denn schon nach dem ersten Treffer löste er sich mit einem
eleganten Rückwärtssalto von seinem Opfer und landete zu Barns Entsetzen
genau vor seinen Füßen.
Schraoch selbst war zu verwirrt, um zu begreifen, dass seine Nemesis ihn
verlassen hatte – er schlug weiter auf sich ein.
"Jetzt, Barbar!", schrie Alexo. "Pack ihn und ring ihn nieder, bevor er
wieder zu sich kommt! Deine Kraft gegen seine!"
Sie deutete mit einem blitzenden Fingernagel auf den schwankenden
Giganten.
Barn grunzte. Dann zögerte er. Schraoch war fast schon besiegt, ihn
hinterhältig anzugreifen konnte sich negativ auf die Position eines Mannes
an der Tafel des ewigen Festmahls auswirken.
Jemand berührte ihn an der Schulter. Es war Sissiphone. "Tu es", flüsterte
sie. "Die Welt ist ein besserer Ort ohne ihn."
Neben Sissiphone stieß der Parasit ein schrilles, aufforderndes Heulen aus,
das eindeutig an den Barbaren gerichtet war. Barn machte den Fehler und
blickte direkt hin. Was er sah, ließ ihn entsetzt einen Schritt
zurückspringen.
Mit weiten Augen starrte er auf die schwarze Gestalt und schwor, nie wieder
Schweinebraten anzurühren, wenn so etwas daraus hervorspringen konnte!
Doch dann traf ihn etwas mit der Gewalt eines stürzenden Berges und warf ihn
zu Boden.
Es war Karach Schraoch, der immer noch blindwütig um sich schlug. Sein
winziger Helm war völlig zerdrückt, und sein mächtiger Leib zuckte
unkontrolliert. Aber sein Wille zur Zerstörung war immer noch ungebrochen,
denn seine dicken Finger fanden zielsicher den Barbaren und schlossen sich
wie Schraubstöcke um Barns Beine.
Der Nordmann wurde über den Boden gezerrt. Seine Hände ruderten auf der
Suche nach Halt durch die Luft und bekamen eine der steinernen Frauenfiguren
zu fassen. Mit aller Macht umklammerte er sie, aber sie brach unter seinem
verzweifelten Griff. Karach Schraoch riss ihn zusammen mit der Figur hoch in
die Luft, als wäre er der Nordmann ein Kind und kein zweihundertzwanzig
Steine schwerer Barbar. Der Panik nahe, krümmte Barn sich zusammen und
schlug mit der Statue nach Schraoch. Er hörte etwas knirschen, aber der
Schänder ließ nicht los. Barn schlug noch einmal zu. Plötzlich blökte
Schraoch blechern und schleuderte den Barbaren quer durch den Tempel. Barn
krachte mit schrecklicher Wucht gegen eine Säule, rutschte sie hinab und
blieb benommen am Boden liegen.
Er blinzelte schwach und sah sein Ende kommen.
Denn obwohl Schraoch unter seinem zerquetschten Helm sicher nichts mehr
sehen konnte – es war eigentlich sogar unmöglich, dass in dem
flachgedrückten Metallstück überhaupt noch ein intakter Kopf steckte –
stürmte er auf seinen unförmigen Beinen zielsicher auf den Barbaren zu.
Barn wusste, dass allein die Masse des Giganten ausreichte, ihn wie einen
faulen Apfel zu zerquetschen. Er zwang seine halb gelähmten Muskeln zu einem
verzweifelten Sprung.
Er schaffte ihn fast.
Schraochs gewaltiger Leib verfehlte den Barbaren und rammte mit
welterschütternder Wucht die Säule, aber einer seiner gigantischen Füße
schob sich wie eine Schaufel unter Barns Körper und schleuderte ihn hoch in
die Luft.
Barn erlebte einen schier endlosen Augenblick entsetzlicher Klarheit. Er sah
genau, was um ihn geschah, und was noch geschehen würde – ohne dass er auch
nur das Geringste dagegen tun konnte.
Er sah, wie die Säule zersplitterte und Schraoch durch die Trümmer nach
draußen brach, getrieben von den unerbittlichen Gesetzen seiner Körpermasse.
Er sah, dass dieses Draußen nur noch ein schwarzer Abgrund war, dass der
Berg und der Himmel ersetzt worden waren durch ein lichtloses Nichts.
Und er begriff, dass nicht nur Karach Schraoch in dieses Nichts stürzte,
sondern auch er selbst. Denn Schraochs Tritt hatte ihn weit über den Rand
des Tempels hinausbefördert, hinein in einen Raum, der kein Raum war, da er
keinen Anfang und kein Ende hatte, kein Oben und kein Unten. Und auch kein
ewiges Festmahl.
Dann war er im Nichts. Der erleuchtete Tempel verschwand über ihm mit der
Geschwindigkeit eines fallenden Sterns.
Sein letzter Gedanke, bevor die Dunkelheit ihn wie eine eisige Faust
umschloss, galt dem bleichen Gesicht, das er zwischen einer Masse schwarzer
Locken erblickt hatte. Das Gesicht der Drillingsschwester von Alexo und
Sissiphone.
*
Keuchend fuhr der Barbar hoch. Das Gefühl, von einer soliden Masse
eingeschlossen und langsam zerquetscht zu werden, war so abrupt geschwunden,
dass die Befreiung keine Erleichterung brachte, sondern Schmerzen. Als müsse
sein Körper bersten wie ein Fass, dem man die eisernen Bänder genommen
hatte.
"Schlecht geträumt, Barn von Täppenwinkel?", fragte eine spöttische
Stimme.
Barn stöhnte auf, und es war nicht nur vom Schmerz.
Er öffnete die Augen. Natürlich war er noch im Haus der Hexe, und das Weib
stand natürlich wieder über ihn
gebeugt – mit diesem ironischen, überlegenen Blick, der ihn bei einem
Gegenüber stets in Rage brachte.
Sie hatte ihn wieder hereingelegt, bei Gruunz! Er schwor sich, keinen Trunk
der Hexe mehr anzunehmen, ganz gleich, wie trocken seine Kehle sich auch
anfühlte.
Denn das tat sie – sein Hals brannte, war regelrecht wund, als hätte er
tatsächlich die brennende Luft im Tempel eingeatmet. Er verzog das Gesicht.
Es war nicht in Ordnung, wenn ihn Träume in sein Wachsein verfolgten – er
hatte in der realen Welt schon Ärger genug.
"Einen Schluck Wasser?", fragte Triune und lächelte. Sie schwenkte ein Glas
mit einer klaren Flüssigkeit.
Barn schüttelte nur wortlos den Kopf und stemmte sich aus den Kissen.
Mit gefurchter Stirn sah er sich um. Sein erster Blick galt natürlich der
Jacke, dem Schwert und den Stiefeln, und er stellte erleichtert fest, dass
sich alles noch am gleichen Platz befand wie zuvor.
Aber kalt war es geworden im Raum – das Feuer im Kamin war fast
heruntergebrannt. Die Reste der Glut verbreiteten ein rötliches Zwielicht,
in dem für Barns Geschmack zu viele Schatten Platz fanden. Dann blickte er
zum Fenster. Hinter dem Glas drängte sich eine massive Dunkelheit, als
presse ein namenloses Ding seinen schwarzen Leib dagegen. Ihn schauderte.
Das Rascheln von Triunes Haaren ließ ihn den Kopf drehen. Er fand ihr
Gesicht direkt vor seinem. Ihre stahlgrauen Augen fixierten ihn.
"Es wird Zeit für deine dritte Aufgabe, Barn von Täppenwinkel!", sagte sie.
Ihr Atem roch nach Walnüssen. "Komm mit."
Barn kniff die Augen zusammen. "Wohin?", fragte er misstrauisch.
"In meinen Garten. Es ist nur ein kurzer Weg, und diesmal darfst du sogar
deine Waffe mitnehmen."
Der Barbar schnaubte. Als ob er dafür eine Erlaubnis brauchte! Er griff nach
Jacke und Schwert und legte beides an. Dann sammelte er die Stiefel vom
Boden und machte sich an das mühsame Geschäft, sie anzuziehen. Schließlich
richtete er sich auf und sagte knapp: "Ho. Geh'n wir also."
Triune nickte ebenso knapp und schob ihre Kapuze über die Haare.
Sie führte den Barbaren hinaus in den Flur und öffnete dort die Tür am Ende
des Ganges. Barn warf einen kurzen Blick auf das geschnitzte Bild darauf:
Frauen, die vor einer dreieckigen Säule standen. Er wandte den Kopf ab.
"Bleib dicht hinter mir", mahnte Triune, als sie durch die Tür trat. "Meine
Pflanzen schlafen, und sie schätzen es gar nicht, wenn ein Fremder sie
weckt."
Der Garten der Triune wirkte wie ein verwunschener Ort aus einer alten Sage,
ein Platz, wo Kobolde und Feen hausten und boshafte Spiele mit verirrten
Wanderern trieben. Dichte Gruppen hoher Blumen standen auf beiden Seiten
eines schmalen Weges und wiegten sich in einem Wind, den nur sie spürten.
Dahinter wuchsen ausladende Büsche, deren weiße Blätter die Form von
Gesichtern hatten. Noch weiter im Hintergrund wanden sich Nebelfetzen wie
ruhelose Geister um die feucht glänzenden Stämme alter Bäume. Über allem
hing ein schiefer Mond und verbreitete ein unstetes Licht, in dem Schatten
tanzten, die von nichts geworfen wurden.
Barn atmete tief ein. Die Luft war schwer von süßlichen Gerüchen, und
überraschend warm.
"Ich versuche, mir hier etwas aus der alten Heimat zu erhalten, auch wenn es
nicht einfach ist in diesem rauen Land", erklärte Triune. Ihr Gesicht
schimmerte im Mondlicht wie weißer Marmor, und wieder schien für einen
Augenblick die Maske der Alterslosigkeit von ihr abzufallen und sie sich in
ein Wesen von übernatürlicher Schönheit zu verwandeln.
Doch schon im nächsten Moment erlosch der Schimmer, und zurück blieb nur der
metallische Glanz ihrer Augen.
"Wir müssen uns beeilen." Sie deutete auf die Mondsichel. "Es wäre fatal,
wenn du zu spät kämest."
Der Weg durch den Garten erschien dem Barbaren schnell wie ein weiterer
Traum. Außer Sichtweite des Hauses rückten die Pflanzen dichter zusammen und
wuchsen wilder und üppiger. Die Luft wurde noch wärmer, und der süße Duft
der schlafenden Blüten vermengte sich mit dem Nebel zu kleinen, schimmernden
Wolken, in denen das Atmen schwerfiel. Auch begannen sich Dinge im Blattwerk
zu regen. Zunächst war es nur ein Zirpen wie von Grillen, doch bald hörte
der Nordmann darunter die Geräusche kleiner, flinker Körper in den
Sträuchern, und manchmal etwas, das wie Flüstern oder Kichern klang.
Triune bewegte sich so schnell und zielstrebig durch das Dickicht, dass dem
Barbaren keine Zeit blieb, sich mit diesen Erscheinungen zu befassen. Aber
bald schien ihm, dass er von einem unsichtbaren Heer flatternder, hüpfender
und kriechender Kreaturen begleitet wurde. Er rückte den Schwertgurt
zurecht, um die Waffe bei Bedarf schnell ziehen zu können.
Doch die Wesen blieben auf Distanz.
Der Boden wurde uneben, und kleine Wasserläufe kreuzten den Pfad. Der
bittere Geruch feuchten Holzes mischte sich unter den Blütenduft, und aus
der Ferne kam das blubbernde Klagen von Kröten. Dann schob sich eine dichte
Reihe majestätischer Bäume wie Wolken vor den Mond, und Triune blieb stehen.
Das Gewisper der unsichtbaren Begleiter erreichte einen Höhepunkt und
verstummte dann abrupt.
Die Hexe wandte ihr Gesicht dem Barbaren zu, ein bleiches Oval in der
Dunkelheit.
"Hier endet mein Garten", sagte sie. "Weiter kann ich jetzt nicht gehen.
Dein Weg aber ist nicht zu Ende, Barn von Täppenwinkel. Du musst dort
hindurch."
Sie zeigte auf eine Stelle, wo zwei ineinander verwachsene Baumriesen ein
Tor in der schwarzen Palisade des Waldrands bildeten.
Barn blickte mit wenig Begeisterung in die Öffnung und stellte fest, dass
dahinter Feuer brannten. Fackeln, die ein aus Ästen geformtes Gewölbe
erleuchteten – ein Tunnel in die Tiefen des Waldes.
"Was is'n da drin?", fragte er misstrauisch.
"Deine Aufgabe." Triunes Grinsen schimmerte wie ein fahles Abbild der
Mondsichel. "Bring sie zu Ende, und der Fluch ist abgewendet."
Barn grunzte, zuckte mit den breiten Schultern und schritt auf das Tor zu,
ohne sich noch einmal umzusehen.
Der Tunnel durch den Wald war wie ein Holz gewordener Alptraum für den
Nordmann, der sich, wo immer es ging, von Spuk und Hexenwerk fernhielt.
Was er für Fackeln gehalten hatte, waren in Wirklichkeit schwebende
Feuerbälle, die unter der Decke des Tunnels trieben. Obwohl von nichts
gehalten oder genährt, brannten sie mit hellen, tanzenden Flammen, und
manchmal knisterten sie auf eine Weise, die wie fremdartige Sprache klang.
Der Tunnel selbst war ebenfalls die Geburt einer verwunschenen Mitternacht:
die Stämme und Äste, die seine Wände und Decke bildeten, waren so sehr
ineinander verflochten und verwoben, dass das Gewölbe wirkte wie ein zu Holz
erstarrtes Nest schwarzer Schlangen. Sogar die dunkle Rinde glänzte
schuppig.
Barn senkte den Kopf und beschleunigte seine Schritte, in der Hoffnung, den
Spuk dadurch von sich fernzuhalten, dass er ihn ignorierte. Er konzentrierte
sich allein auf seine Stiefelspitzen und den Boden, und tatsächlich spürte
er schon nach kurzer Zeit den Wald hinter sich zurückweichen. Er hob den
Blick und fand sich am Rand einer von bleichem Mondlicht überfluteten
Lichtung wieder, die gesäumt war von nebelverschluckten Bäumen und erfüllt
von den Stimmen tausender kleiner Lebewesen.
Der Barbar tat einen Schritt nach vorn und wurde von der feuchten Hitze des
Ortes fast überwältigt. Ihm brach der Schweiß aus, während er verwundert auf
die schillernden Kehlsäcke bleicher Kröten und die Schwärme von Leuchtkäfern
blickte, die über dunklen Tümpeln mit ihren Spiegelbildern tanzten. Zwischen
den Wasserflächen erhoben sich lehmige Buckel, deren Kuppen mit dickem Gras
bewachsen waren, und in der Mitte der Lichtung ragten ein paar runde Steine
auf, umgeben von bizarren Baumtrümmern. Über allem hing der schwere, warme
Geruch von Schlamm und Fäulnis wie der Atem eines Brückentrolls.
Barn rieb sich verwundert das Kinn. Der Platz erinnerte ihn an die
Dschungelsümpfe in der Mündung des großen Flusses Skai, aber die waren
Hunderte von Tagesmärschen weit im Süden.
"Du bist spät, Mann", begrüßte ihn eine heisere Stimme von irgendwoher,
nicht unfreundlich. Barn schrak zusammen, seine Hand fuhr automatisch zum
Schwertgriff. Er sah sich hektisch um.
"Wir sind hier, bei den Koren", kam der kryptische Hinweis.
Der Barbar kniff die Augen zusammen und betrachtete die Mitte der Lichtung
genauer. Überrascht stellte er fest, dass die Steine keine Steine waren,
sondern grobgewebte Tücher aus grauem Stoff, unter denen sich etwas verbarg.
Und was er für verfaulte Baumstümpfe gehalten hatte, war eine Gruppe Männer
in verdreckter Lederkleidung. Sie kauerten, knieten oder saßen in einem
weiten Kreis um die drei Stoffhaufen herum, Knüppel oder Bögen in den
Händen. Waldläufer.
Einer von ihnen stand auf und ging auf Barn zu. Er trug eine Fackel in der
linken Hand.
"Verdammt, Mann, die Jungs waren schon kurz davor, abzuhauen", rief er dem
Barbaren entgegen. "Und ich kann es ihnen nicht verübeln. Ich will auch
keinen Augenblick länger bleiben, als nötig ist!"
Er hinkte, während er achtlos durch Matsch und Brackwasser stapfte.
Vor Barn blieb er stehen und hob den Kopf. Verfilztes, weißgraues Haar hing
wie ein Vorhang aus Spinnweben vor sein Gesicht. Der Barbar blinzelte. Der
Mann sah aus wie Faktor, aber dieses Mal war er ein Faktor, der in den
Abgrund geblickt hatte. Sein ledriges Gesicht war von Falten zerschnitten,
seine Augen blickten stumpf und resigniert aus umschatteten Höhlen.
"Du bist also der Wächter? Tut
mir leid, Mann, ich wollte dich nicht anmachen", sagte der Mann leise.
"Diese Opfergeschichte ist harter Stoff, Mann, ich beneide dich nicht. Es
ist nur... das Ding ist schon irgendwo da draußen, und wir wollen ganz
sicher nicht mehr hier sein, wenn es kommt..."
Er verstummte, seufzte, schüttelte den Kopf und gab Barn einen sanften
Schlag gegen die Schulter. "Pass auf dich auf, Mann. Und lass die Hexen
nicht abhauen!"
Mit einer fast schüchternen Geste reichte er dem Barbaren die Fackel. "Ein
wenig Licht kann nicht schaden", murmelte er.
Dann straffte er sich und rief: "Ist gut jetzt, Jungs, wir rücken ab!"
Die Männer erhoben sich schwerfällig, verstauten ihre Waffen und bildeten
eine Reihe; dann trotteten sie schweigend im Gänsemarsch an Barn vorbei.
Keiner von ihnen sah den Barbaren an, ihre Augen waren starr auf den Boden
gerichtet.
Mit einem knappen Nicken nahm Faktor seinen Abschied und schloss sich den
Männern an.
Barn blickte den Waldläufern nach, bis sie zwischen den nebelverhangenen
Birken am Rand der Lichtung verschwunden waren.
Er stutzte und betrachtete die Bäume genauer: ohne Zweifel waren es Birken,
die Rinde schimmerte hell im Mondlicht. Aber war der Wald, durch den er
gekommen war, nicht schwarz gewesen? Und die Bäume eine Art von Eichen?
Irritiert suchte er nach dem Eingang zu dem Tunnel mit den Geisterlichtern,
fand aber nur Nebel und Birken. Wenn es hier ein Tor gegeben hatte, dann war
es verschwunden.
Barn fluchte leise. Schon wieder Hexenwerk! Er spürte plötzlich den Drang,
den Waldläufern zu folgen. Wo immer sie hingingen, es konnte nicht
schlechter sein als hier.
Da hörte er hinter sich ein sachtes Rascheln, das Gleiten von Stoff auf
Stoff. Er fuhr herum.
Einer der Stoffhügel bewegte sich, wackelte hin und her – wie ein
weichschaliges Ei, aus dem etwas schlüpfen wollte. Barn unterdrückte einen
Fluch und griff nach Windmacher. Dann überlegte er es sich anders und zog
Schinkenschneider. Geduckt ging er auf die grauen Gebilde zu. Das mittlere
befand sich in heftiger Bewegung; auch die beiden anderen begannen jetzt,
leicht zu zucken. In etwa drei Schritten Entfernung blieb der Barbar stehen
und rief leise: "Ho." Dabei hielt er Fackel und Dolch vor sich.
Ein Ächzen antwortete ihm. Barn runzelte die Stirn und machte noch einmal
"Ho!", diesmal etwas energischer.
"Was soll das?", fragte eine Stimme aus dem mittleren Stoffhügel. "Willst du
uns auch noch verspotten, Wächter?"
Barn öffnete den Mund, dann klappte er ihn wieder zu. Die Stimme kam ihm
vertraut vor – sie klang wie die der schwarzverschleierten Herrin Alexo aus
dem letzten Traum.
Er bückte sich und rammte die Fackel mit einem kräftigen Stoß in die feuchte
Erde. Dann trat er mit drei schnellen Schritten auf das Gebilde zu, das sich
inzwischen auf die Höhe einer sitzenden – oder knienden – Person gestreckt
hatte, und griff nach dem Stoff. Er wollte sehen, was darunter war.
"Nein!", schrie die scharfe Stimme. "Nicht anfassen!"
Der Barbar zog erschrocken die Hand zurück.
"Wir dürfen uns nur dem Biest enthüllen!"
"Hm, was?", machte Barn verwirrt. "Was für'n Biest?"
Die Frau unter dem Tuch beantwortete die Frage nicht.
"Das solltest du wissen", sagte sie stattdessen. "Als unser
Wächter."
Barn runzelte die Stirn und schwieg. Die Situation gefiel ihm nicht: er
unterhielt sich mit einem Stoffhügel, der mit der Stimme einer Frau aus
einem Traum etwas über ein Biest erzählte, das Leute umbrachte. Das klang
nach Schwierigkeiten.
"Du bist doch der Wächter?"
Barn kratzte sich das Kinn und dachte nach. Wächter? Nachdem, was er heute
schon erlebt hatte, konnte es durchaus sein, dass er
der Wächter war. Aber was
bedeutete das? Und – wollte er es herausfinden?
"Keine Ahnung", fasste er seine Gedanken zusammen.
Die Frau stieß hörbar den Atem aus. "Das Orakel sagte…", begann sie, und
brach ab.
Eine klägliche Stimme unter dem linken Tuch jammerte schwach: "Ich wusste es
– sie hat uns verlassen!"
Das rechte Tuch gab nur ein fauchendes Geräusch von sich, wie eine Katze,
die eine andere Katze sieht, die ihr nicht gefällt.
Die Falten auf Barns Stirn wurden tiefer, während er von Stoffhügel zu
Stoffhügel blickte. Drei Frauen unter drei Tüchern – das konnte kein Zufall
sein.
Die Frau, die wie Alexo klang, holte tief Luft. "Ruhig, Schwestern, sie
würde uns nie verlassen!" Sie klang, als sei sie selbst nicht wirklich
überzeugt von ihren Worten.
Die Antworten waren nur ein Schluchzen von links und ein weiteres Fauchen
von rechts.
Die Frau wandte sich wieder dem Barbaren zu. Barn sah, dass sich ein Gesicht
unter dem grauen Stoff abzeichnete. Er sah sogar Augen durch das grobe
Gewebe funkeln.
"Das Orakel sagte, du kämpfst für uns, wenn es sein muss", sagte sie
leise.
Barn blinzelte überrascht, dann grinste er. "Ho, Mädel, ich kämpfe sogar,
wenn es nicht sein muss!", rief er stolz.
"Das wäre nicht so gut…", begann die Frau zögernd, dann hielt sie plötzlich
inne. Ihr Kopf unter dem Stoff neigte sich, als lausche sie. Barn tat es ihr
nach.
Es war sehr still. Das Blubbern der Kröten, das Zirpen der Grillen, all die
kleinen Geräusche der Nacht waren verstummt. Barn sah sich um. Selbst die
Schwärme der Leuchtkäfer waren verschwunden. Das war vermutlich ein
schlechtes Zeichen – für was auch immer.
"Du hast was vonnem Biest erzählt", sagte er, als die Stille auf seinen
Nerven zu lasten begann.
"Ja. Ein Biest", antwortete die Frau. "Ein großes Biest. Es nennt sich das
Schicksal. Es kommt, um den
Tribut zu holen."
"Ho, und was will es?", fragte Barn.
"Uns", sagte die Frau tonlos.
Dazu fiel Barn zunächst nichts ein.
"Wir sind Opfergaben. Von den netten Leuten des Waldes. Aber du kannst uns
retten", sagte eine heisere Stimme. Sie kam unter dem rechten Tuch hervor.
"Alle drei. Oder eine. Oder dich."
"Meg, überlass mir das Reden!", rief die Frau, die wie Alexo klang.
Die Frau, die Meg genannt wurde, ignorierte den Einwurf.
"Du kannst es herausfordern!", raunte sie dem Barbaren zu. Barn blinzelte.
"Das Schicksal", ergänzte sie
dann bedeutungsschwer.
Barn blickte verwirrt von Tuch zu Tuch. Er verstand kein Wort.
"Meg, du fängst das falsch an", warf Alexo ein.
"Quatsch", unterbrach Meg. "Er kann kämpfen, und er klingt nicht wie ein
Feigling." Ihr Kopf unter dem Tuch wandte sich mit einem Ruck dem Barbaren
zu. "Du bist doch kein Feigling,
Wächter?"
Ihre Stimme, vorher rau und tonlos, vibrierte plötzlich vor
Sinnlichkeit.
Barn trat einen Schritt zurück, sog lautstark Luft in seinen mächtigen
Brustkasten und spannte die muskelschweren Arme, dass die alte Lederjacke
gepeinigt knarzte. Es war eine wohlgeübte Pose, denn aus irgendeinem Grund
fühlte er sich immer wieder auf diese Weise herausgefordert.
"Ho, Mädel", dröhnte er, und seine Stimme hallte über die neblige Lichtung
wie ein Kriegshorn. "Ein Nordmann
kann kein Feigling sein, denn er
issen Nordmann! Un' ich schon
gar nich'!"
Seine Worte waren kaum verklungen, als aus der Ferne ein scharfes Geräusch
kam. Es klang, als beiße ein paar Meilen entfernt jemand sehr Großes in
einen riesigen, ziemlich harten Apfel.
"Es hat uns gehört", sagte Alexo resigniert. "Gut gemacht, Megraine."
Das scharfe Krachen ertönte erneut, näher diesmal.
Mit Unbehagen erkannte Barn, dass es das Geräusch eines Baumes war, der von
etwas Gewaltigem niedergedrückt wurde und brach.
Leise fluchend steckte er Schinkenschneider zurück in den Gürtel und zog die
sechs Fuß blanken Stahls, die sein Schwert Windmacher ausmachten. Er presste
die Lippen zusammen und starrte in das Dunkel. Wenn dort draußen etwas war,
das Bäume zerbrechen konnte, half ein Dolch nicht viel.
Ein Schwert vielleicht auch nicht. Die Knöchel seiner Hände wurden weiß,
während er den Schwertgriff mit aller Kraft umklammerte. Bei Gruunz, auf was
hatte er sich da wieder eingelassen?
Wieder zersplitterte irgendwo vor ihm ein Baum, bereits erschreckend
nahe.
Es minderte seine Anspannung nicht, als jetzt die drei Frauen unter ihren
Tüchern aufstanden. Die Stoffhügel erhoben sich langsam, bis drei gleich
große, verhüllte Gestalten wie graue Gespenster unter dem Mondlicht
standen.
"Es ist Zeit, Schwestern", wisperte eine Stimme. "Beten wir ein letztes
Mal." Die Frauen hoben die Köpfe und begannen einen rhythmischen
Sprechgesang, der Barn schon nach wenigen Worten unangenehm bekannt vorkam.
"Wirkerin. Verwirkte. Verwerfende.
Herrin der drei Wege.
Drei sind eins sind neun sind wir.
Erhöre unsre Klage.
Schicksal ist dein Knecht und Herr.
Pack sein Band, zerreiße es,
Und bewahre unser Leben."
Ein hohles Rauschen füllte die Nacht, dann brach ganz in der Nähe ein
weiterer Baum nieder. Barn fühlte den Boden unter seinen Stiefeln beben. Ein
Windstoß wirbelte den Nebel auf und wehte Blätter in die Lichtung. Eine der
Frauen stieß einen spitzen Schrei aus.
Mit zusammengepressten Lippen blickte der Barbar in Richtung des Lärms, sah
aber nur ein Gewirr aus Zweigen und Blättern, zitternd im Mondlicht. Erst
als sich eine dunkle Masse unter den Wipfeln bewegte, erkannte er, dass
inmitten der Bäume noch etwas anderes war. Etwas Großes.
"Bleibt ruhig!", rief Alexo, während der Boden erneut bebte. "Vertraut der
großen Mutter!"
Barn kniff die Augen zusammen und starrte in die Finsternis. Sein Magen
rumpelte, und es war nicht nur der Hunger. Da draußen waren Schatten
innerhalb von Schatten, trügerisch verborgen wie Raubfische in nachtdunklem
Wasser. Die Haare seines breiten Nackens sträubten sich.
Dann schob sich etwas durch die Bäume und glänzte im Mondlicht. Zunächst
hielt der Barbar es für einen Ast, so lang, krumm und knotig war es. Aber es
bewegte sich, wie es kein Ast tun sollte: tastend und schlängelnd erkundete
es den Waldrand, dann glitt es langsam auf die Lichtung.
Als es etwa vier Meter hineinragte, hielt es inne und senkte sich zu Boden.
Die Spitze bog sich zu einem Haken, der sich ins Erdreich krallte. Zwei
weitere Gebilde gleicher Art folgten, danach noch einmal zwei. Auch sie
verankerten sich. So blieben sie eine Weile, nebeneinander, leicht zitternd,
wie ungeduldige Jagdhunde. Plötzlich krümmten sich alle vier gleichzeitig
zusammen, und wie Flößerknechte einen Frachtkahn, zogen sie ein unförmiges,
schwankendes Gebilde aus dem Dunkel der Baumkronen in das unsichere Licht
des Mondes.
Auf den ersten Blick wirkte es wie etwas Totes, wie der fatale Zusammenstoß
eines Zelts mit dem Kadaver eines vorzeitlichen Ungeheuers – eine Mischung
aus dicken Seilen, knochigen Vorsprüngen, zerfetztem Gewebe, knotigen
Schnüren und spitzen Stangen.
Doch dann bewegte es sich, faltete sich auseinander und wurde zu einem
bizarren Wesen, das eine gewisse Ähnlichkeit mit den Schreckgestalten hatte,
die Bauern gegen plündernde Krähen in ihre Felder stellten. Nur war es viel
größer. Bis zu den Baumwipfeln ragte es auf.
Es besaß keine Beine, sondern schwankte auf dicken Bündeln schwarzglänzender
Ranken, die in ständiger Bewegung waren. Ihre Enden krochen unruhig über den
Boden, gruben sich ein oder umschlangen einander, nur um sich wieder
plötzlich zu lösen und durch die Luft zu peitschen, als ekele jede längere
Berührung sie an.
Der Torso darüber war dem eines Menschen nicht unähnlich, wirkte aber
deformiert und gewaltsam gestreckt. Er war teilweise mit schmutzigen, grauen
Lumpen bandagiert, aus denen eine ölige Flüssigkeit sickerte. Zwischen dem
Stoff zeigten sich Flächen von kränklichem Weiß, porös wie säurezerfressener
Marmor.
Die Schultern erschienen breit und wohlgeformt, doch dort, wo die Arme
ansetzen sollten, waren nur Stümpfe, als wären die Gliedmaßen abgehackt
worden – oder abgefallen. Als Ersatz für die Arme war mit Bändern ein
Holzbalken wie ein breites Joch hinter den Schultern befestigt worden. Auch
der Balken war in graue Lumpen gehüllt, was der ganzen Konstruktion das
Aussehen zerstörter Flügel verlieh.
Das absurdeste aber war der Kopf des Wesens – zwischen den Schultern ruhte
in einer nestartigen Wucherung aus verflochtenen, schwarzen Zweigen das
bärtige Steinhaupt einer Statue. Es hatte die perfekten Gesichtszüge eines
Götterbildes, doch die in den Himmel gerichteten Augenhöhlen waren leer.
"Meine Töchter!", flötete eine dünne, melodische Stimme von der Höhe des
Kopfes herab. "Ich freue mich, endlich wieder bei euch zu sein!"
Barn starrte die schreckliche Erscheinung voll Entsetzen an.
Was, bei Gruunz, war das? Eine
Pflanze, ein Tintenfisch oder eine Steinfigur? Über welche Kräfte verfügte
es? Und, was noch viel wichtiger war – wie wurde man damit fertig, wenn man
damit fertig werden musste? In seinem Kopf brodelten die Gedanken wie ein
Gebirgsbach in einer engen Schlucht: voller unbändiger Kraft, und doch
gezwungen, immer den gleichen Weg zu nehmen. Alles, was ihm einfiel, war die
traditionelle Angriffstaktik seines Volkes – brüllen, vorstürmen und
zuschlagen.
Er holte tief Luft und machte sich bereit, zumindest für das Brüllen. Doch
dann wurde er von Bewegungen vor ihm abgelenkt: die Frauen streiften ihre
Tücher ab.
Was darunter zum Vorschein kam, war nicht, was er erwartet hatte. Die drei
waren nicht jung und schlank wie in seinen Träumen, sondern schmutzig,
unansehnlich und in Kleidung gehüllt, die wenig besser erschien als die
Lumpen des Ungeheuers vor ihnen. Ihre Haut war dunkel, doch nicht der warme
Braunton der Menschen aus dem Süden, sondern ein stumpfes Grau, wie mit
Staub vermischte Asche. Allein die Gesichter waren vertraut, mit ihren hohen
Wangenknochen und den großen schrägen Augen, aber zwischen den vollen Lippen
schienen zu viele und zu scharfe Zähne zu sein, und auch mit den Augen
stimmte etwas nicht – sie schimmerten rötlich in der Mondnacht.
Barns schauderte, und sein Wille zum Kampf gegen das Monstrum wurde deutlich
geringer.
Die mittlere Frau hob ihre langen, grauen Arme in einer Geste der Anrufung
über den Kopf.
"Schicksal!", rief sie. "Wir sind am vereinbarten Platz, mit der
vereinbarten Gabe!"
"Tochter Alexo!", sang das Ungeheuer freudig. "Immer die erste unter den
Schwestern! Aber warum so förmlich – du kannst mich
Vater nennen!"
Meg stieß einen Laut des Abscheus aus.
"Wir sind nicht deine Töchter", sagte sie. "Wie du sehr gut weißt."
Ein Zucken ging durch die schwarzen Ranken, und der Torso schwankte wie
unter einem plötzlichen Windstoß. Ölige Flüssigkeit rann in dicken Tropfen
aus den Lumpen. Es war deutlich, dass die Antwort dem Ungeheuer nicht
gefiel.
"Megraine, mein süßes Verderben!", zischte es misstönend. "Die Zeiten haben
sich geändert, und mit ihr ändern sich die Geschichten. Die alten Gewebe
sind zerschlissen, es werden neue Tücher gewebt und an ihre Stelle
gesetzt!"
"Pah!", machte Megraine nur. "Du selbst bist zerschlissen, sieh dich nur
an!"
Diese Antwort gefiel dem Ungeheuer noch weniger.
"Niemand widersetzt sich dem Schicksal!", dröhnte es. "Auch du nicht,
schwarze Schlange!"
Eine Ranke schnellte auf Meg zu und bohrte sich zwischen ihren Füßen in den
Boden. Die Frau zischte nur verächtlich und spuckte aus. Eine grünliche
Wolke erhob sich, wo ihr Speichel das schwärzliche Glied traf. Das Ungeheuer
stieß einen schrillen Pfiff aus und bäumte sich auf. Dutzende schwarze
Ranken schossen durch die Luft wie armdicke Peitschenschnüre.
"Megraine! Nicht!", rief Alexo entsetzt. "Wir sollten erst reden!"
Dann wurde sie von einem Bündel Ranken getroffen und wie eine Puppe durch
die Luft geschleudert.
Die dritte Frau warf sich zu Boden. "Ich wusste es – sie hat uns
verlassen!", heulte sie. Eine Ranke fegte über sie hinweg.
Barn war der Entwicklung fassungslos gefolgt. Als ein schwarzer Arm auf ihn
zuschoss, konnte er kaum ausweichen, so verwirrt war er. Ein zweites Glied
folgte, und er warf sich zur Seite, während es dröhnend dort aufschlug, wo
er noch vor einem halben Augenblick gestanden hatte. Wasser spritze ihm in
die Augen, als er über den Boden rollte, und so sah er die dritte Ranke erst
im letzten Moment. In einer verzweifelten Anstrengung riss er Windmacher
hoch. Die Ranke traf die Schneide und wurde von ihrer eigenen Wucht der
Länge nach gespalten. Weißlicher Saft spritzte in einem dünnen Strahl aus
der Wunde, und ein grässlicher Schrei zerriss die Luft über der Lichtung.
Barn stemmte sich hoch und sprang zurück. Schwer atmend erwartete er den
nächsten Schlag. Doch das verletzte Monstrum schwankte nur auf seinen
schwarzen Gliedern wie ein Grasbüschel im Sturm und stieß schrille
Flötentöne aus.
Der Barbar grinste grimmig. Er hatte das Biest verwundet! In einer komplexen
Figur wirbelte er Windmacher über die linke Schulter und stieß ein
herausforderndes Grunzen aus.
Aber er griff nicht an. Eines der vielen ungeschriebenen Gesetze der
norländer Krieger lautete, dass ein Kampf immer ein lohnendes Ziel haben
musste – oder zumindest risikolos gewonnen werden konnte. Beides hielt Barn
derzeit nicht für gegeben.
Mit einem raschen Blick verschaffte er sich eine Übersicht der Situation auf
der Lichtung. Die furchtsame Frau kauerte weiterhin am Boden. Alexo war ein
stöhnendes Bündel am Rande eines Tümpels. Nur Megraine stand immer noch in
aggressiver Pose vor dem Ungeheuer, die Hände zu Klauen verkrampft und jeden
Muskel ihres Körpers sichtbar angespannt. Sogar ihre schwarzen, verfilzten
Haare schienen vor Erregung zu vibrieren.
Als hätte sie den Blick des Barbaren gespürt, drehte sie den Kopf und rief
Barn mit scharfer Stimme zu: "Worauf wartest du? Mach ihn fertig!"
Barn sah mit Entsetzen, dass ihre Augen blutrot leuchteten, und trat einen
Schritt zurück. Als er die Hitze der Fackel an seiner linken Wade spürte,
tat er noch einen Schritt nach rechts.
"Der Sterbliche und ich haben keinen Streit miteinander", tönte die Stimme
des Ungeheuers über die Lichtung. Sie klang gepresst. "Was hier passiert,
ist nur zwischen mir und euch dreien, schwarze Schlange!"
"Der Sterbliche wurde von der Herrin der drei Wege gesandt, um uns zu
beschützen", antwortete die schmerzerfüllte Stimme von Alexo von hinten. "Er
ist unser Wächter."
Das Ungeheuer stieß einen schrillen Pfiff aus. "Eure
Herrin? Eure Herrin hat euch
verlassen, genau, wie sie uns alle verlassen hat, damals."
"Sie ist nicht unsere Herrin!",
rief Megraine trotzig. "Du begreifst nichts, alter Mann!"
"Du bist es, die nichts begreift, Schlange! Die alten Zeiten sind vorbei,
und ich bin der Letzte, der einzig Übrige!" Das Ungeheuer redete sich in
neue Wut, seine Tentakel begannen wieder zu zucken, und das öligen Sekret
sickerte in dicken Tropfen durch die Binden. "Kommt mit mir, dient mir, und
zusammen werden wir herrschen, als das Schicksal und seine
Vollstreckerinnen!"
"Niemals!", stieß Megraine hervor. Einzelne Strähnen ihrer Haare richteten
sich angriffslustig auf.
Barn machte sich bereit für den nächsten Gewaltausbruch.
"Vielleicht sollten wir darüber nachdenken." Die dritte Frau erhob sich vom
Boden. "Ich würde vieles dafür tun, die alte Zeit zurück zu haben. Die Zeit
der Sonne und des Lebens", sagte sie leise. "Hier ist alles so kalt und
grau."
Megraine fuhr herum und zerfetzte mit ihren Klauenhänden die Luft vor ihrer
Schwester.
"Sissiphone, die Wohlmeinende",
spuckte sie aus. "Dann geh doch zu ihm, Verräterin!"
Sissiphone schüttelte den Kopf. "Ich allein? Wie soll das
funktionieren?"
"Niemand geht!", rief Alexo von hinten. "Der Wächter soll entscheiden, was
passiert!"
Megraine richtete ihren roten Blick auf einen Punkt hinter der linken
Schulter des Barbaren. Dann zuckte sie mit den Schultern: "Ist mir recht."
Ihre Hände entspannten sich. "Er wird nicht wie ein Feigling entscheiden, da
bin ich mir sicher."
Sie schenkte dem Barbaren ein Lächeln, das einen schwächeren Mann in die
Knie gezwungen hätte, und schritt an ihm vorbei. Der Barbar spürte kurz ihre
Gegenwart wie einen vorbeiziehenden Steppenbrand, dann war sie aus seinem
Blickfeld verschwunden. Sissiphone nickte nur und ging ebenfalls. Sie
hinterließ den Geruch eines Kornfelds unter der Sonne.
Barn bemerkte, dass er nun allein vor dem Ungeheuer stand. Er grunzte
missmutig. Irgendwie hatte er das die ganze Zeit kommen sehen.
Das Ungeheuer, offenbar ebenfalls mit der Situation unzufrieden, tänzelte
unruhig, wie ein nervöses Pferd.
"Ein Sterblicher soll über das
Schicksal entscheiden?", röhrte es und schwenkte die Vielzahl seiner Ranken.
"Das ist, als wolle ein
Schwein dem Löwen die Nahrung
vorschreiben!"
Barn kniff die Augen zusammen. Als Norländer war er ein Mann der Tat, nicht
der Worte, aber diesmal war es ein Wort, das ihn zur Tat trieb.
Ausgelöst von der simplen Erwähnung eines größtenteils harmlosen
Allesfressers, dessen Namen er dennoch am heutigen Tag entschieden zu oft
gehört hatte, fühlte er rote Wut wie eine Springflut in sich aufsteigen. Mit
einer beiläufigen Geste pflückte er die fast erloschene Fackel vom Boden und
stürmte, Windmacher nur in der rechten Faust führend, brüllend auf das
riesige Ungeheuer zu.
"Es war ein Witz, gruunzverdammt!", schrie er mit überschlagender Stimme, während er mit einem gewaltigen
Hieb ein halbes Dutzend schwarzer Tentakel abmähte, die das Monstrum ihm
eher zögerlich entgegenstreckte.
"Ein Witz!", wiederholte er und
ließ die Klinge erneut niedersausen. Der weiße Saft spritzte auf und
blendete ihn, aber die Wut hatte ihn in den – unter den Nordmännern
legendären – Zustand versetzt, in dem alle Sinneseindrücke zu einem einzigen
verschmolzen waren und er keine Augen mehr brauchte, um seinen Gegner zu
sehen. Er hörte, fühlte, roch und schmeckte den Kampf, und jede seiner
Bewegungen war die perfekte Reaktion auf die seines Gegenübers.
Bierserkergang nannten die
Skalden diese Verfassung, und sie wurde nur von den größten Kriegern des
Norlandes erreicht und gemeistert. Barn hackte und stach und schlug, und mit
jedem Hieb fielen die Tentakel bündelweise.
Die Anzahl der Arme, die das Ungeheuer ihm entgegenwarf, schien dennoch
nicht abzunehmen. Fast war es, als wüchsen sie in Augenblicksschnelle wieder
nach. Je näher Barn dem Rumpf des Monstrums kam, desto erbitterte wurde die
Gegenwehr, und irgendwann verloren selbst die übermenschlich geschärften
Sinne des Barbaren den Überblick. Eine dicke Ranke traf ihn mit Wucht am
Kopf, eine zweite umschlang seine Beine. Nur mit Mühe konnte er sich
freihacken, aber schon griffen neue Ranken nach ihm. Sie wickelten sich um
seinen Schwertarm und drückten mit unerbittlicher Kraft zu. Barn kämpfte mit
aller Macht dagegen an, doch er wusste, dass es nur noch Sekunden dauern
würde, bis seine Muskeln nachgaben und seine um den Schwertgriff gekrampften
Finger sich öffneten.
Auch um seine Mitte schlossen sich jetzt die schwarzen Ranken, drückten
seinen Brustkorb zusammen und zerrten ihn näher an den widerlichen Torso des
Ungeheuers. Er sah die verwesenden Lumpen, roch ihren ekelhaften
Grabesgestank und schmeckte den öligen Eiter, der aus dem zerfressenen Stein
darunter sickerte. Etwas wand sich um seinen Hals.
Schließlich war nur noch sein linker Arm frei. Vielleicht war es Zufall,
vielleicht aber mieden die Ranken auch aus irgendeinem Grund die Flamme der
Fackel. Dem Barbaren war es egal, es gab ohnehin nur noch diese einzige
Möglichkeit zur Gegenwehr: mit aller verbleibenden Kraft rammte er das
brennende Holzstück in die tropfnassen Fetzen.
An das, was danach passierte, konnte Barn sich später nur noch
bruchstückhaft erinnern. Es wurde blitzartig blendend hell und unerträglich
heiß. Der Druck der umschlingenden Arme überschritt für einen Herzschlag das
Maß des Erträglichen. Dann ließ er plötzlich nach, und Barn wurde von einer
explosiven Kraft nach hinten geschleudert. Windmacher wurde ihm aus der Hand
gerissen. Er sah die wirbelnde Klinge, gleißende Splitter blendend weißen
Lichts reflektierend, neben sich durch die Leere gleiten. Er lächelte, es
war ein ehrfurchterregender Anblick. So musste es aussehen, wenn das Schwert
einer Rachegöttin auf die Welt niederfuhr.
Dann schoss ein chaotisches Durcheinander aus Schatten, Gras und feuchter
Erde auf ihn zu, und er schlug auf, wie üblich mit dem Kopf zuerst. Das
letzte, an was er dachte, war geräucherter Schweinebauch mit Grünkohl.
Barn erwachte, weil ihm jemand etwas Kaltes gegen die Lippen presste. Er
wäre zurückgewichen, doch sein Körper gehorchte ihm nicht, er schien taub
wie ein Stück totes Holz. Während er langsam die Augen öffnete, ahnte er
schon, was, oder besser: wen er sehen würde.
"Nimm einen Schluck, das wird dir helfen", sagte Triune und lächelte. "Und
keine Angst, es wird dir keine weiteren Träume mehr bescheren. Keine von der
besonderen Art zumindest."
Der Barbar runzelte die Brauen, doch dann öffnete er bereitwillig die
Lippen. Er war wirklich durstig. Außerdem war etwas an der Frau über ihm so
grundlegend verändert, dass er gar nicht anders konnte, als ihr zu glauben.
Sie war immer noch Triune, doch sie hatte nichts Dunkles mehr.
Unheimlich aber war sie immer noch, eigentlich sogar stärker als zuvor, denn
ihr Gesicht war nun vollständig das, was vorher nur manchmal und dann auch
nur als flüchtiges Bild über ihre verhärteten Züge geglitten war: das
Antlitz einer Göttin.
Es schimmerte in seinem eigenen Licht, sanfter als Mondschein in einer
Sommernacht. Das gelockte Haar umfing dieses Antlitz in gleißenden Kaskaden
aus Kometenschweifen, und der mehr als perfekte Körper darunter war von
nichts als einem schimmernden Schleier aus funkelndem Sternenstaub verhüllt.
Nicht allein wegen der irritierenden Helligkeit schloss Barn daher die
Augen, während eine kühle Flüssigkeit, süß und würzig zugleich, prickelnd
über seine Zunge rann. Er erkannte sie: das war der gleiche Trunk wie der,
den er alleine geleert hatte, bevor noch Triune in ihr Haus gekommen
war.
Sehr schnell breitete sich Wärme in seinem Magen aus. Ein weiterer Schluck,
und er fühlte, wie die Starre aus seinem Körper wich und er wieder
vollständig er selbst war. Dann schob er das Gefäß beiseite und öffnete
erneut die Augen.
Diesmal wich er dem Anblick der Göttin aus und versuchte, stattdessen die
Umgebung zu erkennen. Das war nicht einfach, da Triune recht aufdringlich
leuchtete, und es sonst um ihn ziemlich dunkel war.
Dennoch erkannte er nach einiger Zeit überrascht, dass er immer noch auf der
nebligen Lichtung lag, mitten im matschigen Gras, und nicht wie erwartet auf
den Kissen in Triunes Haus.
"Richtig! Steh auf, sieh dir an, was du vollbracht hast!", rief die Göttin
und reichte ihm sogar die Hand, um ihm aufzuhelfen.
Barn ignorierte die schimmernde Hand und stemmte sich grunzend hoch. Er sah
sich um. Die Lichtung schien ihren Frieden wiedergefunden zu haben – die
Leuchtkäfer waren zurückgekehrt, die Kröten rülpsten aufs Neue ihr
eintöniges Lied, und der Nebel wogte sanft zwischen den Birken.
Nur dort, wo er gegen das Ungeheuer gekämpft hatte, streckte sich jetzt eine
verwüstete und geschwärzte Fläche bis zum Waldrand. Und auch das Ungeheuer
war noch da – zumindest Teile von ihm. Der kopflose, weiße Torso eines
muskulösen Mannes erhob sich inmitten der Asche, als habe er schon immer
dort gestanden, und daneben lag, halb versunken, der bärtige und augenlose
Kopf.
Der Barbar verzog das Gesicht, und seine Hände ballten sich zu Fäusten. Die
Göttin kicherte.
"Mein alter Freund ist jetzt ungefährlich", sagte sie fröhlich. "Du hast ihn
mit Flamme und Schwert von einer schwerwiegenden Unterleibskrankheit
geheilt."
Sie lächelte in das verständnislose Gesicht des Barbaren. "Eine tragische
Geschichte – einst war er der Erste und Größte unter uns, doch als die
Menschen unserer Spiele müde wurden und sich von uns abwandten, kam er am
wenigsten damit zurecht. Er saß weiter auf seinem Berg, schleuderte Blitze
ins Tal und jagte die Mädchen. Er sah nicht, dass seine Blitze nur noch
Funken waren, und die Geliebten einfache Landfrauen, nicht wenige im
fortgeschrittenen Alter. Ich wollte ihm helfen, aber als ich ihm die Fackel
der Erkenntnis reichte, wich er vor dem Licht zurück und floh in die
Dunkelheit. Dort wurde er zu dem Zerrbild, das du heute gesehen hast.
Schließlich begann er, mich zu verfolgen, denn er gab mir die Schuld an
seinem Niedergang."
Sie seufzte.
"Unsterblichkeit ist ein Fluch, wenn man vergessen wird oder das Vergessen
sucht. Wie Schauspieler ohne Publikum spielen wir die alten Rollen weiter,
weil wir nichts anderes können. Viele von uns verfallen dem Wahnsinn und
werden gefährlich für sich selbst und andere – wie er dort. Andere – wie ich
– ziehen sich immer weiter zurück, können aber nicht davon lassen, insgeheim
das alte Spiel fortzuführen und jede Maske aufzusetzen, die die Zeit uns
hinhält. Ich war Hebamme, Herrscherin und Hexe, habe geheilt, verwaltet und
verflucht. Ich war eine, ich war drei, ich war neun, ich war so viele, wie
es gerade erwartet wurde. Niemals aber", sie stockte, "war ich ich
selbst."
Sie blickte zu Boden. "Weil ich nicht weiß, wer das ist."
Mit gesenktem Kopf verstummte sie, und ihr Schimmer schwand, bis sie fast
menschlich wirkte, eine wunderschöne junge Frau nackt unter dem Mondlicht.
Barn grunzte, und in seinem Kopf und einigen anderen Regionen begannen die
üblichen Prozesse.
Er begann zu überlegen, wie sich dieser Körper wohl anfühlen würde. War er
hart oder weich, warm oder kalt? War sie kitzelig? Und quiekte sie, so wie
manche Mädels, wenn sie einen Höhepunkt hatte – oder fielen vielleicht sogar
die Sterne vom Himmel? Konnte eine Göttin überhaupt einen Höhepunkt haben?
Er hatte gehört, dass viele Götter ständig hinter normalen Mädels her waren
und ihnen sogar Kinder machten. Also ging es vermutlich auch andersherum. Er
grinste. Das wäre mal eine Sache, mit der man vor den Kumpels angeben
konnte!
Dann jedoch musste er plötzlich an Brassica denken, und den Grund für den
Streit und das Schwein im Kleid. Was würde er tun, wenn eine
Göttin etwas von ihm wollte, was
er nicht wollte? Wie zum Beispiel ein Grünkohlbauer werden und eine Familie
gründen? Er schauderte. Nichts könnte er tun! Nein, er würde Triune in Ruhe
lassen, für heute hatte er genug Ärger gehabt.
Also straffte er sich und nickte Triune verständnisvoll zu, als habe er
zugehört und tatsächlich begriffen, was sie ihm erzählt hatte.
Die Göttin blickte immer noch zu Boden und schwieg. Sie schwieg so lange,
dass Barn noch etwas anderes einfiel, was er über Götter gehört hatte –
nämlich, dass sie die Gedanken der Menschen hören können, als würden sie
laut ausgesprochen. Seine Ohren wurden plötzlich sehr heiß. Er grunzte und
hustete.
"Hm, wo sind eigentlich die drei Mädels hin, die Schwestern?", plapperte er
los. "Sind sie in Sicherheit?"
Triune hob den Kopf, und in ihren strahlenden Augen lag etwas von der
stählernen Härte der alten Hexe. "Du hast mir wirklich nicht besonders gut
zugehört, oder, Barn von Täppenwinkel?", fragte sie. "Zu sehr an Dinge
gedacht, die quieken?"
Barn presste die Lippen zusammen und zuckte mit den Schultern.
"Ich bin eins, und ich bin drei", wiederholte sie. "Verstehst du?"
"Hm", machte Barn unverbindlich und bemühte sich, dabei nichts zu
denken.
Die Göttin widmete ihm noch einen langen Blick, dann beugte sie sich vor und
hob etwas vom Boden auf. Es war Windmacher. Mit Unbehagen registrierte Barn,
dass sie die schwere Waffe hielt, als sei sie nur ein trockenes Blatt.
"Uns ist nicht entgangen, dass du sehr geschickt mit dem Schwert umgehen
kannst", sagte die Göttin freundlich, und dabei klang ihre Stimme plötzlich
wie die von Alexo. "Eine von uns Schwestern fragt sich, ob du auch in
anderen Angelegenheiten so talentiert und ausdauernd bist."
Sie reichte dem Barbaren das Schwert. "Steck das weg und folge mir", sprach
sie, wieder mit ihrer normalen Stimme. "Deine vierte Aufgabe wartet."
Der Weg von der Lichtung fügte Barns langer Liste unbegreiflicher Ereignisse
einen weiteren Eintrag hinzu: er war der Göttin vielleicht zwei oder drei
Schritte gefolgt – gerade so lange, dass er feststellen konnte, dass sie im
feuchten Gras sanft schimmernde Fußabdrücke hinterließ – da fand er sich
auch schon in dem von Kerzen erleuchteten Flur ihres Hauses wieder.
Als habe sie den Ort nie verlassen, erwartete Triune ihn an der Tür zum
Kaminzimmer. Sie trug wieder das schwarze Gewand der Hexe, dessen Kapuze
ihre Haare bedeckte und ihr Gesicht in Schatten tauchte.
"Komm herein und setz dich zu mir – ich will dir noch einen Rat geben, bevor
diese Nacht zu ihrem Ende kommt", sagte sie. Barn nickte müde. Die Aussicht
auf ein wenig Ruhe in den weichen Kissen erschien ihm verlockend. Vielleicht
gelang es ihm dabei sogar, Triune zuzuhören.
"Du hast mich heute Nacht von einem Fluch erlöst, und daher erlaube ich mir,
auch Brassicas Fluch von dir zu nehmen", begann die Göttin. "Du hast sogar
mehr getan: die widerstrebenden Teile von mir aus ihren Träumen geholt und
mich wieder zu einem Ganzen gemacht – wenn auch nur für kurze Zeit. Daher
wird deine letzte Aufgabe beides sein: Belohnung und Bestrafung
zugleich."
Unter schweren Lidern starrte Barn auf die schimmernden Lippen, die so viele
komplizierte Sachen sagten. Er verstand schon wieder kein Wort, aber es
fühlte sich gut an, nur diesen Lippen zuzusehen.
"Aber ehe ich mich verabschiede, möchte ich, dass du über Folgendes
nachdenkst: wenn du ein Schwein in das Kleid einer Person steckst, ist es
dann nicht ein wenig so, als würdest du die Person selbst in ein Schwein
verwandeln?"
Der Barbar zögerte, dachte nach, dann grinste er: das war natürlich Unsinn.
Er schüttelte den Kopf.
Triune schob ihre Kapuze zurück und entblößte ihr wunderbares, weißes
Haar.
"Du weißt mittlerweile, was ich bin", stellte sie fest, dann hob sie die
Brauen: "Oder?"
Barn nickte und wurde misstrauisch. Wo sollte das jetzt wieder hinführen?
Triune ließ ihre perfekten Zähne blitzen.
"Wenn ich also sage, dass du ein Esel bist, dann wäre das eine ganz andere
Sache, denn ich habe die Macht, aus Worten Tatsachen zu machen."
Barn runzelte die Stirn. Er fühlte sich plötzlich sehr unbehaglich.
Triunes lautes, herzliches Gelächter traf ihn wieder völlig unvorbereitet,
aber auch diesmal blieb ihm nichts anderes übrig, als schließlich selbst zu
lachen. Für ein paar Augenblicke war der Raum so angefüllt von den Lauten
herzlicher Anarchie, dass das niedergebrannte Feuer im Kamin wieder hell
aufloderte. Dann stand die Göttin abrupt auf.
"Denk darüber nach, das ist mein Rat", sagte sie lächelnd. "Und jetzt – leb
wohl."
Sie hob die Kapuze wieder an ihren Platz und verließ mit langen Schritten
den Raum. Ihre lautlosen Füße hinterließen kleine, schimmernde Umrisse auf
dem polierten Holz des Bodens. In der Tür blieb sie noch einmal stehen und
wandte sich dem Barbaren zu: "Eine der drei Schwestern ist übrigens sehr
beeindruckt von dir. Sie ist eine romantische Seele, aber wegen der schweren
Last ihrer Aufgabe – und ihrer eher aggressiven Art – hat sie bisher noch
keine Erfahrung in Liebesdingen sammeln können. Ich würde mich nicht
wundern, wenn sie dich nachher noch besuchen käme."
Sie zwinkerte Barn fröhlich zu und verschwand.
Der Barbar sprang auf und polterte mit seinen schweren Stiefeln zur Tür.
"He!", rief er – aber fand den Korridor bis auf die unruhig flackernden
Kerzen leer.
Grübelnd schlurfte er zurück zum Kamin. Was hatte das jetzt wieder bedeuten
sollen?
Er ließ sich schwer in die Kissen sinken und überlegte, ob es nicht besser
wäre, das Haus zu verlassen. Er hatte keine große Lust auf weiteren Verkehr
mit den schrägen Schwestern. Dann blickte er zum Fenster. Hinter dem
beschlagenen Glas drängte sich immer noch die Dunkelheit und mit ihr die
Drohung einer kalten, feuchten Nacht im Freien.
Er schüttelte den Kopf. Es gab Herausforderungen, denen sich ein Mann
stellen musste, und es gab Situationen, in denen es auf weichen Kissen viel
gemütlicher war. Gähnend nahm er die Schwerthülle vom Rücken, zog Windmacher
heraus und legte die blanke Klinge auf den Boden. Das würde als
Vorsichtsmaßnahme genügen. Dann schob er ein paar Kissen zusammen und
streckte sich auf ihnen aus.
Eine Weile noch starrte er in die Flammen des Kaminfeuers und fragte sich,
was wohl in dem Sack gewesen sein mochte, den Triune ins Feuer geworfen
hatte. Aber seine Gedanken drifteten auseinander wie eine Herde unbehüteter
Schafe. Da er keinen Sinn darin sah, sie wieder einzufangen, schloss er die
Augen und vergaß die Sache.
Er erwachte durch einen kalten Luftzug. Es war stockfinster, und ein
seltsamer Geruch lag in der Luft. Die Kälte verriet ihm, dass das Fenster
offen sein musste. Seine Finger tasteten nach Windmacher. Eisiger Schrecken
durchfuhr ihn, als er die Waffe nicht fand. Dann spürte er dicht neben sich
eine Bewegung. In Gedankenschnelle rollte er zur Seite, sprang auf und
schwang den rechten Arm im Halbkreis durch das Dunkel. Er traf etwas, aber
es war nur eine flüchtige Berührung. Nach einem Schritt nach links ging er
vorsichtig in die Hocke.
Das Wichtigste bei einem Kampf in völliger Finsternis war, die eigene
Position nicht zu verraten – nie zu lange an einem Ort bleiben, aber sich
auch nur dann bewegen, wenn es nötig war.
Er hielt den Atem an und lauschte.
Es war sehr still, also wartete auch der Gegner auf ein Zeichen. Jetzt kam
es darauf an, wer länger durchhielt. Während Barn versuchte, das Geräusch
der Schläge seines eigenen Herzens auszublenden, überlegte er, wer der
Eindringling sein konnte. Das Ungeheuer von der Lichtung war es sicher nicht
– seine Reste hatten nicht so ausgesehen, als ob sie sich noch bewegen
könnten, und selbst wenn irgendein finsterer Zauber es doch möglich machte,
wäre es ihm nie gelungen, lautlos in den Raum zu gelangen.
Und Triune würde wohl kaum wie eine Diebin in ihr eigenes Haus einbrechen.
Oder würde sie?
Er hörte ein Rascheln und sprang. Eine weitere Regel des blinden Kampfes war
es, möglichst kein Mobiliar zu rammen. Der Lärm eines umstürzenden Regals
und ein heißer Schmerz in seiner Schulter erinnerten ihn daran. Der
missglückte Sprung endete auf dem harten Holzboden und ließ ihn für einen
Augenblick hilflos liegen. Still fluchend erwartete er den unvermeidlichen
Angriff. Doch der kam nicht. Stattdessen hörte er schnelle, aufgeregte
Atemzüge nur eine Armlänge entfernt. Eine Falle?
Mit dem Fatalismus, der seinem Volk innewohnte – und der von manchen
südlichen Gelehrten auch als völlige Verantwortungslosigkeit bezeichnet
wurde – warf er sich herum und packte zu. Seine Finger schlossen sich um
glatte, warme Haut, und ein verwirrender Geruch von scharfen Gewürzen und
heißer Asche stieg ihm in die Nase. Er identifizierte das gegriffene Objekt
als ein Bein, unter dessen Haut sich kräftige Muskeln spannten. Es gab
offenbar ein zweites Bein, denn er erhielt einen wuchtigen Tritt in die
Seite.
Mit der Erfahrung aus Hunderten von Wirtshausschlägereien wusste er, was zu
tun war – er zog. Befriedigt registrierte er das Geräusch eines
aufschlagenden Körpers, zögerte nicht und warf sich darauf.
Ab diesem Zeitpunkt änderte sich die Natur des Kampfes grundlegend, denn
sein in solchen Dingen untrüglicher barbarischer Instinkt informierte den
Nordmann, dass es sehr eindeutig der Körper einer Frau war.
Da Barn entgegen der allgemeinen Auffassung weiter Teile der Bevölkerung des
Südens kein hemmungsloser Schänder war, versuchte er, sich diskret wieder zu
lösen – und musste überrascht feststellen, dass die Frau dies nicht zuließ.
Ihre Arme und Beine schlangen sich um ihn, und mit erstaunlicher Kraft
krallten sich zwei Hände in die Muskeln seines Rückens. Mit einer gewissen
Resignation spürte der Barbar, wie das Leder seiner alten Jacke unter dem
hemmungslosen Griff zerriss, aber nachdem die methodische Zerstörung seiner
gesamten Kleidung eine gewisse Grenze überschritten hatte, war ihm auch das
egal, und er begann seinerseits das raue Spiel, das er so liebte.
Als die Frau unter ihm ihre blutrot leuchtenden Augen dann weit aufriss und
das erste Mal ein Heulen ausstieß, das im tiefsten Bass begann, sich höher
und höher aufschwang und schließlich in einem ekstatischen Kreischen endete,
war er nicht einmal mehr besonders schockiert.
Mit der Zeit gefiel es ihm sogar.