Der Wächter

 Barn war erleichtert, als er zwischen den Stämmen das weite Land sah. Der Waldrand! Endlich wieder etwas anderes zu essen als Borkenkäfer, Blätter und Bucheckern!

Hinter den letzten Bäumen lag eine abschüssige Wiese mit hüfthohem Gras. Mitten darin ragte ein einzelner grauer Felsblock, ein Findling, in den blauen Himmel. Auf dem Felsen saß ein alter Mann. Er hatte einen langen, weißen Bart, der zwischen seinen dürren Beinen über den Stein hing. Sonst war er nackt. Er blickte in die Ferne.

Barn hob einen Arm und winkte dem Alten zu.

"Gruunz zum Gruß, Alter!", rief er gut gelaunt. "Was machsten da oben?"

Der Mann drehte sich um. Er zwinkerte überrascht, als er Barn sah.

"Ich bin der Wächter. Ich sitze hier, um die Menschen vor dem Wald zu warnen.", antwortete er nach einer Weile. Seine Stimme war dünn und brüchig, als benutze er sie nicht oft. "Wenn ich jemanden sehe, der sich dem Waldrand nähert, rufe ich ihm zu, dass er nicht hineingehen soll, denn der Wald ist groß und dunkel, und mancher kommt nicht mehr heraus.“

"Hm", brummte Barn. "Ich komm aber gerade aussem Wald, oder?"

"Du kommst aus dem Wald? Das ist… ungewöhnlich."

Der Mann auf dem Felsen verstummte. Offenbar musste er nachdenken. Er spielte eine Weile mit seinem Bart.

"Ich habe dich nicht reingehen sehen", sagte er schließlich. "Daher konnte ich dich nicht warnen."

"Ich bin von der anneren Seite in den Wald gekommen, von den Bergen!“

"Der Wald hat eine andere Seite?" Der alte Mann klang überrascht, fast entsetzt.

Barn nickte.

Erneutes Schweigen. Der alte Mann rutschte auf seinem Stein hin und her, steckte Teile seines Barts in den Mund und kaute darauf herum. Dann spuckte er sie wieder aus. Das ging eine ganze Weile so.

"Wie war es denn so im Wald?", fragte er endlich.

"Normal. Bäume."

"Dunkel?"

Barn überlegte. "Nachts war es dunkel", antwortete er dann.

Der Mann nickte zufrieden.

"Ich wusste es!"

Er blickte zum Wald, dann blickte er auf Barn.

"Aber dass du nicht verschwunden bist, erstaunt mich. Andere, die hineingegangen sind, sind nicht mehr herausgekommen."

"Ho, vielleicht sind sie auf der anderen Seite wieder raus?"

Der Mann machte eine unwirsche Geste. "Unsinn!", rief er. "Du bist doch auch nicht auf der anderen Seite herausgekommen!"

Barn dachte lange darüber nach. "Das stimmt, Alter", gab er schließlich zu.

Der alte Mann lächelte. "Siehst du – deswegen sitze ich hier und warne alle vor dem Wald! Geh bloß nicht hinein!"

"Mach' ich nicht, keine Sorge, Alter!"

Barn tippte grüßend an die Stirn, als er am Felsen vorbeiging. Vor dem Horizont stieg Rauch auf, er sah in der Ferne Dächer leuchten. Eine Stadt! Er beschleunigte seine Schritte. Dort gab es bestimmt ein Gasthaus – nach zwei Nächten auf dem Waldboden sehnte er sich nach einem richtigen Bett und einer warmen Mahlzeit.

"Rüpel!", rief ihm der Wächter hinterher. "Du hättest dich ruhig bedanken können!"