Tolle Tage in Thenil

 1.

Der kleine graue Priester rieb sich ächzend den Rücken. Die sechshundertsechsundsechzig feuchten Stufen von der Königsburg von Thenil hinunter zum unterirdischen Altar des Pomander bereiteten ihm mit jedem Hinabsteigen mehr Beschwerden.

Das Treppengewölbe war so niedrig, dass er gebückt gehen musste, und das war für einen Mann von zweiundsechzig Jahren nicht einfach. Dann gab es noch den üblen Dunst aus dem 'Bodenlosen Pfuhl', der ihm von unten aus der Tempelgrotte entgegenstieg, mit klammen Geisterfingern nach seinen rheumatischen Knochen griff und in seinen kultgemäß spitz zugefeilten Zähnen schmerzte. Den schlimmsten Schmerz aber verursachte das Wissen, dass er nach dem Gottesdienst den gleichen Weg wieder hinaufsteigen musste.

Wegen dieser Unbequemlichkeiten hatte der pragmatische Gastridis die Anrufungen seines göttlichen Herren auf das nötige Mindestmaß beschränkt. Dazu gehörte auch, dass er die meisten Opfergaben für sich behielt. Nur wirklich unbrauchbare Geschenke wie gehäkelte Lurchpuppen, kandierte Katzen oder Krötenschoner aus Holzwolle warf der graue Mann noch in den Pfuhl, wo sich der Gott an ihnen auf die Ihm Eigene Weise delektieren konnte.

Gastridis konnte sich diese Lässigkeit leisten, denn die Manifestationen des uralten Gottes wurden seit Jahren schwächer. Manchmal stieg bei den - schon lange nicht mehr öffentlichen - Anrufungen nur noch übelriechender Schaum statt des ölig-glatten Lurchleibes aus den trüben Wassern des Pfuhls, und selbst wenn der Gott einmal erschien, sabberte er, redete wirres Zeug und sang alberne Lieder, genau wie ein betagter Greis, der der Obhut seines Wohnheims entkommen war.

Das musste sich selbst ein hingegebener Priester nicht häufiger als einmal im Monat antun.

Und Gastridis war schon lange kein hingegebener Priester mehr.

Im Gegenteil: Das Hinschwinden seines Herren kam Gastridis grundsätzlich gelegen, denn er hatte den Dienst am Gott gründlich satt. Sechsundvierzig Jahre seines Lebens hatte er einem blubbernden Lurch mit miesen Manieren gewidmet. Das war genug.

Überhaupt wollte kaum noch jemand in der Stadt an eine göttliche Amphibie glauben. Das wirkte irgendwie überholt, so wie die ganze Spezies. Und ohne Anbetung welkte der Gott dahin wie eine Pflanze ohne Wasser.

Ohne Gläubige gab es auch keine Opfergaben.

 

Das war des Priesters Problem. Spenden waren das einzige gewesen, was dem mürrischen Gottesmann die Arbeit mit dem launischen Lurch angenehm gemacht hatte.

Früher, in Gastridis' Jugend, hatte sich unter dem Knarren der Gallenfrösche bei Neumond halb Thenil in den Sümpfen zusammengefunden, um mit ekstatischer Hingabe Jungfrauen zu würgen und in Tümpel zu tunken. Und Pomanders Opfertruhen waren stets zum Bersten gefüllt gewesen. Doch seit den neumodischen, spektakulären Kulten jüngerer Götter wie Smaat-Voon oder Cthulhu auch bis in die alte Karawanenstadt gedrungen waren, schwand die Zahl der Anhänger des alten Erzlurchs rapide. Und das, obwohl der Herrscher der Stadt traditionsgemäß immer noch offiziell zu Pomander betete.

 

Daher war der Priester erstaunt, als er den Fuß der Treppe erreichte und das Wasser des Bodenlosen Pfuhls in heftiger Bewegung fand. Die klamme Luft war voller Geisterbilder und stank salzig nach Sumpf, ganz wie in den alten Zeiten, als der dicke Lumbago noch Hohepriester gewesen war und Gastridis nur sein junger Gehilfe.

Selbst die neun fetten und faltigen Buckelkröten, die heiligen Tiere des Gottes, hatten nach langen Jahren scheintoter Reglosigkeit wieder ihre gelben Augen geöffnet und ließen die bleifarbenen Zungen spielen.

Zögernd raffte Gastridis die Robe aus Mäuseleder um den mageren Leib und trat an den Altarblock aus grobem Granit. Es hieß, der Gott selbst habe vor Zeiten die Abbilder von paarenden Lurchen in den harten Stein gekratzt. Wenn die Sage wahr war, war es gut, dass der Gott ein Gott war, denn als Bildhauer wäre er verhungert.

Gastridis räusperte sich, hob die Arme und wollte die Anrufung beginnen.

Doch da stieg schon ein grässlich schlürfendes Wispern aus dem blasenschlagenden Wasser und füllte die niedrige Grotte mit zitternden Lauten, die fühlbar wurden wie ein taumelnder Schwarm geflügelter Maden. Die Kröten hoben ihre schweren Häupter und ließen ein blubberndes Grunzen hören.

"GASTRIDIS! ICH HABE DICH ERWARTET!" gurgelte es durch den Raum.

Gastridis schluckte heftig, bevor er antwortete.

"Ja, Meister?"

"GASTRIDIS, MEIN PRIESTER!" gurgelte der Gott. "AUCH WENN DU MIR IN LETZTER ZEIT RECHT SCHLECHT GEDIENT HAST, SO SOLL DIR DOCH NUN EINE UNGEHEURE EHRE ZUTEIL WERDEN: DU WIRST DER WEGBEREITER MEINER EWIGWÄHRENDEN HERRSCHAFT WERDEN!"

Gastridis duckte sich, als ein gewaltiges, schwarzschleimiges Gebilde spritzend aus dem Pfuhl schoss und tausend phosphoreszierende Augen öffnete. Der Priester staunte: das war das Tausendfältig Leuchtende Lurchauge, eine der mächtigsten Manifestationen Pomanders. Warum verschleuderte der schwindende Gott seine Kraft auf diese Weise?

"GASTRIDIS! SCHON LANGE BIN ICH GESCHWÄCHT DURCH DAS GELÄCHTER ALBERNER JUNGER GÖTTER! DAS WINDIGE PACK HAT MICH VON DEN ORTEN VERTRIEBEN, VON DENEN ICH OHNE ANSTRENGUNG ZU DEN MENSCHEN SPRECHEN KONNTE, UND ES STIEHLT MIR DIE GLÄUBIGEN, AUS DEREN OPFERN UND GEBETEN ICH MICH NÄHRE! SELBST HIER, IN MEINEM EIGENEN TEMPEL, KOSTET ES MICH KRAFT, ZU DIR ZU SPRECHEN. ICH WERDE NICHT LANGE BLEIBEN KÖNNEN. HÖRE ALSO GUT ZU UND MERKE JEDES WORT, DENN ES SPRICHT VON DER WIEDERGEBURT DES EWIGEN SUMPFES, DER NIEDERKUNFT DEINES HERREN!"

"Meister, ich höre!" rief der Priester und senkte demütig das Haupt. Dabei überlegte er, ob Pomander nun wohl völlig den Verstand verloren hatte. Falls ein Lurch – selbst ein Lurch-Gott - überhaupt jemals so etwas wie einen Verstand gehabt hatte.

"ICH WEISS, dass DER ALTE KÖNIG EINE NEUE GATTIN GEWÄHLT HAT", fuhr der Gottlurch blubbernd fort. "DIESE FRAU ABER IST DURCH EINE FÜGUNG DES SCHICKSALS VOR BALD SIEBZEHN JAHREN WÄHREND EINER MONDFINSTERNIS GENAU IN DER MITTE DER NACHT DES SCHWARZEN LURCHES UNTER ANWENDUNG VON GEWALT GEZEUGT WORDEN UND GEHÖRT DAHER MIR, OHNE dass SIE ES SELBST WEISS. NUN, DA SIE SICH IN MEINER STADT AUFHÄLT, KANN ICH SIE ZU MEINEM GEFÄSS MACHEN UND MICH SELBST ALS IHR KIND IN IHREN SCHOSS SÄEN. NACH NEUN MONDEN WERDE ICH DANN ALS IHR UNSTERBLICHER SOHN GEBOREN WERDEN, UND MEINE MACHT WIRD, DA ICH MITTEN UNTER DEN MENSCHEN STEHE, GRÖSSER SEIN ALS DIE ALLER ANDEREN GÖTTER! HA, ICH WERDE DIESES TROCKENE, EITEL SCHWATZENDE PACK AUS SEINEM ALBERNEN PANTHEON WERFEN UND ES IN DIE ABGRÜNDE JENSEITS DER STERNE TREIBEN! DANN WIRD ES NUR NOCH MICH GEBEN, UND DIE MENSCHEN WERDEN IM KÖSTLICHEN MORAST KNIEN UND BETEN, BIS DICKES BLUT WIE SCHLEIM VON IHREN LIPPEN LÄUFT!"

Der Gott machte eine Pause und ließ seine Augen blinken. Das Quaken der Kröten schwoll.

"Sehr gut, Meister!" rief Gastridis, nicht wirklich überzeugt. "Und was soll ich dabei tun?"

"WIE ICH BEREITS SAGTE, KOSTET ES MICH VIEL KRAFT, AUF DER EBENE DER MENSCHEN ZU ERSCHEINEN. DAHER BRAUCHE ICH EINEN ANKER IN DEINER WELT, EINE HÜLLE, EINEN STERBLICHEN KÖRPER, UM IN DIE KÖNIGIN EINZUDRINGEN!"

Gastridis erbleichte. Das konnte der Lurch nicht ernst meinen!

"Aber... Meister! Ich bin alt... und mein schwacher Rücken war für die Liebe nie geeignet..."

"NICHT DU!" donnerte der Lurchgott ungehalten. "ICH BRAUCHE EINEN JUNGEN MANN, DER VON KÖRPERKRAFT STROTZT; EINEN HITZIGEN BERG AUS FLEISCH UND MUSKELN, EINEN POTENTEN KRIEGERISCHEN HÜNEN, DER EINES GOTTES WÜRDIG IST. NUR SEIN GEIST muss SCHWACH UND DUNKEL SEIN, DAMIT ICH IHN DURCHDRINGEN KANN. ICH KANN MEINE KRAFT NICHT DAFÜR VERSCHWENDEN, DEN WIDERSTAND EINES WACHEN GEISTES ZU BRECHEN. DU SOLLST EINEN SOLCHEN MANN FINDEN! ICH WEISS, dass EIN FEST IN DER STADT IST UND VIELE MENSCHEN DORT WANDELN. AN AUSWAHL WIRD ES ALSO NICHT MANGELN."

 

Gastridis seufzte. Er hasste es, sich unter das Volk zu begeben. Man respektierte ihn dort nicht mehr so wie früher, und Kinder machten hinter seinem Rücken manchmal spöttische Froschgeräusche, wenn er durch die Straßen ging.

"Sehr wohl, mein Meister! Ich werde einen Gehilfen aussenden. Er ist Hauptmann der Königsgarde und der schwarzen Kröte in tiefer Angst ergeben!"

Der Gott blubberte. Ein schwarzer Tentakel schoss durch die Luft und hämmerte wie ein aufgebrachter Steinmetz wütend auf den Altarstein ein.

"NEIN!!! KEIN SKLAVE WIRD GESCHICKT! DU SELBST WIRST IN DIE STADT GEHEN UND DEN MANN FINDEN! ICH BIN EIN GOTT UND KEIN ZWEITKLASSIGER DÄMON, DER MIT DER DIENERSCHAFT ABGESPEIST WIRD!"

Gastridis wich erschrocken zurück.

"Natürlich, natürlich. Ich selbst werde gehen. Du befiehlst, Meister", sagte er matt und zwang seine schmerzenden Knochen in eine leichte Verbeugung.

"SEHR GUT, MEIN TREUER DIENER!" dröhnte der Gott. Dann zerfiel seine erhabene Erscheinung sehr schnell zu einem schwarzen, stinkenden Schaum, der sich im Bodenlosen Pfuhl knisternd auflöste.

Gastridis stützte sich auf den Altar und schloss die Augen. Er war erschöpft und verwirrt.

"Na gut, dieses eine Mal noch... " murmelte er schließlich.

Dann trieb ihn der Gestank aus der Grotte.

 

Während er wieder langsam die sechshundertsechsundsechzig Stufen hinauf zu seinem Arbeitszimmer stieg, steigerten sich die neun heiligen Buckelkröten unten am Pfuhl in eine religiöse Ekstase und begannen schwerfällig übereinander zu kriechen.

Es war kein schöner Anblick, und ein böses Omen für die kommenden Zeiten.

2.

Auf der Straße der Tausend Freuden herrschte dichtes Gedränge, denn es war ein Festtag: Der König heiratete.

Die Sonne, die nach einem heißen Frühlingstag in einem Schleier aus orangefarbenen Dunst wie eine keusche Tempeltänzerin hinter den zahlreichen Türmen der Stadt Thenil unterging, beleuchtete eine bunte Vielzahl von Menschen, die auf der Suche nach Sensation und Rausch über das schmutzige Pflaster und erste Betrunkene stampfte.

Hunderte Händler und Schausteller waren aus dem umliegenden Land und der nahen Küstenstadt Brack, einige auch aus den Nachbarreichen Myr Mamon und Dungg und sogar dem nebeldurchzogenen Myll im Osten gekommen, um den Besuchern die Augen aus dem Kopf und das Gold aus der Tasche zu ziehen.

Zelte mit Attraktionen und feilen Waren drängten sich in jedem freien Platz längs der Vergnügungsstraße, Straßenmusikanten trugen zu dumpfem Trommelschlag schaurige Balladen vor, Akrobaten und Narren in bunten Lumpen vollführten Kunststückchen, lauthals rufende Männer mit Bauchläden drückten sich durch die Menge, und an allen Ecken und Enden brieten Garköche miserables Fleisch in offenen Feuern.

Selbst die Gilde der Taschendiebe von Thenil hatte für diesen Tag die Zunftbrüder aus Brack herbeigerufen, da der Meisterdieb fürchtete, allein mit seinen Getreuen der Massen nicht Herr werden zu können.

Lachen und Singen, Trinken, Stehlen und Springen waren die überall vorherrschenden Tätigkeiten.

 

*

 

König Dullbert, seit mehr als fünfzig Wintern Herrscher über Stadt und Land Thenil, hatte den Tag - der nur ein gewöhnlicher Mittwoch und nach dem alten magischen Kalender von Thenil auch noch 'Tag der Widerwärtig Warzigen Farzenden Warzenkröte' war - zu seinem Hochzeitstag und zum allgemeinen Festtag erklären lassen. Das bewies zwar wenig Feingefühl, aber der König war – wie erwähnt – alt, und er verspürte einen gewissen Druck.

Des Königs neue Braut - die mittlerweile achte - war am Vortage, dem 'Dienstag', einem Dienstag, eingetroffen. Die sechzehnjährige 'Clandine die Mandeläugige' war die siebzehnte Tochter Vilimunds des Unentschlossenen, des derzeitigen Häuptlings der Garstek. Die Garstek waren ein Nomadenstamm aus den Steilen Zähnen, dem Gebirge, das des Königs Land im Norden begrenzte. Immens fruchtbar, vermehrten sich die Garstek in einem Maße, dass ihnen die heimatlichen Gebirgsschluchten zu eng geworden waren und sie in letzter Zeit in wachsenden Zahlen die Grenzhöfe Dullberts überfallen und verwüsten mussten.

Daher erhoffte sich Dullbert - neben Sicherheit an der Grenze - auch endlich Nachwuchs aus dieser Verbindung. Alle bisherigen Ehen des Monarchen waren an der - stets hohepriesterlich nachgewiesenen - Unfruchtbarkeit der Gattinnen gescheitert. Der Scharfrichter hatte sie trennen müssen.

Öffentlich hatte der König am Tag Der Dürren, Haarigen Und Ziemlich Feigen Kreatur, Die Sich Nie Wäscht - oder auch 'Montag', nach dem alten Kalender - seine Absicht, am Hochzeitstag auch gleich den Thronfolger zu zeugen, vom Goldenen Balkon des Schlosses verkündet.

Die Bürger hatten natürlich gejubelt, aber insgeheim gab es manche bedrückte Miene. Zu viele junge Königinnen hatte das Volk von Thenil schon enthauptet in den Sümpfen versinken sehen, weil sie dem König kein Kind geboren hatten. Und auch für die neue Gattin standen die Chancen schlecht. König Dullbert zählte mittlerweile dreiundsechzig Jahre, und dann gab es da noch dieses Gerücht von einem Unfall mit einer Wagendeichsel in des Königs Jugend.

Ehrliche Begeisterung löste allerdings die Ankündigung Dullberts aus, dass am Hochzeits- und Zeugungstag in der ganzen Stadt ein gewaltiges Fest gefeiert werden würde und der Wein nur ein Zehntel seines sonstigen Preises kosten solle!

 

Am 'Dienstag' - oder auch 'Dienstag', nach dem alten Kalender - fiel allerdings manchem Müßiggänger auf, dass Knechte fässerweise Wasser vom Fluss in die Weinkeller der Wirte und Händler karrten, was verwunderlich war, denn wer würde Wasser an einem Festtag trinken wollen, wenn der Wein fast nichts kostete?

3.

Barn der Barbar schwankte missmutig durch die feiernden Massen auf der Straße der Tausend Freuden. Genau drei Becher Wein hatte er trinken können, dann war ihm die Börse gestohlen worden.

Der Dieb der Börse, ein fetter Mann mit Namen Flinkfinger Jussuf, stand, ebenfalls missmutig, in einer dunklen Seitengasse und starrte den speckigen Beutel des Barbaren voll Ekel an.

Zwei Kupfermünzen des Königreichs Thenil waren darin, im billigen Hammerprägeverfahren von der königlichen Münze mit einem Fleck und einem Wulst versehen, wobei der Fleck das Konterfei des legendären ersten Stadtgründers und Göttersohns Wiggesbert und der Wulst den Schriftzug 'Alles für Einen' darstellen sollte. Weiter fand sich in dem Beutel noch eine aus Holz geschnitzte Imitation dieser Münzen, eine Fälschung mit geringer Bleifüllung und dünnem Kupferüberzug, ein sogenannter 'Barbarenfänger', der seine Existenz hauptsächlich den wirren Gesetzen des Königs Dullbert von Thenil verdankte.

Brummend steckte Jussuf die drei Münzen ein. Sicher, diesen Barbaren zu bestehlen war ein geringeres Risiko gewesen, als einen zehnjährigen Burschen scharf anzusehen, aber es hatte sich auch nicht gelohnt. Er warf die Lederhülle in die Gosse - der Rest darin war nur Dreck.

 

Für ihn. Denn unser Barbar, dessen Wissen von Zahlen und Münzen nur bis zu einem hilflosen 'Bei Gruunz!' reichte, sah darin den wertvolleren Besitz: Er hatte etwas Schnee aus seiner eisigen Heimat, dem Hochnorland, darin aufbewahrt – auch wenn er ihn seit langem nicht mehr hatte finden können - und dann war da noch die blonde Locke der schönen Skjörga Rundschädel, die er, wenn er in sein Dorf Täppenwinkel zurückkehrte, zu seiner Frau machen wollte.

 

Ohne Beutel sah für Barn der Festtag trostlos aus. Ohne Geld machte ihn allein der Anblick des schier paradiesischen Angebots von Wein, Speisen und Spaß wütend.

Und dann die Mädels, die überall standen, Hüften und Brüste wippen ließen und nur darauf warteten, mit einem großen, kräftigen Burschen wie ihm ein Vergnügen zu haben, vorausgesetzt, er konnte dafür zahlen!

Barn knirschte mit den Zähnen. Nur der Umstand, dass er bei allem Überfluss nicht genau wusste, was er eigentlich zuerst wollte, hatte ihn bisher davon abgehalten, sich mit Gewalt zu nehmen, was ihm sicherlich zustand.

Aber es würde nicht mehr lange dauern, ho!

Jemand rempelte ihn an. Mit einem wütenden Grunzen legte er eine Pranke auf den Griff seines Langschwertes 'Windmacher'.

Ein kleiner, alter, rattengesichtiger Kerl mit seltsam spitzen Zähnen stand vor ihm und starrte ihn an. Barn machte "Hrrrm!" und ließ seine gewaltige Brust schwellen. Ha, dieser Bube sollte seinen Zorn fühlen!

Der kleine Bursche rührte sich nicht. Seine kalten grauen Augen wanderten über den Nordmann, als sei dieser eine feile Ware.

Barn grunzte unbehaglich. Sein Schwertarm erstarrte in Ratlosigkeit. dass der Kerl keine Angst vor ihm hatte, machte ihn unsicher und ließ seine Wut wie ein gescholtenes Kind zurück in den Bauch flüchten. Er war sogar erleichtert, als der graue Alte schließlich nickte, etwas murmelte und dann weiterging.

Als der Barbar sich endlich umzudrehen wagte, um dem kleinen Mann nachzusehen, war der längst wieder in der Menge verschwunden.

Da überkam den Nordmann neue Wut, und er brüllte einen kleinen, dicken und bärtigen Bratwurstverkäufer an, der zehn Schritt von ihm entfernt seiner Beschäftigung nachging und mit der ganzen Sache bestimmt nichts zu tun hatte. Der Dicke wurde bleich und entfernte sich eilig. Barn grinste. Ha, war er nicht immer noch ein Kerl, vor dem andere Angst hatten?

Seine Welt war wieder im Lot, und ein paar Herzschläge später hatte er den Vorfall mit dem Alten bereits vergessen.

 

*

 

Die Sonne war untergegangen, und die samtene Decke der Dunkelheit senkte sich sanft auf die Türme der Stadt. Der traurige Ruf der Gallenfrösche in den nahen Sümpfen wehte wie ein Gebet über die Mauern.

Viele der Feiernden hatte der Wein mit dem Lauf von Welt und Zeit versöhnt, er hatte den Kanten des Lebens die Schärfe genommen und Fremde zu Freunden gemacht. Frohes Grölen hallte von den Häusern links und rechts der Straße der Tausend Freuden wider, man umarmte und liebte einander, und das zum Teil so heftig, dass die Garde einschreiten musste.

Selbst Barn der Barbar war mittlerweile zu drei weiteren Bechern Weins und einer fettigen Hammelkeule gekommen, spendiert von einem gutgelaunten Zecher; zudem hatte er bei einem schlafenden Betrunkenen einen Beutel voll Münzen gefunden, und so war er wieder bester Laune.

Müßig und leicht angetrunken lehnte er an der bröckelnden Mauer um den 'Brunnen des Breiten Bruno', dessen zentrale Figur eines kräftigen, nur mit einem Helm bekleideten Kriegers in das Becken urinierte - eine Anspielung auf die bewegte Geschichte der Stadt - und beobachtete, wie ein eingeölter Kahlkopf auf einem quer über den Platz gespannten Seil wackelnd und weintrinkend tanzte. Da fiel ihm das schwarzhaarige Mädel auf.

Es stand keine fünf Schritt weit entfernt und trug nichts als einem knappen weißen Schurz auf der bronzebraunen Haut - und wenn er sich nicht völlig täuschte, hatte es ihm eben auch noch verheißungsvoll zugezwinkert.

Barn grinste breit. Das Mädel lächelte und winkte ihm zu. Lässig stieß sich der Krieger vom Brunnenrand ab.

 

 "Ho, Mädel, bist du auch hier?" sprach er es mit dem barbarischen Instinkt für die Erfordernis des Augenblicks an. Dabei ließ er seine Augen beifällig über die geschmeidige Figur gleiten. Glänzende, dunkle Brüste, groß und prall wie die Weinschläuche der Götter! Bei Gruunz! Er streckte versuchsweise einen Finger aus.

"Nana, großer Mann", drohte ihm das Mädel scherzhaft. "Doch nicht hier! Komm, lass uns zu mir gehen!"

Es fasste ihn bei der Hand und zog ihn leichtfüßig hinter sich her. Genüsslich schnalzend betrachtete der Nordmann das geschmeidige Auf und Ab der bronzebraunen Hügel der Gesäßbacken vor sich und war sehr zufrieden mit der Welt.

 

Das Mädel führte ihn weg von den Ständen und Menschenmassen. Die Straße der Tausend Freuden hinab ging es, in Richtung des Marktplatzes, dann links zwischen den moosüberzogenen Trümmern zweier Tempel vergessener Götter hinein in eine dunkle Seitengasse.

Es roch übel hier, aber das kümmerte den Barbaren nicht. Seine scharfen Sinne waren auf andere Dinge gerichtet.

Die Gasse wurde enger, und plötzlich löste sich die Hand des Mädels aus seiner. Er hörte das eilige Patschen nackter Füße auf dem schmutzigen Pflaster und eine lockende Stimme: "Komm, großer Mann, und fang mich, wenn Du kannst!"

Das brauchte man dem Nordmann nicht zweimal zu sagen. Er liebte solche Spiele! Mit dröhnendem Lachen und weiten Schritten folgte er dem in der Dunkelheit verschwindenden, schlanken Umriss.

 

Und dann stimmte auf einmal gar nichts mehr. Ein Hindernis geriet dem liebestollen Barbaren zwischen die großen Füße; er stolperte und schlug im stinkenden Dreck der Gasse der Länge nach hin. Ein Netz fiel über ihn. Er verstrickte sich darin, als er aufzustehen versuchte.

Er hörte noch eine heisere Stimme "Das isser!" sagen, dann stürzte mindestens die gesamte Welt auf seinen Kopf.

Alles wurde schwarz.

4.

Barn wollte nicht erwachen. Immer wieder schlug ihm etwas Kaltes und Nasses ins Gesicht, doch er hatte einen so angenehmen Traum, dass er ihn nicht aufgeben konnte.

Ein Traum von einem Fest, mit viel Wein, Gebratenem und einem willigen Mädel mit viel brauner Haut und schwarzen Haaren.

"Seht ihr nich', dass ich schlafe?" grunzte er unwirsch. Als Antwort überschwemmte ihn ein kalter Guss. Wütend prustend wollte er aufspringen und nach seinem Schwert greifen, doch es ging nicht. Seine in der lebensfeindlichen nördlichen Eisöde geschulten Sinne verrieten ihm schnell, dass er gefesselt war.

Er schlug die Augen auf. Was er sah, begeisterte ihn. Über ihm stand breitbeinig das schwarzhaarige Mädel mit einem tropfenden Holzeimer in der Hand. Und als Lappen hatte es den weißen Schurz in der Hand.

"Ist gut, Flix! Er ist wach. Verschwind' jetzt!" befahl eine heisere Stimme. Sehr zum Bedauern des Barbaren entfernte sich das Mädel.

"So, Nordmann, wenn Du jetzt uns etwas Aufmerksamkeit schenken würdest...", begann die Stimme von neuem. Barn hob den Kopf.

Über seinen Füßen, die mit dicken Stricken zusammengebunden waren, ragte - breit wie ein Bär - Kartong auf, der Hauptmann der königlichen Garde. Er trug einen ledernen Brustpanzer, der mit grellbunten Schlachtszenen bemalt war, dazu den traditionellen, knappen dunkelbraunen Lederrock der thenilen Soldaten. Wo der Hauptmann Haut zeigte, wucherten schwarze, borstige Haare, selbst unter den Kanten des Panzers krochen sie wie dürre Würmer hervor. Nur sein Kopf war auf wundersame Weise - bis auf Brauen und Wimpern - völlig haarlos und präsentierte mit vollen, roten Lippen, zarten, kleinen Ohren und schweren, violetten Lidern eine mädchenhafte Schönheit.

Kartong war in der ganzen Stadt bekannt und berüchtigt als die brutale rechte Hand des Pomander-Priesters Gastridis, und für hübsche Knaben war der Name des Hauptmanns mehr als nur ein Fluch.

Neben dem Hauptmann stand Gastridis selbst, ein kleiner Mann in einer einfachen grauen Kutte mit Kapuze, dessen ebenfalls grauer Schädel mit der hochgewölbten, kahlen Stirn von zwei großen, haifischgrauen Augen dominiert wurde. Gemäß der Regeln seines Kultes trug Gastridis die Zähne spitz zugefeilt. Der Barbar erkannte ihn sofort: das war der kleine Kerl, der ihn angerempelt hatte.

"Barbar", sprach der Priester den Nordmann an, "Du wirst mir jetzt gut zuhören."

Der Nordmann blinzelte unwillig. Sein Kopf tat weh, und er hatte Durst. Er würde nicht zuhören, bei Gruunz!

Der Priester fuhr trotzdem fort, "Wenn Du tust, was ich sage - und das wird Dir sogar gefallen – wirst Du Thenil als freier Mann verlassen. Wenn nicht, dann... ffft" Er machte mit dürrer Klaue eine Bewegung des Kehle Durchschneidens über seinem eigenen, faltigen Hals. "Hast Du verstanden?"

"Ich hab' Durst", maulte der Barbar.

"Ich werd' dir was geben, Barbar!" polterte Kartong und hob eine Faust.

"Hauptmann!", mahnte Gastridis und schüttelte den Kopf. Der Hauptmann senkte die Faust wieder.

"Du sollst Wein haben, Barbar", sage der Priester. "Und dann wirst du selbst wissen, was zu tun ist. Es wird eine Frau da sein, und ich denke, der Rest erledigt sich von selbst. Danach wird jemand kommen, dich hinausführen, dir ein paar Goldstücke und ein Pferd geben und dafür sorgen, dass du so schnell wie möglich verschwinden kannst. Denn wenn du nicht verschwindest, könnte es dir übel gehen."

Ein Grinsen entblößte die scharfen Zähne unter den dunkelgrauen Lippen.

"Kartong, diesen Barbar hätte Pomander selbst nicht besser wählen können!", rief der Priester, als wäre der Mann aus dem Norden überhaupt nicht vorhanden. Tatsächlich begann Gastridis zu glauben, dass der Plan seines Gottes funktionieren könnte. Und dann wäre er mittendrin, der oberste Priesters des einzigen noch lebenden – wenn man bei Göttern von 'Leben' sprechen konnte - Gottes auf der ganzen Weltscheibe!

Von plötzlicher Vorfreude erfüllt, rieb er sich die Hände so fest, dass trockene Schuppen zu Boden rieselten. Dann besann er sich, und schlug die Handflächen zusammen: "Flix, bring' den Wein!"

Das schwarzhaarige Mädel erschien wieder und schleppte dabei einen großen Krug.

"Gib ihm zu trinken, aber vorsichtig. Dann kannst du ihn losbinden. Und dann verschwinde, die Wirkung des Mittels hält nicht lange an, und ich will nicht, dass er sich an dir verausgabt." Gastridis kicherte, als Flix das Gesicht verzog.

Er und Kartong entfernten sich.

Das Mädel kniete sich neben den Barbaren und zog den Wachsstopfen aus dem Weinkrug. Barn sah's mit Wohlgefallen.

"Na, Mädel, bist Du auch hier?" versuchte er es noch einmal.

"Trink das", erwiderte das Mädel und setzte ihm den Krug an die Lippen. Dunkle, aromatische Flüssigkeit rann aus dem Gefäß in die Kehle des Nordmanns. Nach kurzer Zeit lief es wie Feuer durch die Adern des Barbaren. Das Mädel setzte den Krug ab.

"Aah, Mädel, das ist Wein! Mehr, Mädel, mehr!" jubelte der Barbar.

Der Krug wurde wieder an die Lippen gehoben, und Barn trank ihn halb leer.

"So, Mädel, un' nu' mach mich los, dass wir Spaß haben können!"

"Trink lieber noch ein wenig."

Gehorsam leerte der Barbar den Krug. Das Mädel stand auf.

"Ah, Mädel!"

Der geschmeidige braune Körper begann vor ihm zu tanzen. Formen hoben, schwollen und verdoppelten sich. Bei Gruunz! In Barns Kopf drehten sich bunte Räder, und plötzlich waren da mindestens zwei schwarzhaarige Mädels.

Auch recht.

"Numachichlos", lallte der Nordmann fröhlich. Warum wurde denn das verfluchte Licht immer dunkler? Er konnte ja gar nichts mehr sehen...

Dann schlief er ein.

 

*

 

Der Barbar erwachte mit der Schnelligkeit eines Raubtiers und sprang auf. Das blöde Pflaster in dieser verdammten Gasse! Sicher war das Mädel inzwischen auf und davon und suchte sich einen anderen Kerl! Er blickte sich um. Und stutzte.

Ungläubig starrte er auf den großen, gewölbten Raum, dessen Wände ganz und gar mit Teppichen und alten Fahnen behängt waren. In einem gewaltigen Kamin vor ihm brannte ein Feuer. Leise knackende Holzscheite verbreiteten goldenes Licht und eine penetrante Atmosphäre der Gemütlichkeit.

"Bei Gruunz!" fluchte der Nordmann. Nun erinnerte er sich wieder an Kartong und den grauen Burschen. Verschleppt und betäubt hatte man ihn, und nur Gruunz wusste, was die Kerle noch mit ihm vorhatten! Seine Hand fuhr zum Schwertknauf.

Aber sie fand ihn nicht. Erstaunt blickte der Barbar an sich herunter. Sein Schwert war fort! Und nicht nur das, auch seine Hose, sein Wams, seine Stiefel, überhaupt alles war fort! Barn massierte sich die Nasenwurzel mit Zeigefinger und Daumen. Kurz überlegte er, ob er vielleicht alles nur geträumt hatte. Ratlos blickte er um sich. Nein, das hier war bestimmt nicht die verlauste Kammer, für die er in der Herberge von Bart dem Wirt einen Silberling bezahlt hatte!

Und jetzt bemerkte er, dass er nicht allein war.

Neben ihm stand ein blasses, blondes Mädel in einem langen, kostbar bestickten Kleid aus weißer Seide blickte ihn aus großen, leicht schrägen Augen an.

"Bist du der Mann?" fragte es leise.

"Welcher Mann?" fragte er.

Das Mädel blinzelte. "Der Priester sagte, er würde einen Mann schicken, der mir helfen könnte."

Barn brummte vor sich hin. Er hatte einen schrecklich bitteren Geschmack in seinem Mund entdeckt, und er hatte keine Ahnung, wie er dem Mädel helfen konnte.

"Hast Du was zu trinken für mich, Mädel?" wollte er wissen.

"Wein? Warte einen Augenblick." Das Mädel nahm zwei große, goldene Kelche von einem Tisch und reichte dem Barbaren einen. Der leerte ihn in einem Zug.

"Danke, Mädel!" Barn warf den Kelch über die Schulter und wischte sich mit dem Unterarm über den Mund. "Nun muss ich los, denn heute ist ein Fest, und der Wein ist billig!"

Er blickte sich nach seinen Sachen um. Sie waren nirgendwo zu sehen, und er runzelte die Stirn.

"Mädel, ich brauch meine Sachen!" knurrte er.

Das Mädel kümmerte sich nicht um ihn. Es trank. Dann ließ es den Kelch zu Boden fallen und begann am Halsteil seines Kleids zu fummeln.

Es löste eine Schnur, und die dünne Seide glitt leise raschelnd zu Boden. Das Mädel stieg aus dem Stoffhaufen heraus und stand nun nackt vor dem Barbaren.

"Aber nein, Mädel, ich meine nicht deine Sachen, ich will meine..."

Barn stockte. Seine barbarischen Sinne sagten ihm, dass ihm das Mädel außerordentlich gut gefiel. Er hob zögernd seine Hand, das Mädel griff danach. Er zog es an sich und spürte sein Zittern.

 

In einer Ecke des Raumes stand im Schatten eine flache Schale, von Gastridis selbst gefüllt mit giftigem Wasser aus dem Bodenlosen Pfuhl. Darin hockte fett und schwarz eine riesige heilige Buckelkröte. Und während der Barbar mit geübten Fingern glatte warme Haut erkundete, begann der Kehlsack der Kröte zu pulsieren. Von Wasser des Pfuhls stieg dunkler Dunst auf und formte sich zu einer schwankenden Säule, aus der zahlreiche dünne Arme wuchsen, die einander ergriffen, sich verflochten und zuckten wie ein ekstatisch selbstverliebter Polyp. Die Kröte öffnete ihre gelbschillernden Augen und spannte den buckligen Leib zu dem Sprung, der sie direkt in den breiten Nacken des Barbaren bringen würde. Aus ihrem halboffenen Maul schob sich eine Zunge, dunkel, hornig und spitz wie ein Insektenstachel.

 

Da ertönte ein lautes Klopfen, und eine dünne Stimme rief: "Ich weiß, dass du da drin bist, mein Häschen! Mach auf, ich bin's, Dein süßer Gemahl!"

Die Magie im Raum zerbrach. Die schwarze Kröte sank in sich zusammen wie ein Hefeteig. Das Mädel löste sich hastig aus der Umarmung des Barbaren. Der Barbar duckte sich und spreizte kampfbereit die Finger.

"Ihr Götter. Er ist wieder aufgewacht! Schnell, du musst dich verstecken!" rief das Mädel.

Es packte ihn am Arm, zog ihn zur Wand und hob dort einen Teppich an. Dahinter lag ein Alkoven. Ein Dutzend Duftkerzen beleuchteten eine lebensgroße silberne Statue der überwältigend gebauten Liebesgöttin Vaxina im Lotossitz. Zwischen den metallenen Schenkeln sprudelte eine Gebetsfontäne mit parfümiertem Wasser in ein Becken, das auf den silbernen Waden der Göttin ruhte. Hastig schob das Mädel den hünenhaften Mann aus dem Norden in den Alkoven hinein.

"Bleib hier drinnen, schweig, und rühr dich nicht, was auch passiert!" flüsterte es.

Barn stellte sich neben die Statue und betrachtete fasziniert die silbernen Brüste. Von den Priesterinnen der Vaxina und ihrer besonderen Art des Gottesdienstes wurden die interessantesten Geschichten erzählt, und der Barbar hatte schon lange vor, dem berühmten Hügeltempel in Ekstalia einen Besuch abzustatten.

Das Klopfen war unterdessen drängender geworden.

"Mein Haseputz! Mach doch auf! Du willst doch meine Leidenschaft nicht warten lassen! Hasi!" quengelte die Stimme von draußen.

Ein Riegel klickte, dann knarrte eine Tür.

"Mein Goldzähnchen! Da bist Du ja! Oooh, Du trägst ja kein Gewand! Ei, was haben wir denn da?" Ein klatschendes Geräusch folgte.

Die dünne Stimme greinte schrill. "Aber lass es mich doch anfassen, mein Zuckerstücklein! Ich bin doch Dein Mann!"

"Aber mein Gebieter, wolltet Ihr Euch nicht ausruhen? Der Tag war ja so lang, und es ist schon die neunte Wache. Wartet, ich bringe Euch Wein zur Erfrischung", hörte der Barbar die Stimme des Mädels antworten.

"Aber ich habe geruht, und ich fühle mich jetzt jung und kräftig wie ein Hengst! Komm, meine Sternschnuppe!" Wieder klatschte etwas.

"Ach, Täubchen, das tat weh! Mach mich nur nicht ärgerlich! Ich bin wild wie ein Stier! Sieh nur!"

Stoff raschelte.

Stöhnen wurde unterdrückt.

Geräusche eines Handgemenges.

Eine Weile war es dann still. Barn gähnte herzhaft. Der penetrante Duft der parfümierten Kerzen klebte ihm auf Gaumen und Zunge und machte ihn wieder durstig. Er bekam große Lust auf einen Schluck Wasser. Er griff nach dem Becken auf den Schenkeln der Statue, aber es ließ sich nicht anheben, sondern klappte nach hinten. Das Wasser verschwand gurgelnd im Schoß der Liebesgöttin, und unter dem Becken wurde eine breite ovale Öffnung sichtbar. Darunter schwappte übelriechende Dunkelheit.

Draußen begann die weinerliche Stimme von neuem:

"Es geht einfach nicht! Das ist nur Deine Schuld, Weib! Los, bring mir jetzt etwas Wein!"

"Sehr wohl, mein Gebieter. Und ich werde einen Schluck der Göttin Vaxina als Trankopfer darbieten, damit sie sich Eurem Vorhaben wohlgesonnen zeigt."

"Jaja, aber eile Dich."

Barn war neugierig über die Öffnung gebeugt, als das blonde Mädel in den Alkoven kam.

Es stieß gegen die Kehrseite des Nordmannes, ein mit Wein gefüllter Kelch fiel ihm aus der Hand und schlug klirrend auf dem Boden auf.

"Mein Weibchen, wo bleibst du denn?" nörgelte es da von draußen. "Mir wird kalt, und außerdem habe ich Durst."

Und plötzlich wurde der Teppich beiseitegeschoben, und der behaarte Kugelbauch eines kleinen, graubärtigen Männleins, das nur mit einer Krone bekleidet war, schob sich in den Raum.

"Oh, mein Wohlgerundetes! Lass es uns direkt vor der Göttin tun! Sie wird meine Manneskraft neu beleb... was ist denn das? Ein Barbar in der Gebetsnische! Wachen! Waaachen!!!"

 

Barn, der schon durch das Mädel das Gleichgewicht verloren hatte, kippte kopfüber in die übelriechende Öffnung. Seine Hände fanden keinen Halt. Das Mädel kreischte, und die schrille Stimme des Männleins fand zu neuen, hysterischen Höhen. Jemand packte die Beine des Barbaren. Barn fluchte und trat um sich, geriet damit aber in eine nur noch üblere Lage. Er bemerkte, wie seine breiten Schultern langsam durch die glatten Schenkel der Göttin zu rutschen begannen. Hände drückten gegen seinen Rücken. Er wand sich, versuchte, sich zu drehen. Über sich hörte er noch die Stimme des Mädels, hell vor Aufregung: "Schnell, schnell, sonst töten sie uns!"

Dann erhielt er einen letzten Stoß. Und fiel.

Ungefähr eine Barbarenlänge tiefer durchschlug er mit saftigem Platschen eine Wasseroberfläche und landete schmerzhaft auf dem schleimigen Steinboden darunter. Trotz der Schmerzen sprang er sofort wieder auf die Beine und stieß sich den Kopf an einer niedrigen Decke. Blitze der Pein sprühten vor seinen Augen, und er ging in die Knie.

"Ich komme!" rief eine Stimme von oben, und dann fiel jemand dem Barbaren auf den ohnehin angeschlagenen Schädel.

Das war zu viel, selbst für die leidensfähige Natur eines Barbaren aus dem eisigen Norland. Sein Bewusstsein versank in einem schmerzhaften Meer tanzender Funken.

 

Im schwarzen Wasser der Schale erhob sich die Kröte von neuem aus dem giftigen Schaum. Ihr Leib wiegte sich sacht. Plötzlich sprang sie heraus und humpelte im Schatten der schweren Wandteppiche hin zur Gebetsnische.

Unbeachtet vom König und den vier Gardisten, die auf Dullberts Geschrei hin ins Schlafzimmer der Königin gestürmt waren, ließ sich die dicke schwarze Kröte in durch die Öffnung hinab in die Tiefe der königlichen Kloake fallen.

 

*

 

Die Bewusstlosigkeit des Barbaren dauerte nur wenige Atemzüge, dann trieb ihn seine eiserne, im ewigen Überlebenskampf auf den schneesturmumwehten Hochebenen des Norlandes geformte Natur wieder auf die Beine. Er stand bis zu den Knien im Wasser, und der Boden unter seinen nackten Füßen war von einem Belag überzogen, der ihn rutschig machte. Und der Gestank, der von dem Wasser ausging, nahm ihm beinahe den Atem.

Er sah sich blinzelnd um. Durch die ovale Öffnung über ihm fiel ein wenig Licht, aber nicht genug, um Einzelheiten erkennen zu können. Gerade als er den Arm heben wollte, um zu erkunden, ob er sich wieder hochziehen könnte, erschien das hochrote, gekrönte und bärtige Gesicht des dicken Männleins über dem Oval.

"Du räudiger Barbar, wag' es nicht, meinem Täubchen auch nur das geringste zuleide zu tun!" wütete es schrill. "Ich bin Dullbert, und ich bin der König, und sie ist die Königin, und daher gehört sie nur mir ganz allein! Nur mir allein, hörst du?"

Etwas bewegte sich neben dem Barbaren. Barn sah die schulterlangen, blonden Haare und erkannte verwundert das Mädel von oben.

Doch bevor er noch "Ho, Mädel, bist du auch hier?" sagen konnte, hatte auch der König seine Königin entdeckt.

"Oh Clandine, meine mandeläugige Taube, da bist du ja!" rief er. "Halt aus, gleich kommen meine Soldaten, die dich aus den Klauen dieses Scheusals befreien werden! Halt aus, dann werde ich dich bald wieder in meinen Armen halten!"

"Oh Dullbert, liebster König!" flötete Clandine. "Behalt deine dürren, runzligen Arme bloß an deinem aufgeblähten Wanst! Lieber gebe ich mich hundertmal diesem Barbaren hier hin als mich noch einmal von dir berühren zu lassen!"

"Was?" Die Augen Dullberts wurden weit. Sein Kopf neigte sich noch weiter in die Öffnung, als wolle auch er hindurchkommen. "Clandine, mein Zuckerstücklein, wie sprichst du denn? Hat er dich mit einem Schamanenzauber verhext?"

"Man braucht keinen Zauber, um zu sehen, dass du ein alter Bock bist!" rief die Königin. "Ich habe genug. Ich gehe zurück zu meinem Volk, und dann wirst du deine Stadt brennen sehen!"

 

"Wir müssen raus hier, Mädel!" sagte er mit rauer Stimme. "Sonst verpassen wir noch das Fest!"

 

Oben im Schlafzimmer der Königin betrachtete der eilig herbeigerufene Priester Gastridis mit gerunzelter Stirn die Schale, die er unauffällig in die Ecke des Raums gestellt hatte, bevor er die Königin zu dem Barbaren gebracht hatte. Das schwarze Wasser war verspritzt, die Kröte war verschwunden. Er klopfte mit dem Knöchel des Zeigefingers seiner Rechten fest gegen die zugefeilten Zähne, eine schmerzhafte Aktion, die ihn manchmal seinem Gott näherbrachte. Aber diesmal fühlte er nichts. Die Kröte war weg, der Barbar war weg, die Königin war weg, und des Königs zusammenhangloses Gejammer gab keinen Aufschluss darüber, was eigentlich passiert war.

Gastridis hob ein Lammfell vom Fußboden und legte es dem zeternden Dullbert um die nackten Schultern. Dann wandte er sich an den Hauptmann Kartong, der inzwischen eingetroffen war und ratlos seine Glatze rieb.

"Hauptmann!" zischte der Priester und deutete auf die Öffnung in der Nische. "Offensichtlich hat der Barbar die Königin in die königliche Kloake verschleppt. Nehmt eure Männer und findet die beiden!"

Dann nahm er Kartong beiseite und flüsterte: "Bringt sie mir unbedingt lebend! Viel steht auf dem Spiel!"

Der riesige Offizier nickte mit dem kahlen Kopf.

"Männer!" brüllte er den Gardisten militärisch knapp seinen ausgefeilten Aktionsplan zu. "Fackeln her, und dann ins Loch!"

 

Und während die Soldaten fluchend zwischen den Schenkeln der selbstvergessen grinsenden Fruchtbarkeitsgöttin verschwanden, nahm der Priester den greinenden König Dullbert bei der Hand und führte ihn aus dem Raum. Der kleine dicke König wirkte wie ein trauriger alter Affe an der Hand seines Dompteurs. Gastridis tätschelte dem Monarchen den Rücken.

"Majestät!" raunte er. "Majestät! Ihr müsst euch unbedingt beruhigen! Lasst mich euch zu Bett bringen! Sprecht ein kleines Gebet zu Pomander, und morgen früh, wenn Ihr aufwacht, werdet Ihr sehen, dass der Himmel blau und alles in bester Ordnung ist!"

Der König schluckte und schluchzte und blickte den Priester aus verheulten Augen an.

"Himmelblau? Aber meine Krone ist doch fort! Die Barbaren haben sie mitgenommen. Vielleicht bin ich jetzt schon kein König mehr!"

Gastridis lächelte.

"Oh, Majestät, Kronen!" rief er. "Kronen sind alberne Äußerlichkeiten und bedeuten einen feuchten Wind! König ist in Wahrheit der, der der Herr ist!"

 

*

 

Tief unten in den Eingeweiden des Schlossberges bahnte sich der Barbar mühsam einen Weg durch einen niedrigen, schmalen Gang, dessen leicht abschüssiger Boden von einem zähen, stinkenden Brei bedeckt war, in dem er an manchen Stellen bis zu den Knien versank. Das Mädel zog er hinter sich her.

Plötzlich stießen seine Zehen ins Leere. Instinktiv blieb er stehen. Vorsichtig tastete er mit seinem linken Fuß vor sich, aber dort war nichts.

Er fluchte.

"Gruunzverdammt, Mädel, da vor uns is' nur noch'n Loch!"

 

Die schwarze Kröte stierte mit lidlosen Augen auf das Paar, das vor ihr plötzlich stehen geblieben war. Die Ausdünstungen der königlichen Kloake waren der Verkörperung Pomanders wie ein süßer Balsam. Während der Barbar herumtastete, nahm der finstere Gott seine schwindende Kraft zusammen und formte sich zu seiner eigentlichen Gestalt, einer Form, deren bloßer Anblick jedem höheren Lebewesen in kreischender Agonie das Hirn zerfraß.

Hätte der Gott Humor besessen, hätte er leise gekichert, während er seine Zunge auf den wulstigen Nacken des Barbaren zuschob, um die hornige Spitze von unten her in das weiche Hirn des Mannes zu bohren und ihm das Wesen auszuschlürfen, wie Feinschmecker es mit dem bleichen Fleisch der Austern tun.

 

Barn spürte er ein sachtes Stechen hinten am Hals. Er knurrte leise und schlug dann blitzartig mit der flachen Hand zu.

Nicht genug, dass er hier in der Finsternis durch den Dreck stapfen musste, nun gab es hier nach allem auch noch Stechmücken!

Das Mädel hinter ihm schrie auf.

"Da ist etwas!" kreischte es. "Etwas großes, schrecklich Kaltes! Es hat mich gestreift!"

Der Barbar fuhr herum, gleichzeitig versuchte das Mädel, sich an ihn zu drücken. Dadurch verloren beide das Gleichgewicht und kippten nach vorne. Aneinandergeklammert fielen sie durch die Dunkelheit.

 

Der Gott Pomander fühlte zum ersten Mal in seiner äonenlangen Existenz die Bedeutung des Wortes Schmerz. Träge und langsam wie zäher Schlamm flossen ihm die Gedanken durch sein kaltes Hirn, während er zum Bodenlosen Pfuhl floh. Dieser widerwärtig trockene Warmblüter hatte ihn geschlagen! Er, ein unsterblicher Gott, der bereits in das grüngraue Gesicht der Welt gelacht hatte, als selbst die Vorfahren der Menschen noch nicht erdacht worden waren, war von einem Sterblichen verletzt worden! Die bloße Berührung einer Hand hatte seine mächtigste Verkörperung zur Auflösung gebracht!

Schwach und hilflos kroch der Gott durch das enge Tor des Bodenlosen Pfuhls zwischen zahllosen Dimensionen zurück in sein sumpfiges Bett im brodelnden Dickicht der westlichen Sterne.

Zuckend trieb er über dem kochenden Schlamm, der ihn vor Äonen geboren hatte, und nur noch ein Gedanke war in seinem Geist und hielt ihn aufrecht: Wenn er erst gesiegt hatte, würde seine Herrschaft furchtbar werden, die Wasser der Welt dick und nahrhaft vom warmen Blut der Opfer!

Pomander kroch in den heißen, blasenschlagenden Schoß des Sternensumpfes und schlief ein. Es gab nur noch wenige Sterbliche in der Welt, die an ihn glaubten und deren Glaube ihn existieren ließ. Er würde lange schlafen müssen, um genug Kraft für seine Rückkehr nach Thenil zu haben.

 

*

 

Der Sturz des Barbaren und der Königin war nur kurz. Dunkelheit machte bleichem Mondlicht Platz, dann schlugen Barn und Clandine auf.

Ein widerwärtiges, schlürfendes Geräusch. Und dann gar nichts mehr, nur Schwärze. Und Gestank.

5.

Eine schwere Last lag auf dem Barbaren. Sie war weich und warm und vermittelte den bedrohlichen Eindruck, ein lebendiges Wesen zu sein. Der Nordmann überlegte, ob es nicht besser wäre, den Toten zu spielen, bis die Lage klarer wurde, aber nach einiger Zeit wurde ihm klar, dass er Atem holen musste, wenn aus dem Spiel nicht Ernst werden sollte. Er wühlte, drückte, zerrte und trat, bis er in der stinkenden Masse aufrecht stand und kühle Nachtluft in seine Lungen saugen konnte.

Dann blickte er sich um. Und fluchte.

Er steckte in einem gewaltigen Misthaufen. Vor ihm streckte sich eine schmale, dunkle Gasse. Von Ferne kamen Fackelschein und der Lärm ausgelassen feiernder Menschen. Er grunzte und kratzte sich die kotverklebte Mähne. Das war doch die Gasse, in die das schwarzhaarige Mädel ihn geführt hatte! Gruunzverdammt! musste er denn dauernd an verpasste Gelegenheiten erinnert werden?

Da spuckte und prustete jemand neben ihm. Der Barbar fuhr herum. Da stand ein nacktes Mädel bis zur Taille im Mist und rieb sich den Dreck aus dem Gesicht. Barn runzelte die Stirn. Dann grinste er. Die Schwarzhaarige mochte ihm weggelaufen sein, aber dafür hatte er hier jetzt das blonde Mädel aus der Kammer oben! Hoho, Gruunz meinte es gut mit ihm. Er streckte seine muskelschweren Arme aus und zog das Mädel zu sich.

"Hab' ich dich, Mädel! Gehen wir jetzt zu dir?"

Die Augen des Mädels wurden so weit, dass sie im Dunkel der Gasse zu leuchten schienen.

"Bist du völlig bescheuert, Barbar?" rief es. "Wenn die Wache uns kriegt, lässt uns der König sofort im Sumpf ersäufen!"

Barn nickte heftig. Da erfüllte jähes Geschrei die Lüfte, und aus einem großen Loch oben in einer Hauswand rutschten fünf Männer mit Fackeln, Waffen und verzerrten Gesichtern. Mit saftigen Lauten schlugen sie nacheinander in den riesigen Misthaufen und versanken darin.

Barn stutzte eine Weile. Dann schlug er sich grölend auf die muskelschweren Oberschenkel. Das war so recht nach seinem Geiste! Die ganze Bande, bis zum Hals im Dreck! Der Wirt oben fackelte wahrlich nicht lange mit Zechprellern! Die Tränen flossen ihm aus den Augen, so sehr war seinem Sinn für Humor entsprochen.

Er wollte das Mädel mit einem herzhaften Klaps an seinem Frohsinn beteiligen, da sah er, dass es sich aus dem Dreck befreit hatte und dem Licht am Ende der Gasse entgegenlief. Er fluchte. musste er sich den heute jedes Mädel einfangen?

Brummend folgte er dem schmalen Umriss der Flüchtenden zum Licht.

Er bemerkte nicht, dass sich fünf Krieger der Stadtwache hinter ihm fluchend und schwertschwingend aus dem Kot befreiten. Einer der fünf war der Hauptmann Kartong, und tief unten in dessen Kehle saß ein Grollen wie bei einem bösen Wolf.

"Ihnen nach!" knurrte er seinen Männern zu. "Aber denkt dran - wir brauchen beide lebend!"

 

*

 

Gastridis hatte dem König einen großen Becher seines speziellen Rotweins zu trinken gegeben und ihn dann in eine kleine Schlafkammer gebracht. Die Kammer verschloss er sorgfältig von außen, und den Schlüssel versteckte er unter der Fußmatte.

Dann eilte er in seine Gemächer, um von dort hinab zum Heiligtum des feuchten Gottes zu steigen.

Das erregte Quaken von achtzehn heiligen Kröten empfing ihn unten. Er beugte sich nieder, strich der dicksten Kröte über den Kopf und säuselte leise: "Du Süße!"

Dabei zuckten seine Mundwinkel ganz sachte. Eigentlich hasste er Amphibien.

Aber als er damals als junger und nur mäßig begabter Zauberlehrling beim alten Pomander-Priester Lumbago untergekommen war, hatte er nicht gefragt, wem er Brot und Kleidung verdankte. Und wenn es dem finsteren Erzlurch jetzt tatsächlich gelingen sollte, alle anderen Götter zu verdrängen, dann gab es nichts Besseres, als Pomander-Priester zu sein, ganz gleich, ob man Kröten mochte oder nicht.

Er trat hinter den Altar und hob die Arme.

 

Die Litanei zur Beschwörung Pomanders war ein schier endloser blubbernder Singsang, der von menschlichen Stimmbändern das Äußerste verlangte. Gastridis intonierte den Ruf dreimal hintereinander, bis er husten musste. Das schwarze Wasser des Bodenlosen Pfuhls blieb unbewegt.

Mit kaltem Schweiß auf der Stirn stieg der graue Priester vom Altarplatz herunter und trat direkt an das schorfige Ufer des Pfuhls. Wie verwirrte Kaninchen umhoppelten die heiligen Kröten seine Beine. Ganz vorsichtig beugte sich Gastridis über die stille Scheibe des schwarzen Wassers.

Der alte Lumbago hatte einmal gesagt, dass man durch den Pfuhl bis zu Pomander sehen konnte, wo immer der alte Erzlurch sich auch aufhielte. Gastridis hatte das noch nie versucht - er hatte nie so genau wissen wollen, wo sich eine göttliche Amphibie herumdrückte, wenn sie allein war.

Und jetzt sah er im Spiegel des Pfuhls nur Schwärze. Vielleicht ein paar glitzernde Punkte darin - wie ferne Sterne - aber das konnte auch eine Täuschung sein.

Ein Gedanke, erschreckend und erregend zugleich, durchfuhr den Priester: War das vielleicht das Ende, war sein Gott dahingegangen, hatte er sich einfach entkräftet aufgelöst bei dem Versuch, seine wirre Idee  in die Tat umzusetzen?

Mit zitternden Händen ging er wieder hinter den Altar und quälte seine Kehle ein weiteres Mal mit der Litanei. Und es passierte immer noch nichts. Der Gott hatte viermal das Ritual überhört. Das konnte nur eines bedeuten: Es gab ihn nicht mehr.

Gastridis stand eine lange Zeit reglos. Dann kroch ein feines, böses Lächeln in sein graues Gesicht.

Er hatte angesichts der auffälligen Schwächung Pomanders seit längerer Zeit einen Plan entwickelt, wie er nach dem Ableben des Erzlurchs noch einmal in einem spektakulären Festakt auf dem Marktplatz Opfergaben genug sammeln konnte, um sich irgendwo tiefer im Süden zur Ruhe setzen zu können.

Nun schien es Zeit zu sein, diesen Plan umzusetzen. Aber der Gedanke, dem alten Dullbert einen Erben unterzuschieben, gefiel dem grauen Mann auch sehr gut. Die Königin war jung und beeinflussbar, und der blonde Barbar war dumm wie ein Ochse. Ein Kind, von beiden gezeugt, würde sich wie eine Marionette führen lassen. Er brauchte nur das Weib und den Barbaren noch einmal zusammenzubringen und später dann den König von seiner Vaterschaft zu überzeugen! Der alte Narr würde ihm nur zu gerne glauben, da war Gastridis sicher.

Er rieb sich die Hände. Wenn er es geschickt anstellte, brauchte er die Königsburg von Thenil nicht aufzugeben, um einen angenehmen Lebensabend zu verbringen! Im Gegenteil, er konnte mehr Macht und Gold erringen, als er je geträumt hatte!

Er musste nur die Königin und den Barbaren wieder einfangen.

Der graue Priester hob wieder die Arme. Als Verkünder Pomanders hatte er die Macht, den Kreaturen der Sümpfe, den Fröschen, Kröten und Lurchen zu befehlen. Aus ihren Lachen, Pfuhlen und Tümpeln sollten sie kriechen, hinein in die Stadt, um die kleine Garstek und den Barbaren zu finden und zu ihm zu bringen, zu Gastridis, dem Herren von Thenil!

 

Als der Ruf des Priesters verklang, schlug draußen in den grauen Wässern der Sümpfe nordöstlich der Stadt der Schlamm dicke Blasen. Hunderttausende von warzigen Köpfen hoben sich über den schillernden Schlick. Flinke Frösche hüpften wie fallende Sterne durch das harte Gras hin zu den Stadtmauern, gefolgt von den schlanken Lurchen und den plumpen, riesigen Warzenkröten, deren geschlitzte Bernsteinaugen schwermütig auf die Türme der Menschen starrten.

 

Und während Gastridis gottlos lächelnd die sechsundsechzig Stufen hinauf zu seinen Räumen stieg, versickerte die Kraft seines Gottes im Sumpf der südlichen Sterne. Nur ein einziger, winziger Funke von Glauben ließ jetzt sein kaltes Blut weiter kreisen: König Dullbert träumte, und in seinem Traum betete er zu Pomander um die Rückgabe seiner geliebten Krone, wie Gastridis es ihm geraten hatte.

 

*

 

Die gute Laune der Feiernden auf der Straße der Tausend Freuden hatte ein Ausmaß erreicht, das selbst den Professionellen des Viertels ein fassungsloses Kopfschütteln abnötigte.

Nackte, schweißglänzende Leiber drehten sich trunken zur Musik der Straßenmusikanten. Bäuche, Brüste und andere Bestandteile der menschlichen Anatomie wackelten im Licht der Fackeln. Vor Schankzelten rauften Männer um einen Schluck Wein oder ein Stück Gebratenes. Wildfremde Menschen lagen einander in den Armen. Schlurr der Schlitzer, ein berüchtigter Meuchler und stellvertretender Vorschlitzender der Gilde der Mörder von Thenil, hockte tränenüberströmt auf dem Platz des Besonders Kleinen Mannes und hielt eine sentimentale Ansprache an ein Gänseblümchen, das einsam zwischen den Pflastersteinen wuchs.

Niemand bemerkte die schillernden, kalten Augen der großen, blassen Kröten und Lurche, die überall aus den Abwasserkanälen krochen und sich schweigend in den Schatten der Gassen und Plätze sammelten.

 

Barn war von der Stimmung in der Straße begeistert, aber das blonde Mädel vor ihm lief einfach weiter. Immerhin gelang es dem Barbaren, jemandem im Vorübereilen einen vollen Krug zu entreißen.

In einer dunklen Ecke neben dem bunten Zunfthaus der Narrengilde Thenils blieb das Mädel stehen. Es atmete schwer.

"Diese Schweine!" stieß es zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. "Alle haben sie mich verraten! Mein Vater, der König, dieser verfluchte Priester! Alle versprachen mir ein großartiges Leben, wenn ich nur täte, was sie sagten! Ich habe es immer getan, und nun? Nun ist es kein weiter Schritt mehr, wenn ich mich an einen Kerl wie dich wegwerfe, Barbar."

"Hoho, Mädel!" machte Barn der Barbar stolz, zwinkerte und ließ die Brustmuskeln ein wenig spielen. Im Hochnorland, seiner Heimat, mochten die Mädels das. Glaubte er jedenfalls.

Das Mädel hier war allerdings nicht beeindruckt.

"Wir beide müssen ganz schnell 'raus aus dieser Stadt, Barbar, aber dazu brauchen wir Kleidung. Hier fallen wir nicht auf, aber durch die Tore lassen sie uns so nicht", zischte es dem Nordmann zu. "Siehst Du das Pärchen dort bei der Latrine, Barbar?"

Barn blickte in die Richtung, in die das Mädel zeigte. Dort lagen ein Mann und ein Mädel beisammen und bereiteten sich ein Vergnügen. Das brachte den großen Krieger aus dem wilden Norden auf eine Idee. Er trank den Krug mit einem entschlossenen Zug leer und zog das Mädel an sich.

Das Mädel versetzte ihm einen Stoß dorthin, wo es nicht nur bei Barbaren besonders schmerzte.

"Hol' die Kleider der beiden. Sie liegen neben ihnen, siehst Du?"

Der Barbar sammelte sich, grunzte missmutig und wünschte, er hätte seinen Wein nicht so schnell getrunken. Wenn er gewusst hätte, dass der Abend so anstrengend werden würde, wäre er sowieso im Wirtshaus geblieben!

"Also, Barbar, " meinte das Mädel ungeduldig, "holst du nun die Kleider, oder soll ich das machen?"

Der Barbar betrachtete voller Interesse seine Fingernägel und fragte sich, wieviel Wein er wohl noch für den Inhalt seines Beutels bekommen würde. Im Zählen tat er sich etwas schwer, aber er konnte ja das Mädel fragen. Barn griff nach seinem Gürtel, um den Beutel hervorzuziehen. Er griff ins Leere.

"Mädel", sagte er mit Grabesstimme. "Mein Gürtel is' fort!"

"Alle Götter!" seufzte das Mädel. "Dann geh' ich eben selbst."

Geschmeidig schlich es davon. Barn war viel zu beschäftigt mit seiner Entdeckung, um davon Notiz zu nehmen. Gewiss, es war kein besonderer Gürtel gewesen. Aber der Geldbeutel, sein Schwert 'Windmacher' und eine Locke von Skjörga, der treuen Verlobten, die in Täppenwinkel hoch oben im Norden auf seine Rückkehr als reicher Mann wartete, waren daran befestigt gewesen. Und natürlich hatte der Gürtel seine robuste Schweinslederhose gehalten.

Und nun war alles fort. Die Hose, sein Wams, sein Hemd, sein Schurz und seine Stiefel, alle mussten irgendwie mit dem Gürtel verbunden gewesen sein, denn auch sie waren verschwunden. Er war völlig nackt. Im Schatten des Zunfthauses der Narren staunte und fluchte der Barbar ausgiebig.

Das blonde Mädel erschien mit einem Berg Kleidung in den Armen. Der Barbar murmelte einen weiteren Fluch des Unwillens. Diese Mädels waren alle so dumm! Das waren nicht seine Sachen!

Aber dann entdeckte er bei der fremden Kleidung einen silberblitzenden Gürtel, an dem ein voller Weinschlauch befestigt war. Der machte den Verlust von Skjörgas Locke sicher mehr als wett. Und dann gab es da noch einen prächtig bunten Brustpanzer und ein gar nicht kleines Schwert. Das alles stimmte den Barbaren wieder versöhnlich. Umständlich und nicht ohne Hilfe des Mädels zog er sich an.

 

Doch, das waren gute Sachen! Der neue Gürtel funkelte lustig im Fackelschein, und wenn er sich nicht täuschte, war das Schwert auch länger als sein altes. Er beschloss, dieses neue Schwert 'Windmacher' zu nennen, wie alle Schwerter, die er im Lauf der vierundzwanzig Jahre seines bewegten Lebens schon zerbrochen oder verloren hatte. Er hob die neue Waffe hoch über den Kopf und stieß ein heiseres Gebrüll aus. Ja, hoho, so schmeckte das Leben!

Bedauerlich war nur, dass nun auch das blonde Mädel Kleidung trug.

Das Mädel begann zu laufen, und Barn folgte ihm bis zum Ende der mit zuckenden Leibern, Resten von Verkaufsbuden und den Scherben Hunderter von Tonkrügen bedeckten Straße. Schließlich erreichten sie den Marktplatz. Hier gab es kaum mehr Feiernde, wenn man auch so manches Pärchen auf den alten Pflastersteinen beieinander sah.

Und zwischen den Menschen glitten lautlos einige schwere Lurche und genossen die Wärme der erregten Körper.

6.

In den Marktplatz, einer fünfeckigen, gepflasterten Fläche von etwa zweihundert Schritten Durchmesser, mündeten die fünf größten Straßen Thenils: die Straße des Königs, die Straße der Tempel, die Straße der Kaufleute, die Torstraße und die Straße der Tausend Freuden. Vor der Herrschaft Dullberts hatte jede Straße ihr anderes Ende in einem prunkvollen Tor gefunden, und diese Zugänglichkeit von allen Seiten und die lässigen Kontrollen an den Toren hatte Thenil über die Jahrhunderte hinweg zu einer der reichsten Handelsstädte der westlichen Reiche gemacht.

Doch der dicke und ängstliche König Dullbert hatte schon bald nach Beginn seiner Herrschaft verfügt, dass hinsichtlich der 'stetig steigenden Fremdengefahr' sämtliche Tore und Nebeneingänge in der Stadtmauer zuzumauern seien, bis auf das Westtor.

Dieses, das älteste und engste, lag am Ende des vom Volke 'Straße der Bettler' genannten Weges, der durch die Elendsviertel der Stadt führte. Kraft königlichen Edikts und hundert Zwangsarbeitern war der Weg zwar neu gepflastert und in 'Torstraße' umbenannt worden, aber seine Anwohner blieben ein recht unangenehmer Haufen von Schnorrern und Beutelschneidern. So kam es, dass immer weniger Karawanen Thenil ansteuerten und der Reichtum der Stadt langsam schwand.

Die Mitte des Marktplatzes schmückte der gewaltige fünfseitige Obelisk des Viril als Erinnerung an den erstaunlichen Sieg des Urgroßvaters des heutigen Königs über die Horden von Brack. Die gemeißelten Hieroglyphen einer jeden Seite waren einst von den Bewohnern des ihr gegenübergelegenen Stadtteils gestiftet worden. Vor dem Obelisken brannte in einer ehernen Schüssel die ewige Flamme der Stadt, stets beschützt von fünf ausgezeichneten Kriegern aus des Königs Wache.

Früher war hier ein Umschlagplatz für Waren aus aller Welt gewesen, bis spät in die Nacht hatte man unter dem Licht der ewigen Flamme und tausender Fackeln Güter verkauft und getauscht, hatten Menschen in hundert Sprachen geredet, gefeilscht und gelacht, gebrüllt, geflucht und gejammert.

Jetzt war es ruhig. Markt war nur noch einmal in sieben Tagen, und die eingeteilten fünf Wächter tranken oder würfelten, wenn sie nicht schliefen.

Heute waren sie nicht einmal da.

 

*

 

Das Mädel blieb stehen. Barn dachte nach. Er hatte große Lust, dem Beispiel der vielen Paare am Boden zu folgen und dann auf ein paar Schlucke in die 'Turmschenke' von Vollbert dem Höker zu gehen, die keine zweihundert Schritt von hier am Anfang der Straße der Kaufleute lag und deren bunte Lichter dem Barbaren von ferne zuzwinkerten.

Er wollte gerade eine entsprechende Bemerkung machen, da hallte der Platz von Geschrei und Schritten wider. Fünf Männer in den Rüstungen der königlichen Garde kamen aus der Straße der Tausend Freuden gelaufen, voran der gigantische Kartong.

"Verteilt euch, Männer!" brüllte er im Laufen. "Seht euch jedes verdammte Gesicht genau an, und wenn sich einer wehrt - schlitzt ihn auf."

Das Mädel sagte "Ihr Götter!" und duckte sich tief in den Schatten des Obelisken. Erfreut folgte der Barbar dem Beispiel, denn Verstecken war ein Spiel, das er in seiner Jugend in den wilden Berglandschaften seiner Heimat besonders geliebt hatte. Er erinnerte sich an das eine Mal, als ihn vier Tage lang niemand gefunden hatte und er fast verhungert wäre. Tränen der Rührung traten in seine Augen.

Die Gardisten rannten aufgeregt auf dem Platz hin und her. Sie beleuchteten auf dem Pflaster liegende Paare mit ihren Fackeln und traten und schlugen die Irritierten.

Kartong stand breitbeinig vor der erleuchteten Straße der Tausend Freuden und brüllte: "Halt, im Namen des Königs! Volk von Thenil, Barbarenhorden haben den königlichen Palast überfallen und die Krone geraubt! Keiner rührt sich, alle werden durchsucht!"

Am finstersten Ende des Platzes, dort, wo die Torstraße einmündete, begannen Kröten leise zu quaken.

 

Plötzlich stand ein mächtiger, bärtiger und fassbäuchiger Kerl neben dem im Schatten hingekauerten Barbaren, von irgendeiner unermesslichen Naturgewalt in einen Brustpanzer der Garde gezwängt. Der Mann trug eine kaum mehr glimmende Fackel gesenkt in der Rechten und zeigte kein Interesse an irgendetwas außer dem Schweiß, der in Bächen unter seinem Helm hervorlief und den er mit knubbeligen Fingern aus den Augen zu wischen suchte.

Barn blickte hin, blickte genauer, grunzte, blickte noch mal, blinzelte und brummte, blickte wieder - dann sprang er auf, grölte: "He, ich werd verrückt, wenn das nich Wulf is, mein alter Kumpel Wulf!" und versetzte dem Wachmann einen Schlag auf die Schulter, der eine Stadtmauer hätte einstürzen lassen.

Wulf, genannt 'Der Würfler', war ein Halbbarbar aus der Grenzstadt Brucken hoch oben in den Weichlanden. Er und Barn hatten vor einem halben Jahr als Wächter eine kleine Karawane begleitet, die in Salzlake eingemachte Gurken durch die südlichen Wüsten brachte. In der Hafenstadt Brack war der Führer der Karawane, der Kaufmann Krassos von Kurrentlos, bei einem Streit mit Geschäftsfreunden plötzlich verstorben, und die Gurkenkarawane war aufgelöst worden. Die Notwendigkeit, weiterhin Münzen für den Lebensunterhalt zu verdienen, hatte die beiden Krieger dann auf getrennte Wege geführt.

Der Bärtige wandte sich unbeholfen um, kratzte ein Ohr und starrte verständnislos auf den blonden Mann, der da so plötzlich neben ihm aufgetaucht war. Doch dann brach sein Bart von der Mitte her weit nach oben hin auf, enthüllte zwei breite Reihen strahlender Zähne und entließ dröhnendes Gelächter.

"He, ich werd' verrückt, wenn das nicht Barn ist, mein alter Kumpel Barn!" brüllte er und versetzte dem Nordmann einen Schlag auf die Schulter, der einen Wald gefällt hätte.

Die beiden Männer standen sich eine Weile stumm gegenüber und grinsten. Schließlich hielten sie es nicht mehr aus und versetzten sich weitere Schläge. Grinsten wieder. Schlugen Schulter. Grinsten.

Das blonde Mädel sah dem Treiben sprachlos und mit geweiteten Augen zu.

"He, was ist denn da los?" schallte da die Stimme Kartongs über den Platz. Vom Lärm der Schulterschläge alarmiert, kam er mit weiten Schritten herbei, um zu sehen, warum sich zwei seiner Männer stritten. Doch dann stutzte er, und während seine kräftige Kinnlade noch sank, erkannte er schon den Barbaren.

"Männer!", brüllte er. "Wulf hat den Barbaren! Alle hierher!"

Diesen Augenblick versuchte das Mädel zur Flucht zu nutzen. Es sprang auf und rannte, so schnell es der lange Rock zuließ, auf die dunkle Torstraße zu.

Kartongs Stimme überschlug sich: "Und die Königin! Da ist die Königin! Lauft, Männer, schneidet ihr den Weg ab! Einen Beutel Gold für den, der sie fängt!"

Barn der Barbar war sehr verwirrt. Soviel Geschrei! Und sein Mädel lief davon! Und Wulf! Und die Schänke! Was sollte er nun tun?

Doch die Last des Denkens wurde von ihm genommen, als der Hauptmann Wulf brutal beiseite drängte, sich vor dem Barbaren aufbaute und sein Schwert zog.

Als wäre sie dorthin gesprungen, hatte auch der Nordmann plötzlich die eigene Klinge in der Faust. Alle Verwirrung und Gutmütigkeit fiel von ihm ab, denn er kannte diese Szenen, bei denen es um ein Mädel, Goldmünzen oder ein verpatztes Würfelspiel ging, zur Genüge. Er war jetzt völlig ruhig. Und gefährlich.

"Ho!" rief er dem Hauptmann entgegen, als Warnung und als Zeichen, dass er bereit sei.

Kartong erwiderte nichts. Jäh trat er vor, und sein kurzes Schwert war flink wie eine zustoßende Natter. Doch noch schneller war der Nordmann. Er sprang beiseite, grätschte in einen gewaltigen Hieb nach vorne, wich zurück, täuschte einen Rückhandschlag von links an, nur um dann seine schwere Klinge in einem geraden Stich vorschnellen zu lassen.

Spielerisch glitt das Langschwert des Barbaren nun in Hiebposition hoch über den Kopf, gleichzeitig zog der Nordmann das rechte Bein zurück, um sicheren Stand für die nächste Parade zu gewinnen. Sein Atem ging kaum schneller.

Plötzlich, ohne dass die Bewegung auch nur im Ansatz zu erkennen gewesen wäre, machte Barn einen gewaltigen Ausfallschritt und begann, das Schwert nach Barbarenart über dem Kopf zu wirbeln. Der Marktplatz hallte wider von seinen eleganten Schrittkombinationen, die jeden höfischen Eintänzer beschämt hätten. Die einfachen Soldaten starrten gebannt auf dieses ungleiche Duell, die flüchtende Königin war vergessen.

Barn machte noch eine Weile weiter, zeigte die hohe Kunst des seitlichen Schwertwirbelns, schließlich gar das Wirbeln unter den Füßen, das nur einige auserlesene Schwertschwinger beherrschen und bei dem man nach alter Überlieferung 'Hopp-Hopp-Hopp' rufen muss. Dann blieb er grinsend und schnaufend stehen.

Kartong nutzte die Pause, ließ sein Schwert fallen und hieb dem Barbaren die vereinte Wucht seiner beiden breiten und haarigen Fäuste über den Schädel, dass es auf dem Marktplatz nur so dröhnte.

Staunend sah Barn die Ankunft der Sternengötter. Lächelnd begrüßte er die sanften Hügel des Pflasters.

Sein Aufschlag ließ selbst den Obelisken erzittern.

7.

"Los, wach' auf, Barbar!"

Ein eiskalter Guss überschwemmte den Nordmann. Hustend, prustend und fluchend schlug er die Augen auf.

Er blinzelte in einen niedrigen Raum, gemauert aus dicken, rußgeschwärzten Steinen. Eine einzelne Fackel an der Wand verbreite viel Qualm und wenig Licht. Die Luft war dick von Rauch und dem Gestank von Krötenkot.

Vor ihm stand der Hauptmann Kartong. Er hatte den bunten Panzer abgelegt und zeigte die unglaubliche Haarigkeit seiner breiten Brust. Mit einem tropfenden Holzzuber in den Händen blickte er den Barbaren voll gehässiger Grausamkeit an.

Neben dem Hauptmann befingerte der Priester Gastridis nervös sein Pomander-Amulett.

"Barbar!" zischte Gastridis den Nordmann an. "Scheinbar bist du zu blöde, mit einem nackten, willigen Weib das anzustellen, was Kerle wie du mit nackten willigen Weibern sonst dauernd anstellen! Einmal gebe ich dir noch Gelegenheit, deine Manneskraft unter Beweis zu stellen. Vorher aber wirst du dich hier ein bisschen ausruhen. Vielleicht schärft das deine Sinnlichkeit!"

Barn brummte unwillig. In seinem Schädel dröhnte es, als wäre er ein Bergwerk voll emsiger Zwerge, und seine Zunge war wie der schmutzige Wollrock eines alten Fischweibs. Überhaupt hatte er schlechte Laune. Und dummes Geschwätz musste er sich erst recht nicht bieten lassen, ho!

Er räusperte sich tief in der rauen Kehle und rotzte dem Priester einen grüngrauen Brocken vor die Sandalen.

"Ich sag' euch, das ist das letzte Mal, dass ich in dieser lausigen Stadt übernachtet habe!" schimpfte er bitter.

Des Hauptmanns schöner, kahler Kopf verfärbte sich rosig wie die Abendröte des jüngsten Tages.

"Jetz' langt's, Barbar!" brüllte er und rammte dem Nordmann eine große, haarige Faust in den Magen.

Der Barbar würgte. Gastridis hob eine schmale Hand.

"Kartong, lass' das!" rief er ärgerlich. "Sieh' lieber zu, dass die Königin gefunden wird. Es ist eine Schande, dass du sie hast entkommen lassen!"

"Ja, Meister!" brummte der Hauptmann zerknirscht. "Aber ich hab' Doppelstreifen überall in der Stadt. Es wird nicht mehr lange dauern, bis sie vor Euch steht, Meister!"

Gastridis nickte knapp. "Das will ich hoffen. Gehen wir."

Kartong öffnete eine niedrige Gittertür in der Wand gegenüber dem Barbaren.

"Noch eins, Hauptmann!" Der Priester hatte einen Zeigefinger erhoben. "Sag deinem Freund, dem Kerkermeister, er soll seine perversen Finger von dem Mann hier lassen. Mach' ihm das völlig klar. Sonst lass' ich euch beide von der großen schwarzen Kröte holen!"

Der riesige Hauptmann wurde bleich und schluckte trocken.

"Ja, ganz bestimmt, Meister!" versicherte er, denn er fürchtete nichts in der Welt so sehr wie die große schwarze Kröte, auch wenn er nicht genau wusste, was sie war und was passieren würde, wenn sie ihn holte.

"Gut!" schloss Gastridis und trat durch die Tür.

Gebückt folgte der Hauptmann. Die Tür fiel zu, ein Riegel knirschte, Schritte verhallten.

Der Barbar blieb allein in seinem kleinen Kerkerloch, allein mit der trüben Fackel und dem Gestank magenkranker Kröten.

 

Als der Nordmann nach einer Weile genügend Ruhe gefunden hatte, runzelte er zunächst die Stirn. Er war wieder einmal nackt, und er konnte weder seine Sachen noch sein Schwert irgendwo sehen. Außerdem tat ihm der Kopf so weh, dass er keinen klaren Gedanken fassen konnte.

Wie kam er in diese Kammer? Warum war das Mädel nicht hier? Wo war Wulf? Das Fest? Hatte er alles nur geträumt?

Es gab nur einen Weg, das herauszufinden: Aufstehen, hinausgehen und jemanden fragen.

Als er aufstehen wollte, musste er feststellen, dass man ihn in eiserne Ketten gewickelt hatte. Er fluchte fürchterlich.

Was war das nun wieder für ein dreifach gruunzverfluchter Blödsinn? Jetzt würde er sich erst recht beschweren gehen! Er ließ die gewaltigen Muskeln schwellen, bis die Ketten so fest in seinen Körper schnitten, dass im vor Schmerz die Sinne zu schwinden drohten. Er bäumte sich auf. Dick wie Schifferdaumen traten ihm die Venen aus den Schläfen. Vor Anstrengung biss er sich Lippen und Zunge blutig.

Alles wurde dunkelrot.

Irgendwann brach etwas mit trockenem Knirschen, und Barn wusste nicht gleich, ob das nun seine Knochen oder die Ketten gewesen waren.

Doch dann bemerkte er, dass er die Arme bewegen konnte. Mit vom Schmerz tauben Fingern streifte der Nordmann mühsam die Ketten ab. Langsam floss das Blut zurück in die gequetschten Adern und brannte dort wie glühendes Erz. Seine Knie zitterten, als er aufstand. Ihm wurde kurz schwarz vor Augen. Er musste die Arme ausstrecken und Halt an der Wand suchen.

Ganz dringend brauchte er etwas zu essen und einen Schluck roten Wein!

Schwerfällig schwankte er zu der kleinen Gittertür und trat dagegen. Das Eisen dröhnte. Rost rieselte. Aber die Tür blieb zu.

"He Wirt, was soll'n das hier!" rief Barn voll gerechten Zorns. "Die verdammte Tür is' zugeschlossen!"

 

"Ruhe da drinnen!" schnarrte eine brüchige Stimme aus dem jenseitigen Dunkel.

Barn trat noch einmal gegen die Gitterstäbe.

"He Wirt, eine Dreckskammer is' das, Wirt!" brüllte er wütend. "Außerdem hab' ich Hunger!"

Draußen kicherte jemand auf sehr hässliche Weise. Es klang, als schabten morsche Knochen aneinander. "Sei besser ruhig, Barbar, sonst komm' ich rein und schneid' mir'n Schnitzel aus deinem breiten Kreuz!"

"Bei Gruunz, Wirt, ihr seid ein elender Schurke!" donnerte der Barbar und stampfte mit dem Fuß auf.

Das Kichern wurde lauter.

"Du hast's nich' anders gewollt, Krötenfraß! Ich komm' jetzt 'rein un' hol mir mindestens deine geschwätzige Zunge."

Etwas klapperte. Das Türgitter vibrierte, dann schwang es knarrend nach innen. Barn trat einen Schritt zurück. Eine Fackel erschien in der Öffnung, dahinter ein feister Arm, ein kahler, glänzender Kopf und bleiche Schultern, schließlich schob sich ein enormer Leib durch die enge Tür.

Das Ganze wurde zu einem kurzen, fetten Mann in kühn geschnittenen schwarzen Lederhosen und hohen, glänzenden Stulpenstiefeln. Sein nackter, blasser Oberkörper war in ein komplexes Gurtwerk aus dornengespickten Riemen geschnallt, das Wanst und Brust in fast weibliche Formen zwang. Die von Kinnen überronnene Stelle, an der bei anderen Menschen der Hals entspringt, war umhängt mit silbernen Kettchen, an denen menschliche Finger in den unterschiedlichsten Stadien der Verwesung befestigt waren.

Das Gesicht des Mannes war aufgequollen und breitlippig wie das eines Frosches. Doch seine Augen waren groß, rund und blau und blickten so friedlich wie ein Baby nach einem Bäuerchen. Zusammen mit den dunkel getuschten Wimpern und den leberfarbenen Tränensäcken machten sie die ganze Erscheinung zur perfekten Ergänzung des Hauptmanns Kartong.

Schnaufend stellte sich der Ledermann so dicht vor den Barbaren, dass sein schaukelnder Bauch gegen dessen Unterleib drückte.

"Hallo, blonder Junge! Ich bin Frida, die Kerkermeisterin von König Dullbert", stellte er sich mit hoher Stimme vor und deutete eine Verbeugung an. "Weißt du, wie sehr ich es hasse, durch so eine Tür zu kriechen? Ordentlich Spaß brauch' ich, um das zu vergessen!"

Er hob ein mit stählernen Stacheln gespicktes Werkzeug vor die Nase des Nordmannes und schwenkte es, während er seine Froschlippen langsam von zwei Reihen brauner, spitz gefeilter Zähne zog, die von seiner Zugehörigkeit zu den Gläubigen des entsetzlichen Lurchgottes Pomander zeugten. Eine graue, warzige Zunge erschien wie ein Krötenkopf dazwischen.

"Das ist eine Blutbirne!" erklärte Frida und kicherte wieder. "Man kann sie auch heiß machen, dann isses lustiger!"

Er gab Barn mit dem Instrument einen sanften Schlag unter das Kinn und schwenkte dann die Fackel in der anderen Hand, dass Barn die Hitze schmerzhaft auf den Wangen spürte.

Der Barbar grunzte böse, packte den Mann unter den Achseln und schüttelte ihn.

"Wein un' Brot will ich, klar?" knurrte er. "Un' meine Sachen un' mein Schwert! Unne andere Kammer - hier sin' Ratten drin."

Als er den festen Griff des Nordmannes fühlte, wollten die säuglingsblauen Augen des Kerkermeisters schier aus den Höhlen kriechen.

"W-wieso bist du nicht in deinen Ketten?" keuchte der Ledermann fassungslos. "Ich selbst hab' dich festgeschmiedet, als du noch bewusstlos warst!"

Barn fühlte sich unverstanden und schüttelte weiter, bis außer Speichel nichts mehr über die Lippen seines Gegenübers kam. Dann stieß er den Mann zu Boden.

"Bei Gruunz", brummte er angeekelt und spuckte ins Stroh. "Dicker, du brings' mich jetz' ganz schnell zu deinem Wirt, weil, ich will mich nämlich bei dem beschweren!"

 

*

 

Königin Clandine rannte durch die Dunkelheit der Torstraße. Wie alle Frauen der Garstek hatte das harte Leben in den Zeltstädten der Bergbarbaren sie zu einer schnellen und ausdauernden Läuferin gemacht, und es dauerte nicht lange, bis sie vor sich den gedrungenen Schatten des Westtores sah. Der Torbogen war erleuchtet. Zwei Soldaten standen davor.

Clandine blieb in sicherem Abstand stehen, blickte sich um und entdeckte den dunklen Schlund einer schmalen Seitengasse. Sie glitt hinein und duckte sich in die Schatten.

Ihren Atem zur Ruhe zwingend, spähte sie hinaus auf die Straße und lauschte. Kein Fackelschein, kein Rufen, keine eiligen Schritte, auch nicht das Klirren von Waffen, nichts, was auf Verfolger hingewiesen hätte.

Stattdessen bemerkte sie nach einer Weile ein dumpfes, kehliges Knarren, das dem Rhythmus ihres Atems folgte. Sie blickte zu Boden und fand sich von einem Kreis bernsteinfarben schillernder, geschlitzter Augen umgeben.

Sie biss sich in die rechte Hand, um nicht zu schreien.

Ein Gefühl der Unwirklichkeit überkam sie: Sie kannte diese Augen aus ihren Träumen.

Manchmal, in der Nacht vor Neugeburt des Mondes, kamen kalte Augen im Schlaf zu ihr und sprangen sie an, fette Leiber eisiger Kröten drängten sich dann an ihre Waden und krochen klebrig, schwer und feucht wie Schnecken ihre Schenkel hinauf. Bevor jedoch die grässlichen Kriecher ihr Geschlecht erreichen konnten, war sie jedes Mal erwacht.

Auch diesmal kamen die Augen näher, genau wie in ihren Träumen. Mit dem Unterschied, dass sie wusste, diesmal nicht aufwachen zu können.

Etwas berührte sie am linken Fuß. Es war klebrig, schwer und feucht.

Sie schrie.

Voll panischen Entsetzens trat sie nach den Augen. Schwere, hornige Mäuler schnappten nach ihren nackten Zehen.

Sie sprang zur Seite, und etwas Weiches zerplatzte unter ihren Füßen. Widerwärtiger Gestank stieg auf. Das Quaken wurde jäh schrill und bösartig.

Kreischend floh Clandine aus dem Kreis der Kröten.

 

*

 

Am ganzen Leib zitternd, unentwegt murmelnd und sich immer wieder mit unterwürfiger Miene zum Barbaren umdrehend, führte der Kerkermeister den Nordmann durch einen engen und feuchten Gang.

Seine flackernde Fackel tauchte die salpeterverkrusteten Wände und den knöcheltiefen, schlammigen Boden in ein unheimliches Blutrot. Manchmal wehte ein hohles Stöhnen oder ein dumpfes Kettenrasseln von irgendwo aus der Finsternis heran und machte alles noch bedrückender.

Als Barn schon ungeduldig werden wollte, blieb der Kerkermeister stehen. Er zeigte auf einen von einer einsamen Fackel schwach beleuchteten hohen Türbogen, hinter dem eine ausgetretene Wendeltreppe steil nach oben führte. Eine Unmenge abgenagter Hähnchengerippe lagen davor, in einer Nische stand ein schiefer Stuhl, und ein länglicher Lappen daneben schien so etwas wie eine Schlafstelle zu sein.

"Diese Treppe rauf", sagte Frida sehr laut und schlug dabei fest gegen die Stufen. "Da geht es durch die Folterkammer fast direkt in den Schlosshof, großer Barbar!"

"Geh' vor!" knurrte der Barbar.

"Oh, natürlich, du großer, kräftiger Barbar, den ich ganz hinten angekettet hatte und der jetzt frei herumläuft, mit meiner Blutbirne bewaffnet!" rief der Kerkermeister. "Diese Treppe werden wir hinaufgehen!" Er gab der Treppe noch einen Stoß.

"He, Frida, was soll denn das Geschrei? Ich hab' jetzt wirklich wichtigeres zu tun als mit dir zu spielen!" drang da eine harte Stimme die Treppe hinunter.

Der Kerkermeister begann zu schreien: "Kartong! Kapier' doch! Der Barbar ist frei!"

"Was sagst du, Kerkermeister?" knarrte die Stimme von oben.

Füße polterten Stufen hinunter. Ein trübrotes Fackellicht wurde oben sichtbar, und darin der Körper und die schön glänzende Glatze des Hauptmannes Kartong. Der mächtige Mann blieb etwa ein halbes Dutzend Stufen über dem Boden stehen und kniff suchend die Augen zusammen.

"Was war das jetzt mit dem Barbaren?" rief er nach unten.

In diesem Augenblick griff Barn nach den zwei großen, sandalenbekleideten Füßen des Hauptmanns und zog.

Kartong verlor den Halt und kippte nach vorne.

"Oh Kartong!" kreischte Frida schrill, als der riesige Hauptmann schwer in dem Haufen der Hähnchengerippe aufschlug.

Händeringend sank der Kerkermeister neben dem Gefallenen auf die Knie und hob den kahlen Kopf in den Schoß. "Kartong, es ist nicht meine Schuld!" jammerte er und knetete das schöne, blasse Gesicht des Hauptmanns zwischen den Händen. "Ich wollte dich ja warnen, aber du hast mich nicht verstanden!"

Kartong grunzte benommen.

Barn schüttelte den Kopf. Es war in allen Wirtshäusern das Gleiche: Die Knechte waren ständig betrunken und außerdem mehr aneinander interessiert als am Wohlergehen der Gäste. Man konnte nichts von ihnen erwarten. Seufzend zog er dem klagenden Ledermann die Fackel aus der Hand und stieg die Stufen hinauf.

Die Treppe führte in mehreren dunklen Wendeln in die Höhe und endete in einem gemauerten Bogen mit einer dicken Holztür. Der Raum dahinter war eine niedrige Halle, schwach erleuchtet vom roten Licht verglimmender Kohlen.

Barn sah sich um. Das Feuerbecken in der Mitte war groß genug, einen ganzen Ochsen darüber zu rösten, aber das Feuer war niedergebrannt, und von einem Ochsen war auch nichts zu sehen. Schiefe Gerüste, seltsame Stühle und unratverkrustete Tische standen um den Feuerplatz herum. Ein paar zerbrochene Schädel und Brustkörbe lagen dazwischen auf dem Boden. Es war ein ziemlich ekelhafter Ort, besonders wenn man - wie der Barbar - davon ausging, in einer Küche zu stehen.

"Ho, ich hab' Hunger!" rief der Nordmann in die Halle, dass es hallte.

Niemand antwortete.

Lautlos schlich der große Mann zum nächsten Tisch. Er schnüffelte. Hier schien vor einiger Zeit Fleisch gehackt worden zu sein. Auch auf den anderen Tischen roch es nach Schlachterei, überall war ein wüstes Durcheinander von Knochen, runzligen Hautresten und getrocknetem Blut. Nur nichts zu essen.

Als Barn sich auf einen Stuhl setzen wollte, um nachzudenken, sprang er mit einem lauten Fluch wieder hoch: Da war ein Haufen Nägel von unten in die Sitzfläche geschlagen! Was war denn das für eine verfluchte Küche?

Von plötzlicher, wilder Wut gepackt, riss er den schweren Stuhl hoch und schleuderte ihn quer durch den Raum. Dann warf er die Tische um und verstreute Dreck, Aas und stachelige Eiseninstrumente über den Fußboden, dass es in der düsteren Halle dröhnte wie in Vulgars Schmiede.

Da flog vor ihm plötzlich und vehement eine Tür auf, und der Umriss eines großen, dicken Mannes erschien vor dem hellroten Licht frischer Fackeln.

Der Umriss des großen, dicken Mannes brüllte: "Bei Vulgar, Frida, du hast versprochen, dass du kein' mehr folterst, wenn wir Freiwache ham! Wir könn' ja die eigenen Würfel nich' mehr rollen hör'n bei dem Lärm hier!"

Niemand anderes als der Wachmann Wulf stampfte wütend in das Zwielicht des Gewölbes und schüttelte drohend die linke Faust, die noch den ledernen Würfelbecher hielt.

Der Barbar blickte, blinzelte und brummte, wiederholte das alles mehrmals, bis er wirklich sicher war, dann rief er: "He, ich werd' verrückt, wenn das nich' Wulf is', mein alter Kumpel Wulf!"

Wulf starrte erschrocken auf den riesigen, nackten Barbaren, der da plötzlich vor ihm aufgetaucht war.

"Barn?" fragte er schließlich leise. "Ich hab' gedacht, sie ham dich gekriegt!"

"Gekriegt?" rief Barn aufgebracht. "Nix kriegt man hier. Das is' eine so elende Herberge, alter Kumpel, wie man 'se nich' mal im Diebsviertel von Krawalle findet, das sag' ich dir, un' Gruunz wird immer mein Zeuge, sein, bei Glungg!"

Während der Barbar mit dem Mittelfinger der Linken die traditionellen Geste des Norländischen Schwurs vollführte, wurde hinter ihm, dort, wo der Torbogen über die Wendeltreppe hinab in die Finsternis der Verliese führte, eine sehr wütende Stimme laut. Ein ängstliches Gekreische antwortete.

Wulf drehte den Kopf und schluckte hörbar. "Das sin' der Hauptmann und sein Kumpel, der dicke Frieder!" flüsterte er. "Wenn die dich hier finden, und mich dabei, dann gibt das mehr Ärger als wenn man beim Falschspielen erwischt wird! Wir müssen hier weg!"

Hastig packte der Wachmann den Barbaren an einem Arm und zog ihn durch die erleuchtete Tür. Dahinter lag ein Korridor, mit vielen Fackeln in eisernen Gitterkörben. Gleich links gab es einen schmalen Torbogen. Dahinter hockten drei Soldaten um einen Tisch und starrten mit gerunzelten Stirnen auf ein ledernes Würfelspielfeld.

Wulf legte einen dicken Finger vor die Lippen und zeigte am Torbogen vorbei nach vorne. "Ganz leise! Die Kerle da drin waren dabei, als der Hauptmann dich verhaftet hat. Die wissen, wer du bist und dass du nich' frei rumlaufen darfst. Außerdem wollten die gerade meine Würfel kontrollieren!"

Barn nickte und legte ebenfalls einen Finger vor die Lippen. Lautlos wie Schatten schlichen die beiden Barbaren an der Öffnung vorbei. Dann liefen sie durch den Korridor, bis Wulf neben einer Tür hielt, die mit einem weißen Kreuz bemalt war.

Der Würfler drückte vorsichtig die Tür auf und spähte in den dunklen Raum dahinter.

"Keiner drin, kannst kommen!" zischte er.

In der Kammer, die Wulf und der Barbar nun betraten, waren von Wand zu Wand viele Lederschnüre gespannt, von denen weiße Stoffstreifen hingen.

"Das is' die Trockenstube für frischgewaschene Schurztücher der Sklaven", erklärte der Wachmann. "Wenn du dir so eins umbindest, erkennt dich in der Verkleidung keiner."

8.

Nachdem sie bei ihrer panischen Flucht schließlich über die eigenen Füße gefallen war, lag Clandine im Schlamm der Torstraße. Sie schmeckte kalten, metallischen Sand auf den Lippen und wurde plötzlich wütend auf sich selbst. Sie, die Tochter des Häuptlings aller Garstek, trat auf einen Frosch und begann zu kreischen wie eine alte Jungfer, deren Unterwäsche in Flammen steht.

Nach einigen tiefen Atemzügen stand sie auf und sah sich um. Über ihr ragten die finsteren Fassaden verwahrloster Häuser wie vermummte Wegelagerer in den hellen Nachthimmel. Es stank nach Abfällen und Katzenurin. Hier feierte niemand die großartige Hochzeit, es gab kein Licht außer den kalten Sternen am Firmament und kein Geräusch außer ihrem Atem. Sie wartete eine Weile, aber nichts veränderte sich. Entweder hatte niemand ihre Schreie gehört, oder es war für die Anwohner nichts Besonderes, wenn in den Gassen nachts eine Frau schrie.

Vorsichtig machte sie sich auf den Weg zurück zum Stadttor.

Krötenaugen sah sie nicht mehr, und nur einmal glaubte sie, hinter sich ein Quaken zu hören. Sie hielt den Atem an und lauschte, aber das Geräusch kam nicht wieder. Vielleicht war es nur das Knarren eines Fensterladens im Wind gewesen.

 

Die Szene am Tor hatte sich nicht verändert. Nur eine einzige schwache Fackel erleuchtete die Flügel des Tores, das gerade breit genug war, um zwei Ochsenkarren nebeneinander hindurch zu lassen. Die zwei Wachsoldaten hielten sich dicht beieinander und schienen in ein Gespräch vertieft. Alles war günstig für eine Flucht. Es gab nur ein Problem: Das Tor war geschlossen.

Clandine, deren Volk in Zelten lebte, stand fassungslos vor dem unerwarteten Hindernis. Sie ballte die Fäuste und spürte Tränen aufsteigen.

Doch da sah sie auch schon die Rettung.

Im linken Flügel des Tores gab es eine schmale Pforte, eine Tür, die wohl benutzt wurde, um verspätete Wanderer einzulassen. Und die war offen.

Die Königin schlich näher, bis sie fast im Lichtkreis der Fackel stand.

Und beinahe hätte sie laut gelacht. Das waren keine zwei Wachleute, die dort so auffällig eng standen: Ein einzelner Soldat war da eifrig bemüht, seine Hände unter die Kleidung eines dicken Mädchens zu bekommen, und das Mädchen war ihm dabei sehr behilflich. Die Waffe des Soldaten, eine Lanze, lehnte lässig neben der Pforte.

Da hörte sie laute Stimmen von hinten.

"Alarm, Alarm, Barbaren!"

Clandine bezweifelte keinen Augenblick, dass das die Verfolger waren.

Hastig berechnete sie ihre Chance. Es mochten zwanzig Schritte zu der Pforte sein. Noch war der Soldat am Tor viel zu vertieft in seine angenehme Beschäftigung, um die Rufe zu hören. Und wenn er sie bemerkte, war er hoffentlich zu verwirrt, um richtig zu reagieren.

Die Königin hob den Rock und rannte los. Ihre nackten Füße machten auf dem staubigen Pflaster kaum ein Geräusch. Fünfzehn Schritte noch. Das Paar blieb eng umschlungen. Zehn Schritte.

"He! Da läuft jemand!" brüllte es da von hinten. "Torwächter! Torwächter! Haltet das Weib auf!"

Der Soldat zuckte zusammen wie ein junger Bär, den beim Honigstehlen eine Biene sticht. Clandine beschleunigte ihren Lauf. Nur eine Handvoll Schritte trennten sie vom Tor. Sie grinste verbissen, denn sie wusste, sie würde es schaffen.

Dann hörte sie etwas, und das Entsetzen, das mit diesem Geräusch kam, ließ ihre Knie so weich werden, dass sie stolperte und fast gestürzt wäre: Ein Froschchor schwoll mit der Plötzlichkeit eines Schlages um sie an. Das Quaken und Knarren schien von überall zu kommen. Wie durch zähen Nebel sah sie das zu einer Maske des Schreckens verzerrte Gesicht des Torwächters. Mit aufgerissenen Augen starrte er auf einen Punkt hinter Clandines Rücken. Die Königin taumelte weiter. Das schrille Quaken gellte als pulsierender Schmerz durch ihren Schädel, grell wie ein glühendes Eisen.

Zwei Schritte!

Mit Wucht rammte sie den Wachsoldaten, sah ihn fallen. Ihre Schulter wurde gefühllos. Dann war sie an der Pforte. Ein einziger, weiter Sprung noch, dann wäre sie hindurch...

Ein harter Gegenstand schlug gegen ihren linken Fuß. Etwas traf sie ihm Rücken. Dann riss ein ganzes Bombardement kalter, schwerer Geschosse sie von den Füßen. Sie überschlug sich, sah die eisenbeschlagene Türkante heranspringen und prallte mit der Stirn dagegen.

Das letzte, was sie sah, waren Kröten.

Hunderte von Kröten.

Kröten, die sich wie Schleudersteine gegen sie warfen. Manche platzten dabei und übergossen sie mit ihrem stinkenden Körpersaft.

 

*

 

"Es is' eine Riesenschreierei im Schloss seit'n paar Stunden. Man sagt, Barbaren aus den Bergen hätten die Königin und die Krone geraubt!" erklärte Wulf dem Nordmann. "Der graue Gastridis, der Pomanderpriester, mischt sich überall ein und gibt Befehle, als wäre er in Wirklichkeit König. Und der Hauptmann macht mit. Aber keiner hat Barbaren gesehen. Und der König ist auch verschwunden. Irgendwas stimmt nicht, da spielt einer mit gezinkten Würfeln, das sag' ich dir!"

Barn, der nicht zugehört hatte, nickte nur und ließ seinen leeren Bauch knurren. Er hatte den weißen Schurz besonders fest und eng gebunden, um den Magen einzuschüchtern, aber das half nicht viel. Ein echter Nordmännermagen brauchte eben mehr zum Leben als dünnen Wein und Hammelfett, ho!

Die beiden Männer passierten einen Torbogen. Dahinter wurde der Gang breiter.

"So, ab hier müssen wir aufpassen", mahnte der Wachmann. "Vorne ist die Küche, und dann kommen die Sklavenquartiere. Da ist immer was los, auch so spät noch."

Tatsächlich hörten sie bald aufgeregtes Geschrei aus einem Raum zur Rechten, und plötzlich stürmte ein langer Mann mit einem albernen Hut, einer weißen Schürze und grauen Hosen durch die Tür. Er sah sich um, entdeckte Wulf und den Nordmann und zeigte mit herrischer Geste auf Barn. "Sklave, komm her!"

Der Wachmann stellte sich schnell vor den Barbaren und sagte: "Nix da, Koch. Ich bring' den Burschen hier runter in die Stadt, er soll noch Dackelblutwurst aus Fifis Fleischerladen holen, für den Hauptmann."

Der Koch verzog angewidert das Gesicht. "Dackelblutwurst nach der zehnten Abendstunde? Ihr seid ja alle krank bei der Garde! Deinen Burschen brauch' ich trotzdem. Ich muss den königlichen Eintopf für morgen aufsetzen, und meine Knechte haben alle so heftig Hochzeit gefeiert, dass ich den Kessel besser gleich ausschütte, als sie versuchen lasse, ihn über das Feuer zu hängen."

Wulf schüttelte den Kopf. "Der Hauptmann hat gesagt..."

"Was der alte Knabenschänder gesagt hat, ist mir egal", brüllte der lange Mann. "Wenn der König morgen Mittag keinen Eintopf bekommt, dann werden Köpfe den Schlossberg hinabrollen. Meiner wird dabei sein, aber deiner wird sie anführen, Dicker!"

Wulf wischte sich mit knubbeligen Fingern den Schweiß von der Stirn. Er kaute seine Unterlippe auf der Suche nach einem Ausweg.

"Na gut, Koch", sagte er endlich. "Aber ich werd' hier draußen warten."

"Klar Dicker", zwinkerte der Koch. "Kriegst deinen starken Mann zurück. Sobald ich fertig bin."

Der Wachmann gab Barn einen Stoß in Richtung der Küche. "Mach' einfach, was er sagt", zischte er dem verwirrten Nordmann zu. "Aber beeil' dich! Ich warte hier draußen."

 

*

 

Gastridis saß mit übereinandergeschlagenen Beinen auf dem sumpfgrauen Gebetsteppich in der Mitte seines Geschäftszimmers, eines großen, halbrunden Saales in einem der zahllosen Türme des Königsschlosses. Kostbare Möbel und teure Wandteppiche machten den Raum zu einem Ort besonderer Pracht, die nur dadurch eine leichte Minderung erfuhr, dass sich die Farben auf Schlammgrau, Knochenweiß und Blutrot beschränkten.

Kalter Schweiß stand auf der bleichen Stirn des Priesters. Sein Geist befand sich auf der zweiten Ebene transzendentaler Trance, dort, wo Dämonen und verdammte Seelen brüllen, fluchen, jammern und kichern wie Händler während der letzten Tage des Sommerschlussverkaufs.

Gastridis musste seinen großen Opferschwindel vorbereiten, und dazu brauchte er einen Gehilfen aus der Hölle.

 

*

 

Der Koch führte Barn in das weite Gewölbe der Schlossküche. Zahlreiche Tische und Sitzbänke standen hier, denn hier aßen auch die Sklaven ihren ewig gleichen Fraß aus den aufgewärmten Abfällen des Hofes.

Auf dem freien Platz zwischen den Tischen erhob sich eine runde, gemauerte Feuerstelle mit einer gehämmerten bronzenen Abzugshaube darüber. Um sie herum standen und lagen Mengen kleiner schmutziger Röstgitter, dreckiger Kochkessel und verbogener Bratpfannen in wirrem Durcheinander. Der Dunst von altem Fett und verdorbenem Fleisch hing in der Luft wie eine drohend geballte Faust.

Der Koch zeigte auf einen gigantischen Kessel, in dem man ohne Probleme drei oder mehr Männer von der Größe Barns unzerlegt hätte kochen können. Die gewölbten, schmiedeeisernen Flanken waren überkrustet von zahllosen alten Schichten angetrockneten und festgebrannten Eintopfs. Drei dickbäuchige Sklaven lagen davor und schnarchten.

"Der Kessel da muss auf die Feuerstelle!" bellte der Koch. "Bursche, hörst du?"

Barn hörte nicht.

Er blickte mit leuchtenden Augen auf die Reihen um Reihen geräucherter Schweineschinken, die von der Decke hingen, und auf die fertig gebratenen Ochsenhälften, die wie gelangweilte, aber sehr attraktive Freudenmädels an den Wänden lehnten.

"Ho!" machte er und rieb sich die Hände.

Er steuerte die nächstgelegene Bank an, setzte sich und ließ eine kräftige Faust auf den Tisch krachen: "Ho, Wirt, 'n halben Ochsen unnen Humpen voll Bier!"

Gutgelaunt sah er sich um. Und entdeckte das schwarzhaarige Mädel.

Es saß an einem Tisch in der dunkelsten Ecke des Raumes und schnitt Rotwurzeln mit einem Messer in eine Suppenschüssel. Immer noch trug es nur den knappen weißen Schurz auf der bronzebraunen Haut.

Kein Zweifel, das war das Mädel vom Brunnen! Hatte er es doch endlich erwischt!

Geschmeidig stand er auf, ging an dem fassungslosen Koch vorbei und baute sich breitbeinig vor dem Tisch des Mädels auf.

"Ho, Mädel, bist du auch hier?" dröhnte er.

Erschrocken blickte die Schwarzhaarige auf. Als sie Barn erkannte, ließ sie ihr Messer fallen.

"Du?" stieß sie hervor und sprang auf. "Mein Herr hat doch..."

Sie wich zurück. Aber nachdem sie eine kurze Weile in das strahlend naive, gewissenlos gierige Grinsen und Zwinkern des Barbaren geblickt hatte, verschwand die Angst aus ihrem Gesicht und machte einem anderen Ausdruck Platz.

"Du denkst, du hast mich diesmal, mmh?" hauchte sie mit dunkler, kehliger Stimme und legte die Hände provozierend auf ihre Brüste. "Da irrst du dich aber!"

Mit katzenhafter Gewandtheit sprang sie vor und stieß den Tisch um. Die harte Holzkante landete genau auf Barns linkem großen Zeh. Der Barbar brüllte vor Schmerz. Flix lief lachend an ihm vorbei.

Am Ausgang der Küche blieb sie kurz stehen, warf dem Nordmann eine Kusshand zu und rief: "Jetzt fang' mich doch endlich, großer Mann! Es ist doch gar nicht mehr weit bis zum Ziel aller Wünsche!"

Dann verschwand sie mit einem aufreizenden Hüftschwung durch das Küchentor. Nur ihr Gelächter blieb zurück.

Grimmig schnaufend trat der Barbar den umgestürzten Tisch beiseite und verpasste dem Koch, der sich ihm in den Weg stellte, ganz nebenbei einen festen Faustschlag in den Magen.

Dann rannte er durch das Küchentor und vorbei am wartenden Wulf. Auf die besorgten Rufe des Wachmanns reagierte er nicht, denn vom Ende des Ganges winkte ihm das schwarzhaarige Mädel noch einmal auffordernd zu, bevor es hüftschwingend eine breite Treppe hinaufstieg. Grunzend steigerte der Nordmann sein Lauftempo.

Hinter ihm wurde plötzlich Geschrei laut, ein Speer flog an ihm vorbei und schlug klirrend gegen eine Säule; aber all das interessierte den Barbaren im Augenblick nicht. Er sah nur die braunen Schenkel, die in wunderbarer Eleganz die Treppe hinaufflohen.

Bei Gruunz, er würde diesmal bekommen, was ihm zustand, und wenn ihm hundert Tische dabei auf den Fuß fielen!

 

*

 

Gestärkt von der Inbrunst des Traumgebets von König Dullbert begann Pomander ebenfalls zu träumen. Und in seinem Traum sah er die anderen, die jungen, flinken Götter fallen, sah, wie sie in der Schwärze der Unendlichkeit jammernd ersoffen und im Maelstrom der Zeit zu rotem Nebel zerrieben wurden.

Das Triumphgelächter des Träumers drang hinaus aus dem blasenschlagenden Sumpf der Sterne und hinunter an die rudimentären Ohren, die allein es hören konnten.

 

Überall in den Straßen Thenils hoben die Amphibien ihre Köpfe. Frösche und Kröten krochen auf die Sockel der Brunnen, hockten auf den Leibern der sinnlos Betrunkenen und erklommen Treppen, um dem Traum ihres Gottes zu lauschen. Auf den Balkonen und den flachen Dächern der Häuser sammelten sie sich, und selbst an den glatten Wänden der hohen Türme klammerten sich Lurche und warteten mit bebenden Flanken.

In der Straße der Tausend Freuden taumelte das Hochzeitsfest derweil weiter seinem ungewissen Ende zu. Buden wurden eingerannt, Kleider vom Leib gerissen und Keller geplündert. Zunächst achtete niemand auf die Amphibien. Und wenn es doch jemand tat, so warf er dem Becher oder Schlauch, den er gerade hielt, einen misstrauischen Blick zu und nahm den nächsten Schluck.

Doch dann begannen die Tiere, dem träumenden Gott eine Antwort zu singen.

 

In einem Hausgang neben dem Zunfthaus der Narren schnarchte ein elender kleiner, dicker und bärtiger Bratwurstverkäufer. Das Leben war nicht freundlich zu ihm gewesen an diesem Festtag. Kaum jemand hatte seine Würste gekauft, zwei Kunden, große, derbe Unholde der Stadtwache, hatten ihn statt Bezahlung sogar verprügelt, und dann war da noch dieser riesige blonde Barbar gewesen, der ihn so furchtbar erschreckt hatte.

Aber erschreckender noch als jeder Barbar sah seine Zukunft aus: Er hatte sich bei Fifi dem Fleischer für den kleinen Anteil Schweinefett, den er des Geschmacks wegen in die Würste füllen musste, hoch verschuldet, in der Hoffnung, am Tag nach der Hochzeit zurückzahlen zu können. Denn Fifi war nicht nur Fleischer und für seine Dackelblutwurst berühmt, sondern auch erster Vorsitzender der Gilde der Mörder von Thenil und daher nicht sehr zimperlich beim Schuldeneintreiben.

Beim Sammeln der übrigen Zutaten im Sumpf vor Thenil war der kleine Bratwurstverkäufer auch noch ausgerutscht und hatte sich den Rücken verrenkt, so dass er nur wenige weiße Blindlurche hatte fangen können, aus denen er sonst die Pelle und ein Gutteil der Füllung machte. Also hatte er alte Fußlappen genommen und gemahlen, und in den Wurstteig auch noch mehr gehacktes Gras und Gossenschlamm hineingetan, als gut war.

Die Schmerzen im verrenkten Rücken hatten ihn dann auch so sehr beschäftigt, dass er nicht immer darauf geachtet hatte, seine Bratwaren nur an wirklich Betrunkene zu verkaufen. Dem Zorn der nüchternen Käufer war er als erfahrener Händler zwar durch Flucht entkommen, aber ihm war klar, dass man sich sein Gesicht gemerkt hatte. Er würde die Stadt für lange Zeit verlassen müssen, und das ohne das Geld, das er erhofft hatte.

Der Schlaf des kleinen Bratwurstverkäufers war schwer, seine Träume düster.

Er träumte von entsetzlichen schwarzen Abgründen, in denen das Verderben hirnlos schnatterte, von gigantischen Gestalten, die kreischend ins Nichts taumelten, und der ungeheuren Silhouette eines Lurches hinter allem, einer allgewaltigen Amphibie, die mit ihrem brüllenden Gelächter das Universum erschütterte.

Er erwachte schwer atmend, als die Lurche ihr Lied begannen. Und fand sich bedeckt von Kröten, die die Wärme seines Leibes gesucht hatten.

Da schlugen die brackigen Wasser des Elends endgültig über ihm zusammen.

Schreiend lief er auf die Straße, warf sich zu Boden und begann ein hysterisches Geschrei.

"O Gott der Lurche! O Gott der Lurche!" rief er schrill. "Ich werde Dein demütiger Sklave sein, wenn Du mir vergibst! Nie wieder werde ich Würste aus Deinen Geschöpfen machen!"

Er schlug seinen kleinen, bärtigen Kopf mit Wucht auf das kotige Pflaster, bis das Blut spritzte.

Die Menge gelangweilter Betrunkener, die sich um ihn gesammelt hatte, war beeindruckt von so viel Inbrunst. Schnell stimmten erste Zuschauer in das Gejammer ein, und bald lagen alle im Dreck und schlugen mit ihren Stirnen auf die Steine ein. Überall auf der Straße der Tausend Freuden nahmen Menschen den Ruf zum Gott der Lurche auf.

 

*

 

Zwei Gardisten trugen eine Bahre, eine improvisiertes Gestell aus Lanzen, Gürteln und der derben Wolljacke einer Bauernmagd durch die finstere Schlucht der Torstraße. Auf der Bahre lag, bleich und bewusstlos, die junge, blonde Frau, der sie erst heute früh als ihrer neuen Königin zugejubelt hatten. Nun trug die Königin statt des Hochzeitsgewandes die Kleider einer Waschfrau, war beschmiert mit Straßendreck und Krötenblut und stank schlimmer als die Jauchegrube unter König Dullberts Schloss.

Die Soldaten gingen schnell. Sie mochten das Torviertel nicht, denn sie wussten, dass das Torviertel keine Soldaten mochte, vor allem, seit Kartong Hauptmann der Gardisten war. Aber auch das unheimliche Erlebnis mit den Kröten, die sich wie besessen gegen die Königin geworfen hatten, steckte ihnen in den Knochen.

"Ich bin froh, wenn wir wieder oben auf dem Schloss sind", sagte der hintere Träger nach einer langen Zeit bedrückten Schweigens zum vorderen. Der nickte und spuckte aus.

"Ich sollte schon längst sturzbesoffen in den Armen irgendeiner Hure liegen, bei Moder!" nörgelte er. "Is' heut' nich' die Hochzeit meines Königs? Un' hat nich' der Hauptmann freien Wein und Dienstschluss bei Sonnenuntergang versprochen?"

"Allerdings, bei Cthulhu!" rief der hintere Träger. "Doch stattdessen rennen wir noch zur elften Stunde in der Stadt 'rum, müssen dem Pöbel beim Feiern zugucken und dem Dullbert sein Weib wieder einfangen!"

Der vordere Soldat drehte den behelmten Kopf halb seinem Kameraden zu und zwinkerte.

"Wenn ich mit dem alten Flohsack ins Bett kriechen müsste, würd' ich aber auch abhauen, bei Flabbergasst!"

Der hintere schnitt eine Grimasse, die Zustimmung ausdrückte.

"Naja, halten wir besser's Maul und geh'n schneller. Vorne is' schon der Marktplatz!"

Auf den schäbigen Fassaden der Häuser tanzte tatsächlich der erste Widerschein des ewigen Feuers. Eine schwache Brise hob sich und trieb die üblen Gerüche des Torviertels zurück in die Dunkelheit. Die beiden Soldaten strafften ihre Schultern und schritten schneller aus.

Dann endete die Straße.

 

Die weite Fläche des Marktplatzes war übersät mit Kröten, Lurchen, Fröschen und anderen, namenlosen Kreaturen der Sümpfe. Auf den glatten Flächen des fünfseitigen Obelisken klebten die Amphibien wie Fliegen auf einem Obstkuchen.

Und dazwischen wälzten sich Horden nackter Menschen in obszöner Anbetung. Junge Mädchen rieben sich die schlanken Körper zärtlich mit den Leibern fetter Kröten, als wären das edelste Badeschwämme. Wilde Horden närrischer Alter hopsten umher und quakten wie die Frösche. Ein Mann schluckte Mengen kleiner Lurche und rief immer wieder "Vergebt mir! Ich liebe euch doch! Ich liebe euch!"

"Bei... Pomander!" fluchte der vordere Träger und blieb fassungslos stehen. Der hintere reagierte zu spät und stolperte. Die Bahre kippte, und die Königin fiel auf das Pflaster, zwischen die Frösche.

 

*

 

"Bei den Hintern der Heiligen, Wulf!" rollte eine Stimme wie Donner durch den Korridor vor der Schlossküche. "Da rennt der Barbar! Halt ihn auf!"

Der bärtige Wachmann wandte hektisch den Kopf hin und her. Vor ihm lief Barn die Treppe zum Erdgeschoss hinauf, hinter ihm nahte der Hauptmann Kartong mit gezogenem Schwert, gefolgt von drei Gardisten; und dann kam auch noch der Koch brüllend aus der Küche gerannt: Zuviel für einen Mann, der mit Würfeln besser umgehen konnte als mit Schwierigkeiten.

Wulf blieb stocksteif stehen, salutierte und schlug die Hacken zusammen. Das war ein Trick, den der alte Feldwebel Jobbo ihm beigebracht hatte. Und er hatte sich bei der Garde stets als die beste Deckung erwiesen.

"Wulf, du Idiot! Jetzt lauf' und steh' nicht nutzlos 'rum wie der Obelisk" fluchte Kartong. "Wir müssen den Barbaren kriegen, sonst holt uns alle die große schwarze Kröte!"

Da kam der Koch aus der Küche gehumpelt und trat dem Hauptmann in den Weg.

"He, Hauptmann, ich habe eine Anzeige zu machen!" rief er, während er sich den Bauch hielt. "Dein blöder Sklave hat mir..."

"Beiseite, Bauer! Hier kommt die Garde!" brüllte Kartong und schlug dem Koch in die Magengrube.

"Genau das hatter gemacht..." röchelte der Koch und sackte zu Boden, während Kartong und die Gardisten über ihn hinwegrannten, "Un' das alles wegen dem zickigen Weib, der Flix. Wo doch jeder weiß, dass die ihr'm Herren, dem Krötenfreund Gastridis, völlig hörig ist!"

Er schloss die Augen und seufzte, bevor er das Bewusstsein verlor.

Wulf, der immer noch steif dastand, runzelte die schweißnasse Stirn. Dann zupfte er sich an den schweren Ohrläppchen, was er nur tat, wenn er wirklich ernsthaft nachdenken musste.

Und nach einiger Zeit - während der Koch erwachte, ächzend aufstand und murmelnd zurück in die Küche humpelte; während der Hauptmann Kartong und seine Männer mit wilden Schritten die Treppe hinaufstampften und über den schlanken Türmen von Thenil ein sehr schiefer Mond aufging - setzten sich imaginäre Räder in seinem Kopf in Bewegung. Und ihm wurde klar, dass sich sein Kumpel Barn in großen Schwierigkeiten befand.

Mit wild gesträubtem Bart begann der Würfler zu laufen.

9.

Barn fluchte. Das gruunzverdammte Mädel war so flink, dass die Jagd fast keinen Spaß machte! Er war dem Weib jetzt schon durch drei lange Korridore und über zwei Treppen nachgelaufen, und noch immer hatte es zwei Barbarenlängen Vorsprung!

Schnaufend bog der Barbar um eine weitere Ecke, hinter der das Mädel gerade eben verschwunden war.

Dahinter lehnten zwei große Kerle in buntbemalten Rüstungen an der Wand und schwatzten miteinander. Einer hielt einen Weinkrug in der Rechten. Das Mädel lief zwischen ihnen hindurch.

"Männer!" schrie es und zeigte auf den Barbaren. "Dieser Küchensklave verfolgt mich und will mich schänden! Haltet ihn auf und bringt ihn zu meinem Herren, dem Priester Gastridis!"

Die Gardisten grinsten träge. Der Mann mit dem Krug versuchte, das Hinterteil der laufenden Flix mit der flachen Hand zu treffen, verfehlte es aber und fluchte enttäuscht. Der andere trat lässig einen Schritt vor und stellte sich Barn mit erhobener Rechter in den Weg.

"He, Sklave! Hier beginn' die Gemächer der Edlen. Wennde kein' Auftrag hast, haste hier nix zu suchen!" lallte er mit schwerer Zunge.

Barn kniff die Augen zusammen. Wenn die Burschen das Mädel für sich wollten, dann würden sie gegen ihn kämpfen müssen!

Er schloss kurz die Augen und rannte einfach in den Gardisten hinein. Der Mann wurde beiseite geschleudert wie ein lästiges Kleidungsstück. Sein Kamerad mit dem Krug erbleichte unter der bunten Rüstung und blieb zur Sicherheit an die Wand gelehnt.

Der Nordmann lachte grimmig. Ha, war er nicht immer noch ein Kerl, vor dem andere Angst hatten?

Dann fiel ihm etwas auf, und er bremste seinen Lauf so abrupt, dass er fast das Gleichgewicht verloren hätte: Der Gang vor ihm war leer!

Das Mädel war verschwunden.

Allerdings gab es keine zehn Schritte vor ihm in der rechten Wand eine breite Tür, ein Monstrum aus altersgrauem Muggahholz, verziert mit verschlungenen silbernen Beschlägen, die wie verärgerte Lurche aussahen. Nur dort hindurch konnte das Mädel so schnell verschwunden sein! Es wollte die Jagd also auf die Spitze treiben!

Nickend lief er darauf zu und griff nach dem Türknauf.

Der Knauf fühlte sich seltsam weich und feucht an, als wäre er gar kein Metall, sondern tatsächlich das, was er darstellte: Ein Krötenkopf. Barn zog seine Hand hastig zurück. Trotzdem schwang die Tür leise seufzend nach innen.

Eine Menge merkwürdiger Gerüche kamen dem Barbaren entgegengekrochen. Ihm wurde ein bisschen unheimlich.

Doch dann wurden hinter ihm energische Schritte laut. Barn wirbelte herum, nur um sehen zu müssen, wie der Hauptmann Kartong mit seinen zwei Männern um die Ecke des Korridors bog. Eine gewaltige Beule erhöhte dem Offizier die Stirn auf der linken Seite, sein rechtes Auge war blutunterlaufen und die Nase ein dick geschwollener Klumpen. Dieses bereits angeschlagene Gesicht verzog sich beim Anblick des Norländers zu einer solchen Grimasse des Hasses, dass selbst ein Dämon weinend zu seiner Mama geflohen wäre.

"Männer! Da ist der Barbar, der euch die Feier verdirbt!" brüllte Kartong. "Packt ihn und prügelt ihn tüchtig durch! Aber tötet ihn noch nicht! Ein Silberstück für den, der ihm die Nase bricht!"

Barn verbrauchte keine Zeit zum Überlegen. Mit einem schnellen Satz war er durch die Tür gesprungen und hatte sie hinter sich zu getreten.

Was er dann sah, ließ die feinen Haare seines breiten Nackens aufsteigen.

 

*

 

Völlig außer Atem lehnte sich der schwere Würfler Wulf an eine Säule. Sein Herz hämmerte in der Brust, und sein Panzer knarrte bedrohlich über seinem Bauch. Er hatte keine Ahnung, wo er war. Die oberen Geschosse der Königsburg waren ihm unbekannt, als einfacher Wachsoldat hatte er normalerweise nur Zutritt zum Hof und zu den Kellern.

Nach einer Weile bemerkte er, dass nicht nur sein Herz hämmerte. Direkt neben ihm schlug jemand von innen gegen eine schmale Holztür.

Unschlüssig hörte er sich das eine Weile an, dann kam ihm der Gedanke, dass das sehr wohl sein Kumpel Barn sein konnte, der da vom Hauptmann in eine Kammer gesperrt worden war und nun auf irgendeine grässliche Bestrafung durch den grauen Priester Gastridis warten musste.

Er schlug gegen die Tür und rief: "Halt aus, alter Kumpel, ich hol dich 'raus!"

Dann rieb er sich die Nase und wischte sich den Schweiß aus den Brauen, denn er wusste noch nicht so genau, wie er sein Versprechen in die Tat umsetzen sollte. Das Klopfen war indessen drängender geworden und wurde von dünnen, quengelnden Lauten begleitet. Wirklich, sie mussten seinen alten Kumpel übel zugerichtet haben, wenn das seine Stimme sein sollte!

Endlich entschlossen, trat er an die andere Wand zurück und rannte dann brüllend mit der Wucht seiner fast vierhundert Pfund in die Tür. Die Beschläge und Riegel brachen wie Eis im Frühjahr, und der Wachmann fiel mitsamt der Tür in einen kleinen Raum, in dem es schwer nach halbverdautem Wein und ungewaschenem Körper roch.

Mühsam richtete er sich auf. In dem Licht, das vom Gang in die Kammer fiel, sah er ein zerwühltes Bett und ein hohes, schmales Fenster. Aber sonst war der Raum leer. Wulf fuhr sich verwirrt durch seinen schweißverklebten Bart. Er hatte doch ganz deutlich ein Klopfen gehört!

Da kam ein hohles Ächzen unter der Tür hervor, auf der der Würfler immer noch stand, und dem Wachmann wurde unheimlich. Was, wenn er hier einen Dämonen gestört hatte?

"Meine Krone..." stöhnte das Wesen unter der Tür. Und da erkannte Wulf die Stimme, die ihn schon oft mit stundenlangen, wirren Ansprachen vom Goldenen Balkon des Schlosses gelangweilt hatte: Es war die Stimme von König Dullbert.

Nun brach ihm erst recht der Schweiß aus. Er war mit Gewalt in ein Schlafgemach seiner Majestät eingedrungen, und wahrscheinlich hatte er den empfindlichen Monarchen dabei verletzt. Sein Magen verkrampfte sich. Er erinnerte sich noch sehr genau, was letzten Monat mit der süßen kleinen Sklavin passiert war, die das Pech gehabt hatte, einen Spritzer lauwarmen Tees über die Finger der Königs zu schütten.

Sein erster Gedanke galt also der Flucht. Aber dann kam ein so jämmerliches Röcheln unter seinen Füßen hervor, dass sein großes Herz weich wurde. Er durfte den armen Kerl nicht so liegenlassen. Vielleicht konnte er ihn irgendwo hinschleppen, wo er bald gefunden wurde. Danach allerdings würde er die Stadt und das Land schneller verlassen, als ein Würfel brauchte, um von der Hand auf den Tisch zu fallen.

Er trat zurück und hob die niedergebrochene Tür auf, die Zähne verbissen und auf einen unschönen Anblick gefasst.

Das kleine dicke Männlein unter ihm blinzelte. Es sah gar nicht besonders mitgenommen aus, und unschön an ihm war nur seine faltige Nacktheit. Der ballonartige Bauch hatte wohl die Wucht des Aufpralls und das meiste der anschließenden Belastung aufgefangen.

"Endlich, endlich!" quengelte der König und stand stöhnend auf. "Und jetzt schnell, General, bring er mich zu den Gemächern des Priesters Gastridis! Ich habe von Pomander geträumt, und nun soll er mir die Krone finden!"

Der Monarch hob die Arme und sah Wulf erwartungsvoll an.

"Na los, na los!" näselte er nach einer Weile ungeduldig. "Heb er mich hoch und trag er mich! Ich bin immerhin der König!"

Und der Würfler beugte gehorsam das Haupt, hob den König hoch und setzte ihn sich auf die Schultern, wie er ein Kind getragen hätte.

 

*

 

Die beiden Gardisten starrten voll Ekel und Entsetzen auf die zuckenden Massen aus Menschen und Kröten auf dem Marktplatz.

"Lasst uns aus der Stadt verschwinden!" schlug der eine mit erstickter Stimme vor. "Das is' kein Zeichen, das Gutes verheißt."

"Aber was machen wir mit ihr?" Der andere zeigte auf die bewusstlose Königin.

"Mitnehmen und an die Nomaden verkaufen. Sie is' blond, das gibt'n guten Preis. Und mit dem Geld können wir nach Süden ziehen, nach Dungg. Der König dort sucht immer Söldner, und er zahlt gut."

Doch in diesem Augenblick wurden die Beter auf dem Platz auf die beiden Soldaten aufmerksam.

"He, ihr zwei da!" schrie ein großer, fetter Mann mit heiserer Stimme. Er zeigte mit dickem Finger auf die beiden Gardisten. "Warum fleht ihr nicht um Erlösung?"

Weitere Köpfe hoben sich und starrten zur Torstraße.

"Ja, warum fleht ihr nicht?" fragte eine ausgesprochen üppige Frau, die Hände in die Hüften gestemmt. "Warum schlagt ihr nicht eure Stirn auf das Pflaster, wie der Prophet es uns gelehrt hat?" Hinter ihr erhoben sich einige hübsche Jünglinge mit blutigen Stirnen vom Boden und schwenkten drohend die Fäuste.

Der vordere Gardist zog nervös sein Schwert.

"Verdammt, Bürger, geht beiseite! Wir sind in einer Mission des Königs unterwegs!"

"Pah, der König!" höhnte der fette Mann. "Der König! Bald gibt es hier nur noch einen Herren, und das ist der Gott der Lurche!"

"Ja!" stimmte die üppige Frau zu. "Ein kleiner Bratwurstverkäufer ist sein Verkünder! Ich habe ihn selbst gesehen!"

"Betet mit uns, oder seid verdammt!" forderten die Jünglinge mit den blutigen Stirnen. Sie waren unangenehm nahe gekommen, und sie trugen plötzlich Dolche.

"Scheiße!" fluchte der hintere Gardist. "Das ist ein Aufstand!"

In diesem Augenblick erwachte die Königin. Sie sah die Kröten, die Soldaten und die nackten Menschen und sprang auf. Kreischend wie eine von Teufeln verfolgte Seele rannte sie den hellen Lichtern der Straße des Königs entgegen.

 

*

 

Die Gebete der Betrunkenen krochen wie ein warmes Polster in die schlafende Hülle des Lurchgottes. Sie trugen in sich nicht die dauerhafte Flamme wahren Glaubens, sondern nur das Strohfeuer religiöser Ekstase, aber sie vermittelten dem alten Erzlurch ein Gefühl der Stärke, das er lange nicht gekannt hatte.

Mit ungeheurem Gelächter erwachte der Gott.

Die Hysterie der theniler Bürger hatte ihn so unerwartet getroffen, dass er wie ein lang trockener Säufer fast vergiftet wurde von dem starken Trunk, den ihm die Beter boten. Wirr tanzte er durch die Schwaden kosmischen Schlamms, sang alberne Lieder und war kurz davor, sich selbst zu verlieren.

Doch da vernahm der greise Herr der Amphibien unter dem aufdringlichen Geschrei der Menschen auch den melodischen Gesang seines eigenen Volkes, das liebliche Lied der Lurche. Angerührt hielt er inne. Schwellend sog er die Schwingungen der uralten Weise in sich auf.

Eine gewisse erhabene Ruhe fand in seine Seele zurück.

Was brauchte er die launische Anbetung von Menschen, wenn er das Lied der Lurche hatte! Wenn er erst gesiegt hätte, würde er den Sumpf steigen lassen, bis die letzte lächerlich trockene Kreatur darin ersoff, denn dann brauchte er keine Gläubigen mehr, dann waren die Kröten die Herren der Welt!

Die Sterne flackerten, als er sich erhob, und sein dunkler Leib verfinsterte die Konstellationen, während er durch die Leere des äußeren Raumes tauchte, um zu seinem Volk zu gelangen.

 

*

 

Ein fetter, katzenköpfiger Dämon manifestierte sich gerade in den gemeißelten Linien des Hexenzeichens vor dem Gebetsteppich in Gastridis Empfangszimmer, als Flix atemlos eintrat.

"Meister! Der Barbar..." rief sie, dann sah sie den Teufel und verstummte entsetzt.

"Ahhh", hauchte der Dämon mit unirdisch tiefer Stimme. "Priester! Was für eine nette Dreingabe zu den Versprechungen von Blut und Seelen! Welche Schönheit!"

Eine lange, schleimtriefende Zunge schoss aus dem Katzenmaul auf die Sklavin zu, wurde aber von den unsichtbaren Grenzen des Pentagramms aufgehalten. Sogar der Schleim blieb einfach in der Luft kleben und tropfte nach unten, als liefe er von einer Glasscheibe.

Der Dämon zischte wütend und schlug mit einer Pfote gegen seinen Zauberkäfig. Ein grüner Blitz erhellte den Raum. Der Boden bebte. Gastridis keuchte und würgte, dann erwachte er aus der Trance und riss die Augen weit auf.

"Flix, dummes Weib! Verschwinde!" schrie er schrill.

"Aber ich habe den...", stammelte Flix.

Gastridis schüttelte hektisch den Kopf und legte einen Finger vor die grauen Lippen.

Dann schloss er die Augen erneut und ballte eine Faust. "Khazz!" hob sich seine Stimme hohl in den Raum. "Diese Frau ist nicht Bestandteil unseres Handels. Du wirst sie in Ruhe lassen! Bei Flabbergasst, ich beschwöre dich, bleib im Pentagramm und gehorche!"

Gastridis verdrehte seine Fäuste, wie eine Waschfrau ein nasses Tuch wringt.

Als fühle er des Priesters Griff, zuckte Khazz zusammen. "Schon gut, schon gut. Ich gehorche." Er hob abwehrend die Katzenpfoten. "Aber ich werde nicht billig sein. Einen Gott, und sei er auch erloschen, nachzuahmen und öffentlich mit seiner Stimme Opfer zu verlangen, ist eine große Sache. Man kann Ärger kriegen. Da müssen schon ein paar nette Seelen und süßes Blut im Geschäft sein, wenn man so etwas macht..."

In diesem Augenblick öffnete sich die Tür, Barn der Barbar stürmte in den Raum und schloss den Zugang wieder mit einem kräftigen Fußtritt.

Gastridis starrte eine Zeitlang entsetzt auf den halbnackten Hünen mit dem weißen Lendenschurz, dann sprang er auf und brüllte mit einer Lautstärke, die man einem alten Mann von seiner schmächtigen Statur nicht zugetraut hätte.

"Verflucht sei deine dürre Seele, Sklave, dass du es wagst, mich bei der Arbeit zu stören! Zur Strafe wird dieser Dämon..."

Er hielt inne, denn nun hatte er den Norländer erkannt. Seine Stimme sank sofort hinunter in die Tiefen öliger Freundlichkeit.

"Großer Freund!" rief er herzlich und breitete die Arme wie für einen lang verlorenen Sohn. "Hast deinen Weg zurück zu mir gefunden! Wie schön!"

Er klatschte in die Hände.

"Flix, gewiss hat unser Gast hier Lust auf einen Nachschlag unseres besonderen Rotweins! Geh in die Vorratskammer und bring einen neuen Krug für den Helden!"

Flix nickte verschüchtert und verschwand durch eine kleine Seitentür. Der Barbar machte einen zaghaften Schritt in ihre Richtung, blieb dann aber stehen und starrte fasziniert auf die riesige, dicke Miezekatze in der Mitte des Raums. Da war mal was gewesen mit einer riesigen, dicken Miezekatze mit roten Augen, erinnerte er sich. In dieser staubigen, fensterlosen Stadt, in der es kein einziges Gasthaus gegeben hatte.

Auch Gastridis wandte sich wieder dem Dämonen zu.

"Also, Khazz, tue, wie ich es befohlen habe!" sprach er.

"Ich weiß nicht, Priester..." Die Augen des Dämons blitzten rot. Er zeigte mit einer spitzen, blitzenden Kralle auf Barn. "Dieser Barbar da gefällt mir nicht. Mit so einem Burschen wurde mal ein Bruder von mir reingelegt. Wenn meine Belohnung der Geist dieses Mannes sein soll, vergiss es, Priester! Ich kenne den Trick!"

Gastridis rang mit geballten Fäusten um Geduld.

"Khazz", mahnte er leise. "Auch der blonde Mann ist kein Bestandteil unseres Handels! Erfülle also den Vertrag, wie der mit Dämonenblut geschriebene Codex des Vulgar es seit Jahrtausenden verlangt! Quid pro quo!"

Da begann ein wildes Getrommel gegen die Tür, und Hauptmann Kartongs raue Stimme drang durch das dicke Holz: "Meister! Meister! Der Barbar ist entkommen!"

"Ich weiß!" brüllte der Priester unbeherrscht. Auf seinen grauen, eingefallenen Wangen zeigten sich zwei hektisch rote Flecken. "Aber komm nur auch noch rein, mein Lieber!"

Die Tür wurde aufgerissen, und der Hauptmann betrat energisch den Raum. Er schnaubte, als er den Barbaren sah. Aber als er dann hinter dem Norländer die hohe, düstere Gestalt des Dämons erblickte, wurde er blass. Sein Gesicht verzog sich jäh zu einer weinerlichen Grimasse. Er ließ das Schwert fallen, brach in die Knie und heulte wie ein Kleinkind.

"Nein Meister, nein, nicht die schwarze Kröte! Nicht die schwarze Kröte!" schluchzte er.

Gastridis legte eine kleine, blasse Hand vor seine von den Anstrengungen des Tages geröteten Augen. Er atmete hörbar aus. Sicher lagen Großartiges und Lächerliches nahe beieinander, aber warum musste beides sich ausgerechnet jetzt und hier treffen, in seinem Arbeitszimmer?

"Kartong, sei nicht albern und steh auf!" sagte er mit müder Stimme. "Wisch dir das Wasser aus dem Gesicht und stell dich einfach bequem an eine Wand. Ich bin hier gleich fertig."

Immer noch schluchzend, gehorchte der mächtige Hauptmann.

Gastridis nickte und hob wieder die Arme in die Luft, um die Dämonenbeschwörung fortzusetzen. "O Khazz!" intonierte er feierlich. "Geh nun und erscheine über dem Obelisken in der Gestalt eines Lurchs!"

Der Dämon knurrte trotzig. Er schüttelte den Katzenkopf.

"Wie wär's mit einer Anzahlung, Priester? Offensichtlich hast du die Sache hier nicht ganz im Griff. Ich hätte gerne eine Sicherheit, dass ich am Ende nicht mit leeren Klauen dastehe und nur deine alte, faltige Haut zum Spielen bekomme!"

Wieder klopfte jemand an die Tür. "Gastridis! Gastriiidis!" klagte die dünne Stimme König Dullberts von draußen.

Der Priester schlug sich heftig gegen die Stirn.

"Wer hat denn jetzt den noch freigelassen?" stöhnte er.

Nach einer kurzen Zeit des Nachdenkens flötete er dann weich und wohlwollend: "Oh, kommt doch herein, Majestät! Ich bereite gerade einen Zauber für Euch vor, um Euch Jugend und Manneskraft zurückzugeben!"

Vor der Tür erhob sich ein begeistertes Kreischen. "Ah, endlich, mein guter Gastridis! Schnell, General, tragt mich hinein! Oh, ich kann es gar nicht erwarten! Bekomme ich auch meine Krone wieder?"

 

*

 

Pomander schickte seinen Ruf hinab in die Stadt, zu seinem Priester, damit der ihm mit Gebeten die Manifestation im engen Schlund des Bodenlosen Pfuhls erleichtere. Aber er spürte nichts von dem immer leicht widerwilligen Glauben des alten Mannes.

Der Gott war verwirrt.

Dann witterte er plötzlich die Seele des Priesters, und die Schatten seiner Gedanken zogen durch die kalten Nüstern des schwarzen Erzlurchs. Gastridis sprach mit einem kleinen Dämon der zweiten Ebene, und er erwähnte seinen Namen! Das erlaubte dem Erzlurch, die ganze Unterhaltung mitzuhören, auch Worte, die in der Welt des Priesters bereits in der Vergangenheit gesprochen worden waren. Die zuvor gute Laune des uralten Gottes wurde jäh zu kalter Wut.

Der Priester hatte sich von ihm abgewandt! Schlimmer noch, er lachte über ihn, seinen Herren, den er für tot hielt, und plante, sich an seinem Eigentum zu bereichern!

Tobend ballte er sein Selbst, um in seiner grässlichen Eigentlichen Gestalt schwarz und tödlich über der Stadt zu erscheinen und alle in den Sumpf zu reißen, die ihn verlacht und verraten hatten. Aber schon wieder spürte er seine Schwäche, die von den brünstigen Gebeten der Theniler Bürger nur notdürftig unterpolstert wurde, wie heiße Luft einen Popanz schwellen lässt, aber nicht lebendig machen kann.

Er würde wie immer durch den unbequem engen Schlund des Bodenlosen Pfuhls in die Welt steigen müssen, um nicht zu viel der neuen Kraft zu verbrauchen.

Doch dann würde der graue Priester für seinen Verrat bezahlen müssen, wie noch nie ein Mensch hatte zahlen müssen.

 

*

 

Keuchend und bis zu den Lederröckchen mit Krötenblut beschmiert rannten die zwei Gardisten hinter der schreienden Königin her.

Ihnen folgte eine aufgebrachte Menge betrunkener Menschen, die die Missachtung des Gottes der Lurche rächen wollte. Kröten wurden als Wurfgeschosse benutzt und landeten immer wieder mit einem hässlichen Klatschen auf den Panzern der Soldaten. Schuhe und Steine flogen. Wüstes Geschrei hallte von den prunkvollen Fassaden der Höflingshäuser in der Straße der Könige wider.

"Nieder mit der Garde! Nieder mit dem König! Es lebe der Herr der Lurche!" brüllte der Pöbel, dem sich mit jedem Schritt neue Betrunkene anschlossen.

Vor den Soldaten hoben sich die dreiunddreißig schlanken Türme der Königsburg im Licht des Mondes.

"Wir schaffen es!" keuchte der vordere Gardist.

"Ja", stimmte der hintere zu. "Aber kriegen die andern noch das Tor zu?"

"Wahrscheinlich machen sie es schon zu, wenn nur die Königin durch ist."

"Scheiße!"

Beide Gardisten begannen noch schneller zu laufen, bis sie Clandine eingeholt hatten. Die Königin war völlig außer sich. Sie weinte, lachte und fluchte im Laufen, und das alles im ordinären Dialekt der Garstek, der selbst alten Seebären die Schamröte ins Gesicht treiben kann.

Dann schlugen die Soldatenstiefel und die nackten Füße der Königin auf das hohltönende Pflaster der Bogenbrücke vor der Burg. Generationen von Künstlern hatten die Pfeiler mit den in Marmor gehauenen Ebenbildern der jeweils regierenden Monarchen in ihren kühnsten Posen gekrönt. So flankierte eine kleine Armee von furchterregenden Majestäten den Aufgang zum Schloss und schreckte manchen Bittsteller schon im Voraus ab.

Der berühmte Oksymoron Elster hatte sich bereiterklärt, auch eine Statue von König Dullbert für die Brücke herzustellen, doch das Projekt war ins Stocken geraten. Vier weise Männer und drei Helden arbeiteten seit mittlerweile fünf Jahren an einer Pose, in der der kleine Monarch kühn wirkte.

Aber nicht einmal ein solches Standbild hätte den wütenden Mob abschrecken können, der jetzt mit tausend Stimmen brüllend hinter den Soldaten auf die Brücke quoll.

 

Sechs Männer in den bunten Panzern der Garde standen mit gezogenen Schwertern nebeneinander im hochzeitlich geschmückten Bogen des Schlosstors. Sie wirkten äußerst beunruhigt.

"He, he, was soll das?" brüllte ein Gardist mit dem gelbroten Helmbusch eines Feldwebels nervös den drei Läufern entgegen. "Was ist denn da los? Kommen die Barbaren zurück?"

"Ein Aufstand, Meister Jobbo!" rief der vordere Soldat atemlos, als er das Tor erreicht hatte.

"Jawoll, Meister Jobbo!" bekräftigte der hintere Soldat keuchend. "Wir bringen die Königin! Aber das besoffene Volk will sie dem Lurchgott opfern!"

Die Königin fluchte nur.

Ein erster Stein flog und schlug eine weißrote Blumengirlande aus der Tordekoration. Sie torkelte hinab und schlängelte sich elegant um den Hals des Feldwebels. Weitere Geschosse prasselten gegen die Statuen und auf das Pflaster. Dann wurden auch Kröten geschleudert. Brüllend und Fäuste schwenkend stürmte das Volk heran.

Der Feldwebel stand eine lange Zeit und starrte auf das Meer der heranwogenden roten Köpfe. Doch endlich begriff er.

"Verdammt! Macht das Tor zu!" schrie er mit überschlagender Stimme. "Wachen! Besetzt die Türme!"

Ächzend mühten sich die Gardisten mit den mächtigen, eisenbeschlagenen Torflügeln, die seit langem nicht mehr bewegt worden waren. Von hinten rannten weitere Soldaten herbei, um ihnen zu helfen.

Aber der Mob war schnell. Unter dem Hagel der Steine gingen drei Gardisten zu Boden. Dann waren die ersten Aufständischen da, eine Horde von jungen Männern mit Eisenstangen. Sie griffen wild heulend an.

Doch in ihrer Trunkenheit droschen sie zunächst nur auf die Standbilder der alten Könige ein, von deren protzigen Posen sie sich provoziert fühlten. Marmorne Nasen und Ohren brachen ab und zersplitterten auf dem Pflaster, begleitet von triumphierendem Geschrei.

Als die Schläger endlich ihren Irrtum bemerkten, war es den Gardisten schon gelungen, das Tor zu schließen.

Während wütende Fäuste von außen gegen das Holz zu trommeln begannen, schoben die schwitzenden Soldaten die schenkeldicken Eisenstangen der Riegel in ihre Fassungen.

"Schnell, holt den Hauptmann her!" wies der Feldwebel seine Soldaten an. "Und den Bader für die Verwundeten! Bereitet in den Türmen kochendes Öl vor! Und ihr zwei", er wandte sich den beiden Gardisten zu, die die Königin in ihre Mitte genommen hatten und die tobende Frau festhielten. "Ihr bringt diese Furie zum Priester Gastridis. Der will irgendetwas von ihr."

10.

Im Gemach des Priesters vernahm der Dämon Khazz die Laute mit seinen übermenschlichen Sinnen als erster, aber er sagte nichts, denn sie sagten ihm nichts. Dann drangen sie auch an die scharfen Ohren des Barbaren. Barn war jedoch abgelenkt, denn die schöne Flix war mit einem großen Weinkrug in den Raum zurückgekehrt.

Doch bald waren die Geräusche so laut, dass alle im Raum sie hören konnten: Ein langsames Knarren und Gurgeln, das durch einen scharlachrot verhängten Türbogen im Hintergrund drang. Es klang dumpf und hallend, als käme es aus Gewölben tief unter der Erde.

Gastridis wurde bleich: Das konnte nur der düstere Gesang der Buckelkröten sein, denn hinter dem scharlachroten Vorhang führten die sechsundsechzig feuchten Stufen hinab zum schwarzen Schlund des Bodenlosen Pfuhls. Und die Buckelkröten sangen nie - es sei denn, sie erwarteten ihren Herren Pomander.

Dann kam das andere Geräusch, das er niemals wieder zu hören erwartet hatte und das ihn nun mit einer Angst erfüllte, die er selbst als Knabe am Vortag des kultgemäßen Zufeilens seiner Zähne nicht empfunden hatte: Das grässlich schlürfende Wispern, das dem Auftauchen des Erzlurchs immer voranging, kroch die Stufen hinauf wie ein giftiger Wurm.

"Khazz!" rief Gastridis schrill. "Ich widerrufe meinen Befehl! Erscheine nicht über dem Obelisken und sprich nicht mit der donnernden Stimme eines Gottes! Nimm vielmehr mich und meinen Leib und trage beides weit weg von hier, und zwar schnell!"

Khazz kniff ein blutrot leuchtendes Auge zu und studierte mit dem anderen die fingerlangen Krallen an seiner rechten Pfote. Dann kratzte er sich damit lässig hinter beiden Ohren, so dass kleine grüne Funken aus seinem Fell stoben.

"Du bist ein Wirrkopf, Priester", meinte er schließlich gelangweilt. "Dieses ganze Durcheinander macht mich noch völlig hysterisch."

"Bitte!" flehte der graue Mann, während es hinter dem roten Vorhang immer lauter blies und blubberte. "Bring mich irgendwohin! Ich verspreche dir auch, dass ich... einen... einen Khazz-Kult gründen werde, Menschen finde, die dich anbeten, so dass du ein Gott werden kannst..."

"GLAUBE DEM GRAUEN VERRÄTER KEIN WORT, KLEINER KATER!" dröhnte da eine Götterstimme von tief unten. Der rote Vorhang wurde von der Wucht der Worte beiseite geweht. Ein ekler Gestank faulen Sternschlamms und unsauberer Amphibie stieg dem Satz hinterher wie eine Horde schlagfester Jünger einem erleuchtet faselnden Wanderprediger. "WIE ALLE STERBLICHEN BELÜGT UND BETRÜGT ER SEINE HERREN, WO ER KANN!"

Khazz erstarrte. Eine dicke Wolke absoluter Schwärze quoll aus dem schmalen Türbogen und formte einen phallischen Zylinder, der mächtig in den Raum ragte. Tausende bleich leuchtender Augen tanzten in seiner Tiefe. Es war wieder einmal die ‘Legendär Lange Liebeslanze des Lustvollen Lurchs’.

Die entnervte Flix stieß einen hellen Schrei aus und ließ den Weinkrug fallen. Er zerplatzte auf den Granitplatten des Fußbodens. Sein dunkler Inhalt fraß sich zischend in die Fugen. Barn sah den Verlust mit Bedauern.

"GASTRIDIS, DU WIDERLICHE KREATUR!" donnerte der alte Erzlurch. "DEINE STRAFE WIRD SCHLIMMER SEIN, ALS SELBST ICH SIE MIR ZURZEIT VORSTELLEN KANN!"

Neben dem Barbaren sank der Hauptmann Kartong in die Knie. Die Erscheinung des Gottes war zu viel für ihn. Er hob die haarigen Hände zur Decke.

"O Schwarze Kröte!" jammerte er. "Nimm die Strafe von mir! Ich wollte Frida nicht wirklich erschlagen! Ich war nur einen kleinen Augenblick lang wütend auf ihn! Es ist doch seine Schuld, dass sein Schädel so weich ist!"

Aber Pomander interessierte sich überhaupt nicht für den hilflos heulenden Hauptmann. Seine tausend leuchtenden Augen konzentrierten sich auf den Priester.

"Ich kann alles erklären... Herr!" Gastridis war inzwischen an die Wand zurückgewichen und drückte sich langsam rückwärts Richtung Tür, wo König Dullbert mit glücklich glänzenden Knopfäugleín in die Runde blinzelte und seinen kleinen erotischen Phantasien nachhing.

Da klopfte wieder einmal jemand von außen an die Tür.

"Priester Gastridis, Herr! Die Königin... wünscht zu Euch zu kommen..." rief der erste Gardist durch das dicke Muggahholz. Die Tür wurde geöffnet. Eine Frau fluchte, ein Mann keuchte vor Schmerzen. Ein Soldat der Garde schob mit verzerrtem Gesicht die wild um sich schlagende Clandine in den Raum. Hinter ihm krümmte sich sein Kamerad wie ein Haken auf dem Fußboden.

Der König drehte sich überrascht um. "Hasilein!" quiekte er, als er seine Gattin erkannte. "Das bist ja du! Hast du auch die Krone mitgebracht?"

Clandine stieß eine Menge schmutziger Wörter aus und riss sich von dem Gardisten los, um den König anzugreifen. Dann erstarrte sie, denn in diesem Augenblick sprang eine fette Buckelkröte unter dem schwarzen Leib des Pomander hervor und vor ihre Füße.

Gastridis versuchte das Durcheinander zu nutzen. Er begann zu laufen und hätte die Tür wohl auch erreicht, wenn nicht der König in seinen Weg getreten wäre und ihn am Arm gehalten hätte.

"Gastridis, mein Guter!" näselte der Monarch. "Die Königin ist da, und ich wünsche mich mit ihr zu vergnügen! Wann geht es denn mit deinem Zauber los?"

Der Priester schüttelte den König hastig ab und wollte weiter. Doch es war zu spät. Ein schleimsprühender Tentakel schoss aus der Manifestation des Gottes und wickelte sich um den grauen Mann. Gastridis begann zu schreien.

Eine zweite Kröte hopste in den Raum.

Der kreischende Priester fiel zu Boden und wurde langsam zum Türbogen hin gezogen. Dabei geriet sein zappelnder Körper in das Liniengewirr des Pentagramms. Khazz der Dämon erwachte mit einem scharfen Zischen aus seiner Starre und packte Gastridis an einem dürren, haarigen Bein, das aus der Mäuselederkutte herausragte. Dann begann er seinerseits zu ziehen. Die Schreie des grauen Mannes wurden noch lauter und schriller.

Pomanders tausend Augen blitzten zornig. Fünf weitere heilige Buckelkröten sprangen durch die wolkige Schwärze seines Leibes vor die Füße der Königin.

"WAS SOLL DAS, KLEINER KATER?" gurgelte der Gottlurch erbost. "DIESER MENSCH GEHÖRT MIR!"

"Ich habe ebenfalls eine Rechnung mit dem Mann!" zischte Khazz.

"ABER ICH BIN EIN GOTT!" donnerte der Lurchschwanz und schwoll, bis es den gesamten hinteren Bereich des Raumes ausfüllte.

"Du bist ein alter und schwacher Gott, Krötenkopf!" höhnte der Dämon und wuchs ebenfalls, bis die Büschel seiner Ohrenspitzen die hohe Decke berührten. "Wir wollen doch mal sehen, was passiert, wenn du dich mit mir anlegst!"

Dann begannen die beiden Unsterblichen am Priester Gastridis zu ziehen wie zwei Kleinkinder an einer Puppe.

 

"Hauptmann! Hauptmann! Ist der Hauptmann hier?" Das narbige Gesicht des Feldwebels Jobbo blickte in den Raum. "Das Volk rebelliert! Sie wollen..." Der Unteroffizier stockte, als er den König entdeckte. "Majestät!" begann er von neuem. "Herrscher! Ihr müsst vom Goldenen Balkon zu den Massen sprechen..." Dann wurde er bleich und verstummte, denn er hatte gesehen, was in dem großen Raum noch alles vorging.

 

Der Gott Pomander spürte, wie der Zweikampf mit dem Dämon an seinen Kräften saugte. Bald würde er so schwach sein, dass sein Halt in der Dimension unsicher wurde. Daher zwang er sich, die Zunge vom Priester zu lösen, obwohl die schlammige Tiefe seines Lurch-Unterbewusstseins bei dieser Kapitulation vor Wut Blasen schlug.

"HU, KLEINER KATER, DANN BRING DIESEN TROCKENEN BALG HALT DEINER VERWURMTEN SIPPSCHAFT ZUM SPIELEN MIT!" stieß er mühsam hervor. "ER BEDEUTET MIR ZU WENIG, UM MICH SEINETWEGEN MIT UNWÜRDIGEN KREATUREN WIE DIR ZU STREITEN!"

Mit einem eleganten Schwung, der sich wie zufällig zu dem uralten Zeichen einer derben vormenschlichen Beleidigung katzenähnlicher Dämonen formte, zog Pomander die Zunge zurück in seinen Leib. Später, wenn er der größte Gott von allen war, würde er sich noch besser an diesem blöden Kater zweiter Ordnung zu rächen wissen!

Denn er wusste längst, dass sein Gefäß, die Königin, im Raum war, und dass sich auch der Begatter, der dumpfe, große Krieger aus dem Norden, hier aufhielt. Sollte der kleine Kater doch die Seele des Priesters erst einmal mitnehmen und tüchtig beuteln, er hatte sich jetzt um wichtigere Dinge zu kümmern!

Während Khazz ein steinerschütterndes Gelächter in den Raum sandte und seine jammernde Beute triumphierend schüttelte, befahl der Gott den treuen Buckelkröten, die Königin festzuhalten. Dann sandte er seine Zunge aufs Neue aus.

Sie packte den Barbaren am linken Knöchel.

 

Barn schrie auf, denn Pomanders Zunge war eiskalt. Wütend knurrend blickte er sich nach dem Besitzer dieser üblen Fußfessel um und wurde zum ersten Mal auf die gewaltige Gestalt des Gottes aufmerksam. Sie gefiel ihm gar nicht. Mit einem unangenehmen Kribbeln richteten sich die feinen Haare seines breiten Nackens auf. Eine große, dicke Miezekatze, die sprechen und blitzen konnte, das war eine Sache, aber das riesige Ding hier, das war schwärzeste Zauberei, und die mochte der geradlinige Kämpfer aus dem Norland noch weniger als angebrannte Erbsensuppe.

Er bückte sich und packte die Zunge mit beiden Händen, um ihn von seinem Knöchel zu reißen. Aber genauso hätte er versuchen können, einen Strahl eisigen Wassers zu verprügeln. Die kräftigen Finger fuhren durch die schwarze Schlinge hindurch und quetschten am Ende nur den eigenen Fuß.

Doch als der Gott nun zu ziehen begann, hatte die scheinbar substanzlose Zunge genug Kraft, um den fluchenden Nordmann von den Beinen zu reißen.

 

König Dullbert klatschte begeistert, als er sah, wie der große, muskulöse Mann langsam zur schwarzen Wolke gezerrt wurde. Er drehte sich um und stieß Wulf mit spitzem Ellenbogen gegen den Bauchpanzer.

"Hihi, General, da, das ist der Körper, den ich haben werde, wenn mein guter Gastridis mit dem Zauber fertig ist!" rief er schrill. "Ein riesiger Krieger werde ich sein, und mein Liebesknüppel so lang und dick wie jetzt mein Oberschenkel!"

Der Würfler hörte die Worte des Monarchen kaum. Er blickte starr auf das unglaubliche Geschehen vor sich. Bäche von Schweiß rannen unter der Helmkappe hervor und liefen durch das Gewirr seiner Brauen in die Augen, unhaltbar für die verzweifelt reibenden Finger.

Irgendwie war sein Kumpel Barn hier wieder in Schwierigkeiten geraten, die das Begreifen eines simplen Würfelspielers weit überstiegen! Er hatte keine Ahnung, ob er die üble schwarze Wolke gleich angreifen oder lieber warten sollte, bis die ganze Sache etwas verständlicher wurde - oder ob es am Ende nicht doch das Beste war, die Stadt auf dem schnellsten Wege zu verlassen.

Doch da gellte schon die aufgeregte Stimme des Königs durch seine Gedanken. Der nackte Monarch tanzte auf einem Bein und zeigte aufgeregt auf den um sich schlagenden Barn. Sein Kopf unter dem wirren weißen Haar war fast so dunkelrot wie eine überreife Sauerkirsche: "General! Generaaal! Ruf die Wachen! Ich habe ihn erkannt! Das ist der Barbar, der meine Krone gestohlen hat! Wachen! Waaachen! Meine Krone!"

Und bevor Wulf auch nur zwinkern konnte, stürmte der kleine König mit zornverzerrtem Gesicht auf die schwarze Wolke zu.

 

Pomander ließ den hornigen Stachel ganz langsam aus dem Leib der tausend Augen gleiten, während seine Zunge den strampelnden Barbaren heranholte. Den köstlichen letzten Moment vor dem Übergang in diesen neuen Körper wollte er voll und ganz genießen.

Gleich würde er die schwarze Spitze in den Nacken des Mannes bohren und in dessen Verstand hineinsickern. Dann würde er einen Körper haben, der fester und kräftiger war als alles, was er in den letzten zehn Ewigkeiten besessen hatte.

Als Krönung würde er sich die blonde Frau nehmen, und - die leere Hülle des dann nutzlosen Barbaren zurücklassend - als Leibesfrucht in ihren Schoß kriechen, um dadurch der mächtigste Gott des Universums zu werden. Schon im Mutterleib würde seine Herrschaft beginnen!

Er hob den Stachel in einem Bogen über seinen Rumpf und zeigte einen der so symbolreichen wie unverständlichen kleinen Tänze, die er mit dem Alter so liebgewonnen hatte. Dann ließ er die schleimtriefende harte Spitze zitternd wie den Giftdorn eines stoßbereiten Skorpions über dem Nacken des Barbaren erstarren.

Der bemühte sich immer noch vergeblich, mit seinen dummen sterblichen Fingern die göttliche Greifzunge abzustreifen.

Menschen waren solche Narren! Der alte Erzlurch erlaubte sich ein gemeines Grinsen, das allerdings niemand im Raum als solches erkennen konnte.

Dann ließ er die Spitze hinabschießen.

 

"Du übler Barbarenbengel! Wo hast du meine schöne Krone hingeschleppt?" schrie König Dullbert, als er sich mit der Gewalt eines im Streit zwischen Haremsdamen geschleuderten Samtkissens auf den Barbaren warf. Seine Fäuste trommelten auf die breiten Schultern des völlig überraschten Nordmannes. Dabei rief der Monarch unentwegt nach dem Beistand der Wachen und des Priesters Gastridis.

Doch dann traf ihn etwas Spitzes und Kaltes wie der Dolch eines Meuchlers im Nacken. Er erstarrte. Ein kühles Gefühl sickerte ihm ins Hirn. Plötzlich war seine Wut wie weggespült. Sein Kopf füllte sich mit unglaublichen Farben, düster im Ton, aber erhaben in der Ausstrahlung. Und er begann zu schweben, wurde hingezogen zu einem Wirbel hoch im Himmel, der strahlte wie ein herbstlicher Sonnenuntergang über nebliger See. Ein behäbiges, fast freundliches Gluckern begrüßte ihn, als er in die abendliche Kühle des Himmelstunnels tauchte. Immer schneller flog er dahin, wirbelnd zwischen den blitzenden Wänden. Das gluckernde Geräusch wurde lauter und hastiger, bis es fast ein bisschen unheimlich wirkte. Der Monarch versuchte, die Augen zu schließen. Er war ein wenig überrascht, als er feststellen musste, dass das nicht ging, dass er sogar nicht einmal sicher war, überhaupt Augen zu haben. Er versuchte, nach der Wache zu rufen. Auch das klappte nicht.

Das Gurgeln war jetzt tief und erschreckend wie ein verwunschenes Sumpfloch um Mitternacht. Die strahlenden Farben der Tunnelwände wurden trübe. Kälte kroch heran.

Dann streifte ihn etwas.

Für einen kurzen, beunruhigenden Moment sah Dullbert eine ungeheure Wolke faulfarbener Finsternis unter sich vorbeiziehen, doch genauso schnell wurde alles wieder klar. Die Wände des Tunnels fanden zurück zu ihrem freundlichen, sauberen Spätherbst-Licht.

Schließlich spürte der König, dass sein Flug endete. Ihm schien, als lande er in einem Bett aus kühlem, dunkelgoldenem Honig. Weich und fest wurde er eingehüllt und gehalten.

Dann stand er wieder im Saal und sah die Menschen darin. Aber alles war anders als zuvor. Er blickte auf die Szene von hoch oben - obwohl er auch knapp über dem Boden sehen konnte, dort, wo der zuckende Leib eines kugelbäuchigen, dürren Greises sich über dem Körper eines mächtigen Kriegers wie unter grässlichen Schmerzen aufbäumte.

Diese Wahrnehmungen waren ungeheuerlich, wilder als in jedem Weinrausch, den er je erlebt hatte. Überall hatte er Augen! Er sah und fühlte und schmeckte die Welt auf eine völlig neue Weise, hatte Eindrücke, die von ganz anderen Sinnen zu stammen schienen, als er sie bisher gehabt hatte. Er war ein Riese an Kräften und Fähigkeiten, ja, er, König Dullbert von Thenil, war ein Gott!

Er brüllte seinen Triumph hinaus in den Raum.

"HA! GASTRIDIS, MEIN GUTER! DEIN ZAUBER IST BESSER ALS JEDE KRONE DIESER WELT!" dröhnte die Stimme des Pomander. "UND WAS BRAUCHE ICH NOCH EINE ALBERNE KINDISCHE KÖNIGIN, WO ICH JETZT ALLE FRAUEN DER WELT SCHMECKEN UND FÜHLEN KANN? ICH WERDE NUN FLIEGEN UND JEDE EINZELNE BESUCHEN!"

Mit einem trockenen Knall verpuffte der schwarzwolkige Leib des Gottes und war verschwunden. Viele junge Mädchen klagten am nächsten Tag über unangenehm zudringliche Träume in der zweiten Hälfte der Nacht, die aber alle mit dem Sonnenaufgang endeten und auch nie mehr wiederkehrten.

 

Der kleine dicke König Dullbert begann in einer schrillen Schärfe zu schreien, die kaum zu seinem weichen Leib passen wollte.

Er schien auch ausgesprochen unzufrieden mit diesem Leib zu sein, denn er fasste sich mit spitzen Fingern ins Gesicht und zerrte an den faltigen, weißfleischigen Wülsten der Brust und des Bauches, als wolle er sie abreißen. Tatsächlich begann unter seinen Fingern sogar Blut zu spritzen.

Dabei fluchte er so lästerlich, als habe er seine Schlaffheit nicht selbst durch Jahrzehnte der Völlerei und Faulheit herbeigeführt, sondern sei völlig unvorbereitet in diesen schwachen Körper geraten.

 

Die sieben heiligen Buckelkröten, die sich auf Pomanders Befehl im engen Kreis um die nackten Füße der Königin geschart hatten, begannen plötzlich zu verrotten. Rasend schnell zerfielen sie, als habe ein Zauber sie am Leben erhalten, und als sei dessen Kraft jetzt jäh erloschen. Bald waren sie nur noch sieben fettige Häufchen grauer Asche.

Clandine schien es in diesem Augenblick, als tauche sie aus trübem Wasser plötzlich wieder auf. Ein Druck war aus ihrem Kopf verschwunden. Es war wie das Erwachen aus einem tiefen, schmerzhaften Alptraum.

Für einen Moment wusste sie gar nichts und war fast glücklich. Dann kam die Erinnerung zurück.

Sie sah den König auf dem Barbaren kauern, daneben eine riesige Katze, die den Priester Gastridis wie ein lebloses Vögelchen zwischen den Klauen hielt. Auf der anderen Seite lag die dunkelhäutige Dienerin des Priesters bewusstlos in einer Pfütze Rotwein, und hinter ihr kniete der riesige Hauptmann der königlichen Garde weinend auf dem Boden und betete lautstark zu einem Gott, den er 'Die Große Böse Schwarze Kröte' nannte.

Clandine begann hysterisch zu lachen, bis ihr ganzer Körper schmerzte.

"König? Königin? Hauptmann? Haben hier alle den Verstand verloren?" rief eine heisere Stimme. Clandine beendete das freudlose Gelächter abrupt und drehte sich um. Das magere, narbige Gesicht eines älteren Mannes mit Haaren von der Farbe nassen Sands blickte in den Raum.

"Bitte?" fragte Clandine irritiert.

"Ich bin Feldwebel Jobbo, Majestät Frau Königin! Es ist Nacht, alle sind betrunken, das Volk tobt vor dem Tor; und ich weiß nicht mehr, was ich den Männern sagen soll!"

Die junge Garstek starrte eine lange Zeit in das verschreckte Pferdegesicht des Feldwebels.

"Nun, ich..." begann sie schließlich. Dann wurde ihre Stimme schrill. "Nimm alle hier fest und wirf sie in die tiefsten Kerker unter dem Schloss! Den König auch, er ist wahnsinnig geworden und weiß nicht mehr, was er tut! Sieh selbst!"

In der Tat war König Dullbert gerade damit beschäftigt, sich die wenigen Haare vom Kopf zu reißen und sie aufzufressen.

"Sehr wohl, Königin! Ich höre und gehe Verstärkung holen!" rief Feldwebel Jobbo entsetzt und verschwand. Das eilige Klatschen seiner Sandalen auf dem Marmorboden des Korridors entfernte sich schnell.

Clandine geriet in noch größere Wut. Aggressiv sah sie sich nach weiteren Gegnern um, die sie nicht ernst nehmen wollten.

Doch niemand im Raum stand - außer dem Dämon Khazz, der schwarz und bedrohlich bis unter die Decke ragte, mit einem Leib, der dicker war als das größte Weinfass in König Dullberts Kellern, und dessen riesige Augen leuchteten wie brennende Teller voll Blut.

Normalerweise hätte die junge Frau bei diesem Anblick die Flucht ergriffen, doch seit ein paar Stunden war für sie nichts mehr normal. Sie hatte in dieser Hochzeitsnacht in mehr und tiefere Abgründe blicken müssen als in ihrem ganzen bisherigen Leben. Und so erregte die schwarze, aufgequollene Katzengestalt nur noch ihren Zorn.

"Verschwinde von hier, du schwarze Missgeburt!" kreischte sie. "Pack' diesen perversen Priester und schlepp' ihn in den dumpfen Sumpf, aus dem du selber kommst!"

In ihrem Zorn trat sie gefährlich nahe an die gravierten Linien des Hexenzeichens heran.

"Sonst wirst du mir wohl einen Tritt versetzen mit deinen zarten Zehen, kleines Mädchen, wie?" höhnte Khazz. "Komm doch näher und versuche es!"

Clandine ballte die Fäuste und spuckte in das Pentagramm.

"Keiner nennt mich mehr kleines Mädchen!" schrie sie mit überschlagender Stimme, denn der raffinierte Dämon hatte zielsicher ihre empfindliche Stelle getroffen. "Ab heute bin ich hier die Königin, und ich werde es bleiben, auch wenn ich alle Schwachköpfe in diesem Reich selbst erwürgen muss! Und mit dir werde ich anfangen!"

Wie der finstere Khazz es geplant hatte, stürmte die junge Frau mit verzerrtem Gesicht auf ihn zu, direkt in die Mitte des Pentagramms. Ein langer, haariger Arm schoss auf Clandine herab. Krallen von der Farbe geronnenen Blutes zerrissen ihr Kleid, schlossen sich um ihre Taille und hoben sie hoch.

"Na, das ist doch was anderes als ein grauer Priester!" dröhnte der Dämon. "Eine junge, saftige Königin! Und blond ist sie auch noch!"

Zum zweiten Mal erfüllte Khazz' gemeines Gelächter den Raum, dass er Putz von der Decke rieselte.

11.

Barn der Barbar presste aus den dunkelsten Winkeln seiner muskelstrotzenden Bauchhöhlen ein Grollen hervor. Ihm war eiskalt, er hatte Hunger, er hatte Durst, er hatte kein Bett und kein Mädel, ein kleiner Mann hüpfte auf ihm herum - und nun war da auch noch dieses fürchterliche Lachen, das in seinem angeschlagenen Schädel schlimmer schmerzte als ein fauler Zahn!

Das war selbst für einen Krieger zu viel, der seit frühester Jugend unter den unmenschlichen Bedingungen des eisbedeckten Hochnorlandes überleben gelernt hatte.

Bei Gruunz, nun würde er sich so heftig beschweren gehen, dass diese alberne Stadt noch in zehn Jahren davon reden würde!

Brüllend schüttelte Barn die kreischende Figur von seinem breiten Rücken, stemmte sich vom Boden hoch und sprang mit geballten Fäusten in das Gelächter hinein.

Die helle Glut seiner Wut erfuhr eine jähe Abkühlung.

Es war ihm, als sei er in den halbgefrorenen Kadaver eines lange toten Erdbären geprallt. Das schwarze Fell war steif und kalt wie Raureif unter seinen Fingern. Der Barbar hob den Kopf und blickte in zwei riesige rote Augen, die über ihm schwelten wie die Tore der Hölle. Und er sah die gewaltigen schwefelgelben Reißzähne, die darunter grässlich grinsten.

“Harr-Harr-Harr-Harr!” dröhnte der Dämon. Schwaden stinkenden Atems wurden dem Barbaren ins Gesicht geblasen. “Habe ich hier am Ende auch noch einen Helden? Einen Retter junger Fräulein und alter Priester in Bedrängnis?”

Khazz hob seine beiden Arme. In seiner rechten Klaue zuckte Gastridis nur noch schwach, während in der Linken Clandine wild zappelte wie ein frischgefangener Lachs im Griff eines Bären.

Barn stutzte einen Augenblick. Dann grunzte er. Kannte er dieses Mädel nicht? War das nicht die kleine Blonde, die nach dem ganzen Ärger in Barts Herberge mit ihm zur 'Turmschenke' von Vollbert dem Höker ziehen wollte, um dort tüchtig Spaß zu haben?

Seine linke Hand fuhr an die Seite, wo sie den Schwertgriff nicht fand. Sein Gesicht verzog sich zu einer Grimasse urtümlicher Wut. Dieser fette Trunkenbold im Katzenkostüm würde schon sehen, was er davon hatte, sein Mädel zu befummeln!

Wie ein Schmiedehammer schoss die geballte Rechte des Barbaren hoch zu dem schwarzbepelzten Kinn. Sie traf. Etwas knirschte. Barns Hand wurde taub. Des Dämons Gelächter schnitt wie ein glutheißes Messer in seine Ohren.

"Oh, das kitzelt, mein Held, das kitzelt!"

Mit verbissenen Zähnen trat der Barbar einen Schritt zurück. Dann ließ er seine linke Faust gegen den geblähten Wanst des Katers fliegen. Es dröhnte hohl wie ein leeres Fass. Der Dämon wankte ein wenig.

"Körperlich bist du ja fast umwerfend!" kalauerte Khazz. "Aber wir wollen mal sehen, wie dir etwas geistliches schmeckt, mein Held!"

Er schwang Gastridis wie eine Keule und drosch ihn dem Mann aus dem Norden mit Wucht in die Seite. Barn grunzte nur und schmetterte sein rechtes Knie zwischen die Beine des Dämons, wo ein mächtiges, schwarzledriges Geschlechtsteil provozierend baumelte. Khazz stieß ein schrilles Geschrei aus, und sein breites Grinsen verließ das Katergesicht so schnell wie falsche Freunde einen Bankrotteur.

Die ganze Gestalt des Dämons veränderte sich innerhalb weniger Augenblicke auf erschreckende Weise. Khazz schrumpfte. Die üppige Beleibtheit des menschenähnlichen Körpers schmolz. Die bizarr geschwollenen Wölbungen ungeheurer Muskeln traten darunter hervor. Die Krallen jeder Pranke wuchsen zu einer einzigen, sichelartigen Klaue von einem Fuß Länge zusammen. Auch der Schädel wurde lang und schmal wie ein Schwert aus schwarzen Knochen.

Barn wich einen Schritt zurück. Der Kerl da hatte ein entschieden seltsames Kostüm! Die feinen Härchen im breiten Nacken des Barbaren stellten sich furchtsam auf, ein Zeichen dafür, dass es hier ihrer Meinung nach nicht mit rechten Dingen zuging.

Langsam ließ der Dämon Gastridis und die Königin zu Boden gleiten. Dann beugte er sich vor, so dass seine Knochennase fast die Nase Barns berührte. Brennende rote Augen bohrten sich Dolchen gleich in die blauen Augen des Barbaren.

"Wir können das Spiel natürlich auch zu einem schnellen Ende bringen, Held! Schnell wird allerdings nur das sein, was ich tue; du selbst - das heißt, was dann von deinem Selbst noch übrig ist - wirst noch eine Ewigkeit Zeit haben, zu bedauern, mir je begegnet zu sein..."

Tödlich und schnell wie ein Blitz schwang der Dämon eine der Sichelklauen gegen Barns Beine, und nur die schier übermenschliche Reaktionsfähigkeit des Barbaren rettete den Mann aus dem Norden vor der Verstümmelung. Er sprang zurück, und die Klaue grub nur eine fingerlange Furche in seinen linken Oberschenkel. Aber dafür war er in schmerzendes grünes Feuer geraten, das sich in seinen Rücken fraß wie ein brennendes Bett aus Nesseln. Entsetzt ließ er sich nach vorne fallen. Das Gelächter des Dämons donnerte über ihm.

"Ja, Held, du bist schnell - aber du bist jetzt auch genauso in den Wänden des Pentagramms gefangen wie ich", erklärte Khazz höhnisch. "Und es gibt für dich nur zwei Wege hinaus: als totes Fleisch - oder als meine Beute."

Was Khazz nicht verriet, war der dritte Weg: dass er den Kampf verlor. Das war freilich auch eine sehr unwahrscheinliche Möglichkeit, schließlich war er ein vier Meter großer Dämon und sein Gegner nur ein halbnackter, unbewaffneter Rüpel aus dem Norden.

"Steh auf, Held... ich will ein paar deiner Muskeln abschneiden... sie sind überflüssig dort, wo du hinkommen wirst..."

Doch mit solchem Geschwätz konnte man den Nordmann nicht entmutigen, er stand schon längst wieder, die kräftigen Finger zu todbringenden Klauen verkrampft. Alle Verwirrung war von ihm abgefallen, ihn regierte nur noch der eiskalte, hirnlose Instinkt des geborenen Kriegers. Mit der Wucht eines Schleudersteins stürmte brüllend auf den schwarzen Teufel zu.

Etwas Gewaltiges rammte Barn mitten im Lauf und schleuderte ihn beiseite. Ein zweites Mal fiel der Barbar in die Wand aus ätzendem Nesselfeuer. Er grunzte schmerzerfüllt, als er von der Gewalt des grünen Feuers wieder nach vorne auf den Steinboden geworfen wurde.

Dann blickte er auf. Über ihm stand neben dem Dämon nun ein zweiter gewaltiger Schatten. Barn blinzelte und brummte und rief krächzend: "He, ich werd' verrückt, wenn das nich' Wulf is', mein alter Kumpel Wulf!"

 

Tatsächlich hatte sich der Wachmann Wulf endlich dazu entschlossen, seinem alten Kumpel Barn zu Hilfe zu eilen. Durchnässt vom Angstschweiß, aber mit hocherhobenem Kurzschwert, war er als lebender Rammbock mitten ins Pentagramm gerannt und hatte sich zwischen seinen waffenlosen Freund und den Dämon geworfen.

Mit aller Kraft seines gewaltigen Körpers ließ er seine Klinge nun auf den überraschten Khazz niedergehen. Bei dieser Anstrengung zerriss einer der angestrengten Riemen seiner Panzerung und schoss wie ein fallender Stern durch die Luft. Ganz zufällig traf er den betenden und heulenden Hauptmann Kartong in der Mitte der Stirn und schickte ihn bewusstlos zu Boden.

Wulfs schweres Schwert traf den Dämon ebenfalls in der Mitte des Schädels und spaltete ihn bis tief hinunter zwischen die Schultern. Die zwei Gesichtshälften klappten auseinander wie ein halbierter Apfel. Doch traumschnell hoben sie sich auch wieder, fanden zueinander und verwuchsen, ohne dass eine Spur des fürchterlichen Hiebes zurückblieb - gleich den Fluten eines Flusses, die hinter einer trennenden Insel wieder zusammenfinden. Und das Gelächter des Teufels erschütterte einmal mehr das Schloss König Dullberts.

Wulf starrte auf sein Schwert, das wie der Korken aus einer geschüttelten Flasche Schaumwein aus Khazz' zusammenwachsendem Brustfleisch gedrückt wurde. Das war Betrug, ein magisch gezinktes Spiel, ganz gewiss, damit kannte er sich aus!

Triumphierend kreuzte der Dämon die beiden Armspitzen über dem wiederhergestellten Kopf.

"Mein Dicker! Hast du wirklich erwartet, mich mit deinem schlechtgeschmiedeten Schwert töten zu können?"

Wulf blinzelte. Er hatte keine Ahnung, was er eigentlich erwartet hatte, aber was passiert war, gefiel ihm überhaupt nicht. Der Schweiß lief ihm in breiten Bächen über die Stirn, blendend in die Augen und salzig in den Mund. Er musste husten und schüttelte sich, dass sein ganzer Oberkörper in Bewegung geriet. Ein Regen dicker Tropfen sprühte aus seinem durchtränkten Bart und seinen nassen Brauen.

Ganz plötzlich verstummte das Gelächter vor ihm.

Und dann erhob sich ein so schrilles und erbärmliches Maunzen, als würde eine ganze Hundertschaft halbwüchsiger Kätzchen in einem Fluss ertränkt. Nur die dickborstigen Haare in Wulfs Ohren verhinderten, dass der Wachmann taub wurde.

Vor ihm wand sich Khazz wie unter unerträglichen Schmerzen.

"Nass! Nass! Ich bin überall nass!" kreischte der Katzendämon in höchster Hysterie. Wieder veränderte er seine Gestalt, diesmal wandelte er sich zu einer dickpfotigen, lächerlich tanzenden schwarzen Hauskatze von der Größe eines Rindviehs. "Nass! Nass!" jammerte die Riesenkatze und versuchte, alle vier Beine gleichzeitig trocken zu schütteln und dabei noch den Schwanz zu wringen. Denn so wie Khazz' Äußeres eine Erweiterung und Vergrößerung des Äußeren der Katze an sich war, so war auch sein inneres Wesen eine Verstärkung und Überhöhung der grundlegenden Wesenszüge der felis catus, als da wären: Grausamkeit, Faulheit und eine psychopathische Abneigung gegen Wasser im Fell.

Der panisch umherpeitschende Katzenschwanz fegte den am ganzen Leib zitternden Wachmann von den Beinen. Wuchtig fiel er auf den Hintern. Der harte Sturz ließ die Brustplatte seines Panzers endgültig abplatzen. Mit der Geschwindigkeit eines stürzenden Sterns prallte das geprägte und bemalte Hartleder in die Seite des kreischenden Khazz und drosch ihn in die grünflammende magische Wand des Pentagramms. Das war zu viel, selbst für einen Dämonen zweiter Ordnung. Khazz stieß einen irrwitzigen Schrei aus und verpuffte mitsamt der magischen Wand in einem grellgrünen Blitz.

Dann war Stille im Arbeitszimmer des Gastridis.

12.

Die Stille wurde nach einer Weile vom harten Platschen von Soldatensandalen gestört. Schwerbewaffnet stürmten fünf Männer der königlichen Garde in den Raum, gefolgt von dem nervös blickenden Feldwebel Jobbo. Wie sie es beim Drill auf dem Schlosshof gelernt hatten, bildeten die Soldaten hastig einen Kreis um ihren Vorgesetzen und schützen ihn mit gehobenen Schilden und Lanzen.

Der Feldwebel spähte sehr vorsichtig zwischen den gepanzerten Schultern seiner Männer hindurch. Aber als er auch nach längerer genauer Prüfung der Lage nichts Bedrohliches entdecken konnte, hob er entwarnend die Hand.

"In Ordnung, Männer. Lasst mich durch."

Als erstes trat Jobbo zu dem benommen dasitzenden Wulf.

"Soldat Wulf, steh' sofort auf und nimm Haltung an! Was, bei Tviiseth, ist hier passiert?"

Schwerfällig erhob sich der Würfler und salutierte. Dann kratzte er sich nervös den Bart. Seine kleine rosa Zunge fuhr wie ein eifriges Tier über seine Lippen. “Also, hm, Feldwebel, erst war da der König... dann kam ich mit... un' die Katze un' die Wolke ham gekämpft... außerdem musste ich doch meinem alten Kumpel helfen!”

Der Feldwebel nickte und stieß scharf die Luft aus. Dann wandte er sich den beiden ehemaligen Trägern und Begleitern der Königin zu, die neben der Eingangstür kauerten und außer dem Boden nichts mehr ansehen wollten. "Habt ihr irgendetwas hinzuzufügen zu Wulfs Geschichte?"

Die zwei Gardisten schüttelten matt die Köpfe.

“Is schon irgenwie so, Chef...” murmelte der eine.

Jobbo rieb sich das Kinn. Er hatte schon viele Hochzeitsfeste auf Schloss Thenil mitgemacht und dabei Unglaubliches erlebt, aber der Zustand dieses Raumes schlug alles. Es stank gleichzeitig nach billigem Rotwein mit Schlafmittel, Katzenpisse, frittierten Fröschen, Blut und Schweiß. Der Priester, seine Leibsklavin und der Hauptmann Kartong lagen verrenkt und bewusstlos am Boden, König Dullbert kauerte nackt in einem Eck; und auf einem Teppich kniete die Königin und rieb sich mit geballten Fäusten das bleiche Gesicht. Das billige, verdreckte Hemd, das sie trug, war aufgerissen und zeigte weit mehr, als einem Feldwebel zu sehen erlaubt war.

Und dann erhob sich hinter dem Unteroffizier noch Barn der Barbar. Der riesige Krieger aus dem Norland streckte den muskulösen Körper wie ein aus dem Winterschlaf erwachender Bär und machte auch ähnliche Geräusche. Jobbo zog sein Schwert.

"Leg' dich wieder hin, Sklave, und nimm' die Hände über den Kopf!" befahl er dem verständnislos blinzelnden Barbaren. "Hier rührt sich keiner ohne meine Anordnung!"

Der große blonde Mann mit dem Sklavenschurz gefiel dem Unteroffizier überhaupt nicht. Als erfahrener Soldat erkannte er die Narben auf der bulligen Brust und den dicken Armen des Hünen als das, was sie waren: Unauslöschliche Male zahlloser siegreicher Kämpfe. Und die konnte ein Diener des königlichen Hofes einfach nicht haben, auch wenn Jobbo wusste, dass die Sitten in den Sklavenquartieren alles andere als zart waren.

Jobbo wurde von diesen Überlegungen allerdings schnell abgelenkt, denn neben ihm fand Königin Clandine mit einem saftigen Fluch in die reale Welt zurück und entdeckte ihn.

"Was ist los, Soldat?" schrie sie. "Ich sehe keine Ketten! Ich habe doch befohlen, alle hier festzunehmen!"

Jobbo hob abwehrend die Hände.

"Aber Majestät, ihr... ihr seid... ich darf... ich meine, immerhin habe ich einen Treueeid auf den König abgelegt..." stotterte er, während er vor den blitzenden Mandelaugen der jungen Frau zurückwich, “Ich kann nicht einfach..."

"Hast Du vielleicht Probleme, weil ich eine Frau bin?" fragte Clandine mit einem süßen Mädchenlächeln und einer Stimme, die lauerte wie ein sprungbereites Raubtier.

Der Feldwebel schnitt mehrere ausweichende Grimassen, die seinem alten Gesicht alle nicht sehr gut taten. Schweiß erschien auf seiner Stirn.

"Nun, meine Königin... ich... es geht hier ja um sehr wichtige Dinge... militärische... politische... das ist nicht wie in der Küche oder beim Kinderkriegen... da kann man nicht einfach so..."

Das Tier in der Stimme der Königin sprang dem Unteroffizier direkt ins Gesicht. Clandines Geschrei gellte so schrill, dass es unverständlich war. All ihre zuvor sprachlose Wut über eine Kindheit und Jugend in der gewalttätigen Gesellschaft der Garstek, über das Elend einer lieblosen Verheiratung und die schreckliche Hochzeitsnacht, über Misthaufen und Krötenkot begann sich auf dem behelmten Haupt des Feldwebels zu entladen. Der gelbrote Helmbusch des Unteroffiziers zitterte unter der Gewalt der wüsten Worte. Da stürmte ein Gardist in den Raum.

"Feldwebel! Feldwebel!" rief der junge Soldat mit vor Aufregung hochrotem Kopf. "Die Aufständischen steigen sich schon auf die Schultern, um zum Goldenen Balkon zu kommen! Wir brauchen jeden Mann, um sie zurückzustoßen!"

Als alter Gardist ließ sich der Feldwebel nicht anmerken, wie froh er über die Gelegenheit zur Flucht war. Mit der Erfahrung aus hunderten von Kneipenschlägereien tauchte er blitzschnell unter den Flüchen der Königin durch und eilte zur Tür.

"Um Vergebung, Majestät, dass ich mich nicht länger mit Euch unterhalten kann... die Pflicht ruft!" rief er im Laufen. "Alle Männer mir nach! Nur der Wulf soll beim Hauptmann bleiben und warten, bis er aufwacht!"

“Feldwebel!!!” brüllte die Königin. Jobbo erstarrte im Schritt. Langsam drehte er sein müdes, narbiges Gesicht Clandine zu. “Majestät?”

“Ich bin noch nicht fertig, Feldwebel!”

Jobbo holte tief Luft. “Majestät, ich habe meine Pflicht zu erfüllen. Ich muss den Balkon verteidigen. Wenn der König den Pöbel nicht beruhigen kann und das Volk ins Schloss eindringt, ist auch Euer Leben in Gefahr.”

Clandine blickte den Feldwebel mit geballten Fäusten an. Sie atmete schwer. Ihre Brüste hoben und senkten sich unter dem zerrissenen Waschfrauenhemd in einem Rhythmus, den selbst ein alter Unteroffizier schwer zu ignorieren fand.

“Es ist bestimmt besser, wenn ich zum Volk spreche”, sagte sie. “Der König wirkt nämlich alles andere als beruhigend.”

Jobbo presste die Lippen fest aufeinander und nickte. “Wie Ihr wünscht, Königin. Ich werde aber Seine Majestät ebenfalls zum Balkon begleiten lassen. Und der Lurchpriester sollte auch nicht fehlen - schließlich wirft der Pöbel mit seinen Kröten.”

 

Der Priester und der König mussten von den Gardisten gestützt werden, doch die Königin verließ mit hoch erhobenem Kopf den Raum.

Zurück blieben der verwirrte Barn, sein alter Kumpel Wulf, der bewusstlose Kartong und die schlafende Sklavin Flix.

Der Feldwebel hatte dem Würfler eingeschärft, so lange über den Hauptmann zu wachen, bis dieser erwachte. Außerdem sollte er - Wulf - ein Auge auf den riesigen blonden Sklaven werfen und dafür sorgen, dass der nicht den Raum verließ, bevor er - der Feldwebel - zurückkehrte, um ihn - den riesigen blonden Sklaven - zu befragen.

Wulf hatte zu allem träge genickt, es sofort vergessen und schließlich, als alle gegangen waren, seine Würfel hervorgeholt und sie Barn hingehalten.

“N' Spielchen, alter Kumpel?”

Doch der Barbar hatte mit dem untrüglichen Instinkt des geborenen Schwerenöters gerade wieder einmal das gebräunte Mädel mit den schwarzen Haaren entdeckt und hörte die Frage des Würflers nicht mehr.

"Ho, Mädel, da bist du ja auch!" rief er begeistert und lief zu der Bewusstlosen in ihrer Weinpfütze. Flix erwachte, klappte die Lider hoch und erkannte den Nordmann. Mit einem entsetzten Schrei sprang sie auf die Füße.

Wulf schüttelte den schweren Kopf. Er zog seit langem die Launen der Würfel den Launen der Frauen vor. Aber wenn sein Kumpel nicht würfeln wollte, war das in Ordnung. Dann würde er eben ein Schläfchen machen. Verdient hatte er es sowieso nach diesem irrwitzigen Tag.

Während der Wachmann sich gähnend auf den grauen Fliesen ausstreckte, machte sein Kumpel ein paar hüftschwingende Tanzschritte auf die Sklavin zu, die langsam an die Wand zurückwich.

"Hoho, hab' ich dich doch noch gefunden, Mädel!" Barn grinste breit und ließ seine himmelblauen Augen verführerisch zwinkern. "Komm', lass' uns zu Vollbert gehen un' Spaß ham!"

"Sicher, Barbar. Spaß", hauchte Flix. Sie ließ ihre kleine rosa Zunge über die dunklen Lippen gleiten. "Aber wilde Nächte können kalt werden. Du solltest dir unbedingt etwas überziehen, wenn du noch raus willst!"

Sie wirbelte herum, riss einen Teppich von der Wand und warf ihn Barn ins Gesicht. Und während der Nordmann noch fluchend mit dem Webwerk rang, verschwand sie hinter einer kleinen Tür, die sie von innen verriegelte.

13.

Vor dem Schlosstor brüllte das Volk. Von oben, vom Goldenen Balkon, wirkte es, als woge über Brücke und Schlossplatz ein nächtliches, sturmgepeitschtes Meer, das wütend gegen die Mauern brandete. Die Gardisten auf dem Balkon hatten ihre Schilde hoch erhoben gegen den harten Regen aus Geschossen, der ihnen von unten entgegengeschleudert wurde. Ledersandalen, Weinbeutel und Zahnprothesen flogen mit der Wucht von Steinen; dicke Kröten platzten wie Bomben auf den Helmen der Soldaten. Kaltes Blut und stinkende Eingeweide ergossen sich über die Männer der Wache und machten den vergoldeten Boden des Balkons schlüpfrig für die Gardisten, die verzweifelt versuchten, Kletterer vom Geländer zu stoßen.

Der Feldwebel erstarrte vor Entsetzen, als er der ganzen Wut des Aufstandes jetzt zum ersten Mal gegenüberstand. Das hier war unendlich viel schlimmer als die Schlägereien zwischen Markthändlern oder Tempeltänzerinnen, mit denen er sonst zu tun hatte. Zitternd hob er die Hände, um den Gardisten hinter sich den Halt zu befehlen.

"Männer!" rief er. "Bringt die Königin, den König und den Priester zurück in ihre Gemächer! Hier helfen Worte nichts mehr!"

Doch die Königin erzwang sich ihren Weg nach vorne.

"Aus dem Weg, du Soldat!" herrschte sie den Feldwebel an und drückte ihn mit erstaunlicher Kraft beiseite. "Ich will zum Volk sprechen."

Zwischen allem Gewirr aus Schilden, Soldaten und Geschossen stieg Clandine auf die Brüstung und hob die Arme. Der Mond ließ ihr zerrissenes weißes Waschfrauenkleid hell leuchten und betonte die edle Blässe ihrer Haut. Das blonde Haar flatterte wie ein Friedensbanner im sanften Nachtwind. Alles war sehr beeindruckend.

Trotzdem war es wohl nur einer Laune des allmächtigen Audor zuzuschreiben, dass schon nach wenigen Herzschlägen der Geschosshagel versiegte und die Menge abwartend verstummte.

 

"Wer's 'n das?" fragte ein alter, einäugiger Mützenverkäufer aus Brack und zeigte auf die helle Gestalt oben auf dem Balkon.

"Kein Schimmer!" antwortete sein Nebenmann, ein junger Gehilfe aus Fifis Schlachterladen. "Aber klasse Titten hattse!" Er kicherte pubertär.

"Seid ihr blöd?" mischte sich ein Dritter ein, der, wenn er nicht gerade in wütenden Mobs mitlief, der königliche Bibliothekar war. "Das ist doch unsere Fürstin, die neue Königin, deren Hochzeit wir heute feiern!"

"Ach?" machte der Mützenverkäufer. "Na dann: Hoch lebe die Königin!"

Er rief es dreimal und schwenkte dabei sein bestes Stück, eine fünfzig Jahre alte Wollkappe, mit der er seinerzeit in Ybris die Meisterprüfung als Mützenmacher bestanden hatte. Die Menschen um ihn sahen ihn mit gerunzelten Stirnen an, aber an anderer Stelle wurde sein Ruf aufgenommen. Der vertraute Anblick einer kleinen, wild gestikulierenden Gestalt auf dem Goldenen Balkon des königlichen Schlosses brachte viele Bürger mit der Macht der Gewohnheit zurück zu alten Verhaltensweisen.

Bald ließ das halbe Volk die Königin hochleben.

Die andere Hälfte der Menge ballte jedoch die Fäuste fester und fletschte die Zähne heftiger angesichts solcher Abtrünnigkeit; die warme Kraft des Weines in ihren Mägen war weiterhin bereit, an die Herrlichkeit des Herren der Lurche zu glauben und ihn notfalls mit Gewalt auf den Thron zu setzen.

Aber bevor es auf dem Platz zu neuen Ausschreitungen kommen konnte, senkte Clandine ihre Arme und öffnete den Mund. Die Rufer verstummten.

"Menschen von Thenil!" begann die Königin. "Ich weiß nicht, was euch hierhergetrieben hat, aber ich weiß, dass ihr unzufrieden sein müsst! Euer König ist ein saftloser, struppiger kleiner Greis! Ich habe ihn heute zum ersten Mal gesehen und bin entsetzt! Ich kann mir vorstellen, wie es euch geht, die ihr ihn seit drei mal zehn Jahren kennt!"

Die Menge murmelte.

"Doch eure Götter haben euer Flehen gehört, euer Elend hat ein Ende! Der König ist in den Wahnsinn geflohen, und alles wird gut werden: ab nun werde ich regieren! Ich, die Königin von Thenil!"

Dramatisch stieß Clandine die geballte Faust in den Nachthimmel.

Die Menge murmelte sehr laut.

"He, Feldwebel!" rief Clandine nach hinten. "Bring' mir Dullbert und den grauen Priester!"

 

*

 

"Mädel! Ho, Mädel!" rief Barn und drosch mit wilden Fäusten auf die schmale Tür ein, hinter der sich Flix in Sicherheit gebracht hatte. Doch die dicken Planken aus Muggahholz hätten selbst einem wütenden Mamon widerstanden, und so bekam der liebeshungrige Barbar für seine Mühe nicht mehr als blutige Knöchel.

"Gruunzverflucht!" rief er laut und trat mit voller Wucht gegen die Tür. "Verdammte saublöde Mädelspiele!"

"Kumpel, mach' nich' so'n Lärm un' lass' mich schlafen..." brummte Wulf. Dann sanken die schweren Lider dem erschöpften Wachmann trotzdem schneller über die Augen als ein Spieler Karten aus dem Ärmel ziehen kann. Und bald bildete sein kraftvolles Schnarchen einen deutlichen Kontrapunkt unter dem Trommeln und Fluchen des Mannes aus dem eisigen Norden.

Doch der Lärm weckte jemand anders.

Hauptmann Kartong öffnete ein blutunterlaufenes Auge und blinzelte in den Raum.

"Wassnlos?" nuschelte er schwach. Dann entdeckte er den Barbaren.

"Du! Du!" brüllte der Hauptmann. Er sprang auf und deutete mit einem dicken Zeigefinger wie mit einem wurfbereiten Speer auf Barn. "Du bist der, den die böse schwarze Kröte will! Ich werde dich töten und zerschneiden und ihr dein Fleisch opfern, dann wird sie verschwinden und mich in Ruhe lassen!"

Mit der Kraft des Irrsinns warf sich Kartong auf den verdutzten Barn. In einem wilden Knäuel aus dicken Armen und Beinen gingen die beiden riesigen Männer zu Boden.

 

*

 

Auf dem Goldenen Balkon schlug Clandine dem von zwei Gardisten gestützten König Dullbert so fest vor die schmale Brust, dass er husten musste. Merkwürdige, schwarzschillernde Substanz quoll wie Qualm aus seinem Mund.

Die Königin beachtete das nicht weiter.

"Volk von Thenil!" rief sie. "Dieser Mann, den ihr euren König nennen müsst, hat euch all die Jahre seiner Herrschaft betrogen! Er ist es, der keine Erben haben kann, und nicht die Frauen, die dafür sterben mussten! Nun ist er auch noch wahnsinnig geworden: Seht seinen blutigen Kopf! Er hat sich alle Haare ausgerissen und sie gegessen, als wären sie Krautsalat in Rotweinessig! Bei den wilden, tapferen Kriegern, von denen ich stamme, würde ein Führer, der so etwas tut, auf einen Felsen gespießt, gepfählt, von Pferden zerrissen, erwürgt, erschlagen und verbrannt und seine Asche in die vier Winde gestreut! Und danach würde er gnadenlos getötet!"

Das Volk brummte Zustimmung. Wenn es schon keinen Wein mehr gab, sollte man wenigstens rotes Blut fließen lassen.

Die Königin erlaubte sich ein kleines Lächeln.

"Soldaten! Hebt den König auf das Geländer, damit das Volk ihn sieht und sein Urteil bilden kann!"

Die Gardisten gehorchten und stellten die schlaffe Gestalt Dullberts auf das breite Sims, das den Balkon umgab. Das Volk brummte abfällig, als es den nackten Monarchen erblickte. Buhrufe wurden laut.

Doch dann bahnte sich eine kleine Prozession, angeführt von einer üppigen nackten Frau, einen Weg durch die Menge. Hinter der Frau trugen sechs Jünglinge auf breiten Schultern eine Bahre, auf der ein Stück Straße lag - und der kleine Bratwurstverkäufer, der immer noch die Stirn auf die Pflastersteine schlug und um Vergebung flehte. Hinter den Trägern gingen zwölf weitere Gläubige, die Steine in den Händen trugen und sie rhythmisch gegen die Köpfe schmetterten. Dazu seufzten sie dumpf den Namen Pomanders.

Unter dem Balkon blieb der Zug stehen.

"Hu, Volk von Thenil!" kreischte die üppige Frau, während sie sich den Menschen auf dem Schlossplatz mit ausgebreiteten Armen zuwandte. "Hört nicht auf diese kleine, dahergelaufene Schlampe aus der Wildnis, peinliches Zeichen der greisenhaften Geilheit unseres senilen Monarchen! Hört auf mich, denn ich habe die Wahrheit geschaut und bin als die Stimme der Wahrheit wiedergeboren worden! Und die Wahrheit sagt: Er ist unser neuer Führer!" Sie zeigte mit einem dick lackierten Fingernagel auf den hämmernden Wurstverkäufer. "Er und sein Leiden sind Verkünder eines neuen Zeitalters! Er ist der Prophet Pomanders, des wahren Gottes, dessen Reich kommen wird in Ewigkeit, hu! Er wird herrschen über Stadt und Land Thenil, und ich werde seine Stimme sein und in Palästen wohnen und von euch mit Geldgeschenken gnädig gestimmt werden, hu! Hu! Hu! Pomander!"

Die Menge blickte verwirrt zwischen der üppigen Frau und der Königin hin und her und kratzte sich die Köpfe. Das ergab ein phantastisches Geräusch.

Oben auf dem Goldenen Balkon des Schlosses stieß Königin Clandine ein böses Lachen aus.

"Pomander!" höhnte sie. Sie zerrte den schwankenden Gastridis zu sich auf das Balkongeländer und zeigte ihn dem Volk. "Seht diesen Mann! Ihr kennt ihn alle! Er ist Gastridis, Hohepriester des Pomander!"

Die Menge erstarrte für einen Herzschlag in Ehrfurcht.

"Gastridis, der Hohepriester des Pomander!" murmelte sie tausendstimmig.

 

*

 

Mit einem kräftigen Stoß des rechten Knies zwischen die Beine des Hauptmanns gelang es Barn, sich aus der mörderischen Umarmung Kartongs zu lösen. Schwer atmend sprang der Barbar zurück und erwartete mit verkrampften Fäusten den nächsten Angriff. Seit er das Haus seines Vaters, des bärenstarken und cholerischen Dorfschmieds von Täppenwinkel im Hochnorland, verlassen hatte, war er nicht mehr so gepackt worden.

Mit einem Gesicht, das erschreckender war als Khazz' schlimmste Fratze, stürmte der Hauptmann wieder auf Barn zu. Die Wucht des Aufpralls schleuderte die vereinigten fünfhundert Pfund Kartongs und des Nordmannes quer durch den Raum. Barns breiter Rücken krachte in den Türrahmen, hinter dem die sechsundsechzig feuchten Stufen hinab zum Altar des Pomander und dem Bodenlosen Pfuhl führten. Barn keuchte. Rote Sterne des Schmerzes rieselten durch seinen Blick.

"Ha!" kreischte Kartong schrill. "Ich werde dich hinunter zur Schwarzen Kröte prügeln; und dort wirst du ersaufen!"

Der Hauptmann rammte den kahlen Schädel wuchtig in Barns Magen. Dem Barbaren wurde aller Atem aus der Brust gedrückt. Er krümmte sich. Kartong drosch ihm beide Fäuste unter das Kinn. Ein strahlend heller Schmerz raste durch den Körper des Barbaren, und er glaubte, in der Ferne Gesang zu hören. Seine Knie wurden schwach, er sank zur Seite. Er wollte sich am scharlachroten Vorhang festhalten, doch seine Finger hatten keine Kraft mehr. Ein weiterer Faustschlag traf seinen Bauch. Barn kippte nach hinten, in den dunklen Gang. Sein Hinterkopf schlug auf der harten Kante der obersten Stufe auf.

Er überschlug sich und rollte die Treppe hinab in eine kalte, schwarze und feuchte Nacht, die dazu noch nach Fisch stank.

 

*

 

Oben auf dem Balkon schüttelte die junge Königin den Priester Gastridis, wie die Ernter von Koosnüssen im südlichen Rumballah zur Erntezeit die Koosnußbäume schütteln: Sehr heftig.

"Priester!" schrie sie. "Sag den Leuten, dass dein Gott tot ist!"

Gastridis klapperte mit den bleichen Augenlidern wie die Porzellanpuppe eines Bauchredners, als er leise, aber dennoch unüberhörbar bestätigte: "Ja. Pomander ist tot!"

Die Menge brüllte auf wie eine ganze Herde tödlich getroffener Löffen. Denn wenn im Alltag auch keiner mehr an den albernen Erzlurch geglaubt hatte, so war er für die Theniler dennoch so etwas wie ein weit entfernter Erbonkel gewesen, an den man sich in Zeiten höchster Not gern erinnerte.

Doch da schnitt eine hohe, schrille Stimme einer Sense gleich durch das Geschrei.

"Ich bin nicht tot!" schrie König Dullbert. "Ich bin hier! Ich bin Pomander!"

Wirbelnder Qualm, schwärzer und schrecklicher als jede Nacht, stieg aus den Nasenlöchern und Ohren des kleinen Monarchen und sickerte wie Schleim von seinen dünnen Lippen. Er formte sich zur Maske eines Lurchkopfes über dem Kopf des Königs und sandte den Gestank von Fäulnis und Verfall aus Abgründen jenseits der Sterne in den unschuldigen Nachthimmel. Blitze zuckten. Geisterchöre erfüllten die Luft mit ihrem unheiligem Gesang. Kröten quakten. Viehtreiber verloren den Verstand. Der Körper Dullberts schwankte und zitterte unter den Gewalten, die entfesselt wurden.

"Betet mich an!" brüllte die Erscheinung mit fürchterlicher Stimme. "Gebt mir die Kraft, mich aus dieser unwürdigen Hülle zu befreien!"

Das Volk murmelte lauter und unentschlossener als je zuvor.

"Ja, wir werden dich anbeten, Meister!" kreischte die üppige Frau von unten. "Und wie wir dich anbeten werden!" Sie sank mit solcher Inbrunst in die Knie, dass mehrere pubertierende Knaben in der Menge bei diesem Anblick in Ohnmacht fielen.

Ihr Gefolge warf sich ebenfalls betend zu Boden - auch die Jünglinge, die den Bratwurstverkäufer getragen hatten. Der arme Mann wurde samt seiner Pflastersteine durch die Luft geschleudert und landete durch einen außerordentlich boshaften Zufall direkt auf den großen Füßen seines Gläubigers, des Fleischermeisters Fifi.

14.

Die Königin fühlte die Lage entgleiten. Alles um sie schien ins Bodenlose abzurutschen, wie bei dem Sturz in die Kloake. Die Kröten aus ihren Träumen waren zurück. Pomander, dessen grässlicher Leib sich vor ihren Augen aufgelöst hatte, stand wieder neben ihr.

Der Sumpfgestank bohrte sich in ihren Kopf wie eine Made in einen Pfirsich. Ihr wurde schwindelig. Tausende weitaufgerissener Fressen fletschten ihr mondweiß von unten entgegen, obwohl ihr nicht mehr so klar war, wo das war, dieses 'unten'. Sie taumelte. Alles drehte sich und verlor seinen Bezug zu der Welt, die sie zu kennen geglaubt hatte. Schwarze, wurmige Wolken flogen kichernd durch ihre Augen. Eine ungeheure Stimme dröhnte glockengleich in ihrem Geist. Gelächter schnitt schrill in ihr Hirn. Kälte hüllte sie ein.

"WEIB! DU BIST EIN KIND DER NACHT DES SCHWARZEN LURCHES, UND DAHER GEHÖRST DU MIR!" höhnte es in ihr. "EINE UNGEHEURE EHRE WIRD DIR ZUTEIL: DU WIRST MICH SELBST ALS DEINEN SOHN IN DEINEM LEIB TRAGEN! HÖRE: ICH WERDE DICH BESITZEN! ICH WERDE DICH FÜLLEN! ICH WERDE DICH SPRENGEN!"

Clandine sah die weißen Arme des Königs aus der Schwärze schießen und fühlte die Finger wie ein Band aus Hühnerknochen um ihren Hals liegen. Die kalte schwarze Wolke begann sie zu umfließen und beleckte sie mit tausend geilen Zungen.

Dann wurde sie plötzlich zurückgestoßen. Das wutverzerrte Gesicht des grauen Priesters leuchtete für einen Augenblick über ihr, als der kleine Mann vorwärtstaumelte und seine kultgemäß spitz zugefeilten Zähne in das bleiche Fleisch des Königs schlug. Ein grauenvoller, gänzlich unmenschlicher und sehr lauter Schrei gellte über den Schlossplatz und hallte zitternd von den zahlreichen Türmen des Schlosses und der Stadt wieder.

Clandine verlor das Gleichgewicht, fiel nach hinten und schlug mit dem Hinterkopf auf dem schmutzigen Goldboden des Balkons auf. Das machte sie sehr müde, sie schloss die Augen.

 

Die Lurchmaske über dem Kopf des Königs zuckte und wogte wie eine Wolke von Kaulquappen vor dem Maul eines hungrigen Hechtes. Die dünnen Arme des Monarchen ruderten unsicher durch die Luft, um den Angriff des Priesters abzuwehren.

"Lass mich endlich in Ruhe!" kreischte Gastridis, während er nach seinem Herrscher spuckte und trat. "Gott oder König, ganz gleich, du wirst mein Leben nicht weiter ruinieren! Ich habe Ruhe verdient!"

Für einen Augenblick sah man unter dem unsicheren Licht der Mondsichel die beiden alten Männer auf der Brüstung miteinander ringen. Dann waren sie plötzlich verschwunden.

 

Mit einem dumpfen Laut schlugen König und Priester mitten in der heftig betenden Gruppe der 'Verkünder des Propheten von Pomander' auf. Zwei Betern wurden Rippen und Arme gebrochen, andere verloren Zähne und Büschel des Haupthaars. Eine junge Fußwascherin aus der Straße der Tempel erhielt einen Schock fürs Leben und wurde wunderlich. Ihr sozialer Aufstieg war daraufhin unabwendbar, sie starb nach einem langen, erfüllten Leben als Künstlerfreundin und allseits beliebte Gattin des bedeutendsten Käseimporteurs von Brack.

Zwischen den Gläubigen stieg ein Rauchfaden auf, dünn und zuckend wie über einem Rübenfeuer im Novemberregen. Und er stank auch in etwa so.

"BETET! BETET!" flehte eine schwache Götterstimme aus dem Rauch. "DIESER KÖRPER STIRBT, UND ICH BRAUCHE ALLE KRAFT, UM IHN VERLASSEN ZU KÖNNEN."

Doch die selbsternannten Verkünder des Pomander liefen angesichts der Erscheinung ihres Herren voll Panik auseinander. Sogar die üppige Frau brachte sich mit einem schrillen Schrei in Sicherheit.

Das ganze Volk geriet in Aufregung, als die vorderen Reihen zurückdrängten, um mehr Distanz zwischen sich und die übernatürliche Erscheinung zu bringen, und die hinteren Reihen nach vorne wollten, um besser sehen zu können. Dutzende von Menschen wurden über das Geländer der Schlossbrücke gedrängt und stürzten in die riesigen Misthaufen der königlichen Kanalisation. Ihre Flüche stiegen schrill wie die Schreie verdammter Seelen in den Himmel und machten die Stimmung vor dem Schloss noch bedrückender.

In dem freigewordenen Fleck auf dem Schlossplatz blieben nur der König und der Priester zurück. Sie lagen zuckend ineinander verkrampft wie zwei halbtote Straßenkater in einem Hinterhof. Immer noch schlug Gastridis mit schwachen Fäusten auf Dullbert ein.

Der dünne Rauchfaden tanzte über ihnen und jammerte leise.

 

*

 

Der schmerzhafte Sturz des Barbaren fand ein jähes Ende an einem dicken Block aus Granit. Stöhnend stemmte der Nordmann sich hoch. Was er sah, gefiel ihm gar nicht. Sein Nackenhaar sträubte sich wieder einmal, denn das leichenbleiche Licht, das die niedrige Grotte um ihn erhellte, war ganz sicher nicht von dieser Welt.

Und auch alles andere in der feuchten Höhle war geeignet, einem in den engen, von albernem Aberglauben erfüllten Hütten des Hochnorlandes aufgewachsenen Barbaren Furcht einzuflößen. Ein mit den Bildern grässlicher Scheusale geschmückter Altarstein ragte wie der Zahn einer gigantischen Bestie aus einem Nebel, der wie ein lebendes Wesen über den Boden kroch. Und hinter dem Altar lagen die schorfigen Ufer eines Tümpels voll träge schwappender schwarzer Flüssigkeit. Barn grunzte angeekelt. Wie eine Wunde im Leib der Erde wirkte dieser unheilige Teich, eine Wunde, die geschlagen worden war, um schnatternden, hirnlosen Dingen aus anderen Dimensionen einen Weg zu bereiten.

Natürlich waren die Empfindungen des Barbaren lange nicht so ausformuliert wie die obigen Sätze, aber Barn fühlte sich wirklich sehr unwohl, als er den Bodenlosen Pfuhl zum ersten Mal erblickte.

Doch er wurde schnell wieder abgelenkt, denn über ihm brüllte die raue Stimme des Hauptmanns Kartong böse Versprechungen eines langsamen und schmerzhaften Endes.

Schwere Sandalen klatschten wütend nasse Stufen hinab. Dann erschien das rote, hassverzerrte Gesicht des kahlen Mannes direkt über Barn, und Barn wusste, dass es diesmal um alles ging. Vor einem solchen Hintergrund kämpfte man nicht einfach nur um einen Becher Wein, ein Mädel oder ein verpatztes Würfelspiel. Hier unten kämpfte man um sein Leben, und wenn man es verlor, verlor man vielleicht noch mehr.

Mit seinem lautesten Kriegsschrei stürmte der Barbar Kartong entgegen.

 

*

 

In der Menge auf dem Schlossplatz blickte Fifi der Fleischer mit gerunzelter Stirn auf den kleinen bärtigen Mann, der seinen blutverschmierten Kopf in einem harten Rhythmus immer wieder auf die teuren Schuhe des Fleischers hämmerte und damit das kostbare Leder ruinierte.

Trotz seines furchterregenden Namens, seines blutigen Berufs und seiner erschreckenden Fettleibigkeit war Fifi ein Feingeist. Deswegen fegte er seinen Belästiger nicht mit einem Fußtritt beiseite, wie es die meisten seiner Zunft getan hätten, sondern trat nur einen Schritt zurück und rief mit einem kurzen Schnippen seiner wohlmanikürten Finger zwei Gehilfen zu sich.

"Mengler! Drescher! Richtet dieses verdammte Arschloch auf und zeigt mir seine beschissene Visage!" befahl er mit sanfter Stimme.

Mengler und Drescher, zwei gewaltige Fleischberge in besudelten Schlachterschürzen, stampften gehorsam vor, packten den armen Bratwurstverkäufer wie ein sündiges Hündchen im Nacken und schleppten ihn vor ihren Chef.

Fifi musste das arg entstellte Gesicht eine längere Zeit angewidert anstarren, bis er seinen Schuldner erkannte.

"Bei Moder! Das ist doch dieser fette kleine Würstchenschwindler! Na, ich hoffe für dich, dass du gekommen bist, mir mein Gold zu bringen! Mengler und Drescher sind meine besten Fleischwölfe, und sie sind sehr empfindlich, was meinen Besitz betrifft..."

Doch der Bratwurstverkäufer hörte ihn kaum. Seine Sinne schwebten in höheren Sphären. Daher ruckte er auch noch eine Weile mit dem Kopf vor und zurück, als hämmere er immer noch zu seiner Erlösung auf Stein.

Und als er endlich bemerkte, dass seine Stirn kein Pflaster mehr traf, öffnete er seine Augen nur zu einem entrückten Blick in die Unendlichkeit und jauchzte ekstatisch: "Das ist das Ende! O großer Gott Pomander, nimm meine Reue und meinen Glauben so in dich auf, wie ich zuvor die Leiber deiner Lurche gehackt in meine Wurstpellen aufgenommen habe! Nimm meine Seele als deine göttlich nahrhafte Bratwurst!"

Dann verlor er das Bewusstsein.

Fifi tippte sich an die feiste Stirn. "Völlig plemplem! Schafft ihn weg!"

Mengler und Drescher nickten und trugen den schlaffen Körper durch die Volksmassen hinein in die Dunkelheit, einer ungewissen Zukunft in Fifis Fleischerladen entgegen.

 

In der Gegenwart hatte er allerdings genug Unheil angerichtet. Denn für den verhungernden Gott Pomander war der inbrünstige Wunsch des Wurstverkäufers besser als jede Bratwurst. Die kraftlos über dem schwerverletzten König Dullbert tanzende Qualmsäule, elender Rest der einst ‘Legendär Langen Liebeslanze des Lustvollen Lurchs', schwoll jäh wie der Kamm eines liebestollen Hahns. Oder ein anderes liebestolles Körperteil, auf das hier nicht näher eingegangen werden soll.

"HA, IHR ERBÄRMLICH TROCKENEN MENSCHEN!" donnerte es aus der gigantisch gewachsenen, von schimmernden Augen schwefelgelb durchfleckten, fleischigen Walze, die unter dem Mondlicht höher als das Schloss aufragte. "IHR ALLE HABT MICH VERRATEN, UND IHR ALLE WERDET DAFÜR LEIDEN MÜSSEN, WIE NOCH NIE EIN LEBENDES WESEN HAT LEIDEN MÜSSEN! UND ICH WERDE THENIL AUF EINE WEISE VERNICHTEN, dass NICHT EINMAL MEHR DAS SCHWACHSINNIGE VOLK DER SKORPIONE IN DEN TRÜMMERN NISTEN WILL!"

Panik ergriff die Menschen. Sie drängten, taumelten, stürzten und trampelten aufeinander herum bei dem Versuch, vor der schwarzen Monstrosität zu fliehen. Hunderte sprangen von der Brücke in die relative Sicherheit des königlichen Kots. Ungeheures Gebrüll erfüllte die Lüfte. Innerhalb weniger Augenblicke war der Platz vor dem Schloss wie leergefegt.

 

Nur Dullbert und Gastridis bleiben auf dem Pflaster zurück. Der König rührte sich nicht mehr. Doch der Priester hatte die Augen noch weit geöffnet. Man sah das unirdisch weiße Strahlen seiner Augäpfel sogar oben auf dem Goldenen Balkon. Sein Blick war starr in den Himmel gerichtet, auf die riesige Gestalt seines früheren Herren.

"Ich weiß, dass mein Ende nahe ist, Pomander!" keuchte Gastridis. "Daher möchte ich dir noch einmal etwas sagen: Du bist wirklich der blödeste, langweiligste und lächerlichste Gott, den die Äonen je geboren haben. Ich spucke auf dich, Froschfresse!"

Er stülpte seine grauen Lippen vor und tat, was er gesagt hatte. Der kleine Speichelklumpen flog mit erstaunlicher Kraft hinauf und verschwand im wirbelnden Leib Pomanders.

Dann sank Gastridis Kopf zurück auf das Pflaster. Ein letzter Schauder lief durch seinen Körper, die Augen schlossen sich.

Den grauenvollen Schrei des Erzlurchs konnte der Priester schon nicht mehr hören.

15.

Das Tröpfchen Speichel hatte genügt, um die Hülle von Pomanders Manifestation zu aufzureißen. In seiner blinden Rachsucht hatte der vorzeitliche Gott die Kraft, die der Bratwurstverkäufer ihm geschenkt hatte, sinnlos für die riesenhafte Form verschwendet. Nun quoll sein Leben aus dem Riss heraus, wie Füllung aus einer geplatzten Blutwurst, und er konnte nichts tun, um das aufzuhalten.

Der eisige Schmerz, der bald kam, machte ihn träge. Sein Denken war bald nur noch ein bedrängter Funke in einer ewigen Nacht. Alles, was er wusste, war, dass er den Bodenlosen Pfuhl und den warmen Schoß des Sumpfes dahinter so schnell wie möglich erreichen musste, wenn er nicht im Nichts versickern wollte.

Er nahm alles zusammen, was ihm von ihm noch geblieben war, und warf sich auf den Goldenen Balkon.

 

*

 

Der Hauptmann ließ sich von der Treppe direkt auf den heranstürmenden Barbaren fallen. Barn drehte sich zur Seite und empfing Kartong mit der linken Schulter. Der Aufprall warf beide Männer zu Boden. Die Grotte bebte.

Keuchend rollte sich der Offizier zur Seite. Sein Brustpanzer war eingedrückt und machte ihm das Atmen schwer. Er fummelte an den Lederriemen, um die Rüstung zu lösen, doch Barn zog im Liegen die Knie an, schwang herum und rammte Kartong beide Beine in den Magen.

Der Hauptmann wurde gegen die Wand geschleudert. Einen anderen Mann hätte der Doppeltritt des Barbaren auf der Stelle getötet, doch Kartong fand sogar noch Kraft für ein paar wüste Flüche, während er aufzustehen versuchte. Aber Barn war schon über ihm und drosch ihm die linke Faust in einem Rückhandschlag gegen die Schläfe. Der kahle Kopf schmetterte mit einem hässlichen Knirschen gegen Fels, und Kartong spuckte Blut.

Der Nordmann zerrte den Soldaten am Hals in eine aufrechte Position, um ihn besser mit den Fäusten bearbeiten zu können. Doch Kartongs Augen waren blicklos, sein gewaltiger Körper schlaff wie ein leerer Sack. Barn grinste. Die meisten dieser großen Kerle waren lange nicht so hart, wie sie auszusehen versuchten!

Doch dann veränderten sich die Umstände so blitzartig, dass selbst die in der lebensbedrohlichen Eisöde des winterlichen Hochnorlandes geschulten Sinne des Barbaren nicht gleich folgen konnten. Der leere Sack, der der Hauptmann eben noch gewesen war, blähte sich plötzlich, und mit einem Tritt gegen die Knie fegte der Offizier den Barbaren von den Beinen.

Barn fiel nach hinten, und sein Hinterkopf schlug hart auf dem Altarblock auf. Für einen Augenblick sah der Nordmann nur helle Lichter, dann über sich das blutige, von irrsinniger Wut verzerrte Gesicht des Hauptmanns. Der Offizier packte den Kopf des Barbaren an den Haaren und schmetterte ihn noch ein paarmal gegen die Steinkante, bis Barn überzeugt war, dass der Altar unter ihm in Trümmern liegen müsse.

Doch die Kante war immer noch da, als Kartong nun seine Kopf nach hinten bog, den rechten Unterarm in die Kehle des Nordmannes stemmte und sich dann mit der Linken und dem ganzen Gewicht seines Körpers darauf stützte.

Für den Barbaren wurde die Höhle plötzlich noch enger, als sie ohnehin schon war. Und das Licht begann zu erlöschen.

 

*

 

Schwarz und stinkend schlängelte sich der zerfallende Götterleib zwischen den entsetzt zurückweichenden Soldaten über den Boden des Goldenen Balkons. Als er die Königin streifte und sein Gefäß erkannte, stockte er. Eine Woge der Wut überspülte kurz die Schmerzen, und Pomander verschleuderte weitere Kraft für ein paar wirre Worte des Hasses.

"ICH WIEDER...", spuckte er. "KEIN GNADE. AUFPLATZEN, BLUTSCHLEIM, ALLE STERBEN!"

 Dann kam der Schmerz zurück, und saugte und zog und fraß an ihm wie der allesverschlingende Maelstrom jenseits der Sterne. Alles bewusste Denken wurde aus ihm gerissen. Er war wieder der gewaltige, augen- und hirnlose Lurch, Jäger im schwarzen Sumpf zwischen trüben Sonnen, wie er es vor dem Beginn der Zeiten gewesen war.

Aber er roch die Nähe des Pfuhls, zu dem er kommen musste, wenn er weiterleben wollte. Und er kroch dorthin, so schnell er konnte.

 

*

 

Der anschwellende Gestank weckte den Würfler.

Wulf grunzte, schmatzte und rieb sich die Augen, bevor er sie zum Sehen nutzte. Was er dann sah, ließ ihn wünschen, noch zu schlafen, und zwar möglichst weit weg von dem Ort, an dem man solche Dinge sehen musste.

Eine riesige, schwarze Masse kroch durch die Tür auf ihn zu. Eine Gewitterwolke, eine Blutspur in klarem Wasser, eine Schlammlawine - es hatte keine erkennbare Gestalt, doch es war sehr lang und füllte in seiner Breite den Türrahmen ganz aus; es schien auch nicht körperlich, obwohl es beim Kriechen raschelte und eine übelriechende Substanz auf den scharlachroten Teppichen zurückließ.

Wulfs träges Hirn rang lange um eine Erklärung und Einordnung dieses Anblicks; aber alles, was es zustande brachte, war eine Erinnerung an hereinbrechende Nacht über dem Meer, wenn der Horizont verwischt und das dunkle Wasser ebenso körperlos wird wie der dunkle Himmel, und beide zu etwas irrealem verschmelzen.

Das poetische Bild half dem Würfler allerdings überhaupt nicht weiter. Nur ein beherzter Sprung zu Seite rettete ihn in letzter Sekunde vor der Berührung der Erscheinung.

Schmerzen fuhren durch den massigen Leib des Wachmanns - wie immer in solchen Situationen hatte er sich bei der Landung beide Ellenbogen aufgeschlagen und seine Zunge zerbissen. Und diesmal war sogar noch mit der Stirn gegen eine Tischkante geprallt. Aber er unterdrückte sein Stöhnen so gut es ging, denn obwohl ihn die Masse überhaupt nicht zu beachten schien und zielstrebig auf den Torbogen mit dem roten Vorhang zu kroch, war es bestimmt besser, die Aufmerksamkeit einer solchen Erscheinung so wenig wie möglich zu erregen.

Als sie den Vorhang berührte, schien die Masse kurz zu zögern. Dicker, farbloser Schleim tropfte wie Schweiß aus ihr. Der Gestank wurde schier unerträglich, Wulf fürchtete zu ersticken.

Dann schob die Erscheinung den Vorhang beiseite und quoll hinunter in die jenseitige Dunkelheit. Der Würfler sah, dass der rote Stoff wolkige Fetzen aus der Masse riss und sich schwarz verfärbte; und dass die Masse zuckte, als habe sie Schmerzen bei der Berührung.

Es dauerte scheinbar eine Ewigkeit, bis die gesamte Erscheinung durch die Tür verschwunden war und der besudelte Vorhang wieder an seinen Platz fiel.

Doch als das endlich passiert war, gab es kein Halten mehr: Donnernd wie eine ganze Herde in Panik geratener Elefanten rannte der Wachmann zum Ausgang, um auf dem Korridor dahinter ausgiebig zu atmen, zu rotzen und zu brüllen.

 

*

 

Barn stemmte sich mit aller Kraft gegen den Würgegriff des Hauptmanns und rammte ihm wieder und wieder die Knie zwischen die Beine, doch der Wahnsinnige über ihm rührte sich keine Fingerbreit, er schien keinen Schmerz zu empfinden.

Was man vom Barbaren nicht behaupten konnte. Er wehrte sich tapfer und würde noch lange Zeit durchhalten, bevor ihn Gott Gruunz zum ewigen Festmahl der gefallenen Krieger willkommen heißen konnte - doch der wilde Tag, der Hunger und zu viel Wein hatten an seinen barbarischen Kräften genagt. Ein Himmel aus blitzenden Sternen tanzte in seinem Kopf, und jeder Stern stach wie eine Nadel.

Aber Barn gab nicht auf. Es lag nicht in seiner Natur, aufzugeben, so wie es nicht in der Natur eines Berges liegt, in rosa Fummel durch die Straßen von Ybris zu stolzieren.

So konnte er sofort die Gelegenheit nutzen, als ein Rascheln von hinten den Hauptmann ablenkte und der Druck auf den Hals kurz nachließ. Mit einem wilden Schrei packte er Kartong wie ein Liebender den Geliebten und warf sich und den Offizier mit aller Gewalt nach hinten.

Ein weiteres Mal schlug der Barbarenschädel auf die raue Oberfläche des Altars, aber der Mann aus dem harten Norden hatte sich schon so daran gewöhnt, dass er den Schmerz kaum mehr spürte. Schlimmer war, dass Kartongs dickes rechtes Knie sein Kinn traf, als er den Hauptmann wie einen geleerten Weinschlauch hinter sich schleuderte.

Trotzdem sprang der Barbar sofort wieder auf die Füße, um jedem Angriff zu begegnen. Er war bereit, tödliche Schläge auszuteilen, sollte der rotköpfige Kahlschädel immer noch nicht genug haben.

Aber es schien unnötig. Kartong war in der Mitte des ekelhaften Teiches hinter dem Altar gelandet, schlug mit den Armen und brüllte die ganze Verzweiflung des lebenslangen Nichtschwimmers heraus. Das schwarze Wasser um ihn zischte und brodelte, als wolle es vor dem Eindringling fliehen. Der Barbar glaubte sogar zu sehen, wie Mengen schwarzer Tropfen wie Ameisen auf das schorfige Ufer krochen.

Doch bevor er genauer hinschauen konnte, hörte er wieder das feuchte Knistern und Rascheln hinter sich, das den Hauptmann abgelenkt hatte.

Er fuhr herum. Und stand Pomander gegenüber.

 

Königin Clandine hatte der Sturz auf den Hinterkopf nicht gut getan - der Schmerz machte es der Gleichgültigkeit und der Müdigkeit leichter, an sie heran zu kriechen. Sie war bereit, liegenzubleiben und auf den Schlaf zu warten.

Doch als das lange Gesicht des Feldwebels sich über sie beugte, kehrte eine gewisse Wut zurück.

"Königin? Königin?" rief der Unteroffizier leise. "Der schwarze Rauch ist in das Zimmer des Priesters ge..." Er stockte. Ihm fehlte der korrekte Ausdruck für die Fortbewegung lebenden Qualms. "Geraucht. Was sollen wir nun tun?"

"Bei allen Göttern, Feldwebel, warum fragst du nicht deinen geliebten König?" stöhnte Clandine.

Jobbo wand sich wie zuvor der verwundete Pomander. "Nun, hm, Majestät, der liegt unten vor dem Balkon und rührt sich nicht. Ebenso der Priester Gastridis."

Clandine sprang so plötzlich auf, dass der Feldwebel fast vor Schreck nach hinten gekippt wäre.

"Verflucht, Feldwebel, dann schick' ihnen einen Arzt runter!" rief die junge Königin. "Und dann sorg dafür, dass dieser Gott aus dem Schloss verschwindet!"

Jobbo schluckte heftig. "Aber Majestät, dieser Gott ist ein Gott! Er geht, wohin er will! Und kein Sterblicher kann ihn daran hindern!"

"Unsinn!" zischte Clandine. "Seit mein Vater Häuptling der Garstek ist, hat er dreimal die Stammesgötter gewechselt, weil sie zu viel Weinopfer verlangt haben. Das war völlig problemlos und höchstens für die Priester unangenehm. Ich werde mitkommen und euch zeigen, wie man das macht."

Der Feldwebel starrte die Königin an, als hätte sie sich plötzlich in einen Bottich voll toter Aale verwandelt. Dann straffte er sich, blickte in den fernen Osten, wo ein erster heller Schleier den kommenden Morgen versprach und nickte. Pathetisch schlug er sich mit der Faust auf den Brustpanzer. "Der Todgeweihte grüßt Euch, Majestät! Männer!" wandte er sich an die Soldaten, die leer und erschöpft am Balkongeländer lehnten und in die Luft starrten. "Wir schmeißen den Gott aus dem Schloss!"

Die Männer murmelten unwillig, denn sie waren müde. Aber sie sammelten gehorsam ihre Ausrüstung ein und folgten ihrem Feldwebel und der schwarzen Schleifspur des Erzlurchs. Nach einer solchen Nacht schien ihnen das Verfolgen und Vertreiben eines Gottes nur noch wie Routinedienst.

 

*

 

Wie eine mitten im Überschlag erstarrte Welle schwarzen Wassers ragte der Gott Pomander über dem Barbaren auf. Mit einer klaffenden Verdickung am oberen Ende und zwei weitgebreiteten Stummelarmen sah er aus wie ein von einem Ochsenkarren flachgefahrener Weinschlauch.

Barn ließ sich erschrocken nach hinten fallen. Zum letzten Mal traf sein Hinterkopf die Kante des Altars, aber dieser Aufprall war der härteste. Der Barbar verlor fast das Bewusstsein und sackte zu Boden. Wie eine Fontäne schoss der Gott über ihn hinweg, um in die Sicherheit des Bodenlosen Pfuhls zu tauchen.

Dort planschte immer noch der Hauptmann.

Kartong kreischte schrill, als er den Erzlurch über sich sah. Dann drückte die schwarze Masse des Gottes den Offizier unter Wasser. Kartongs Verstand zerbrach endgültig, als sein schlimmster Alptraum wahr wurde: die Schwarze Kröte hatte ihn geholt.

Auch Pomander kreischte, als er seinen Fluchtweg verstopft fand. Die Berührung mit dem Menschen versetzte ihn so sehr in Panik, dass er den Weg vorbei an dem strampelnden Offizier nicht fand. Wie ein Falter gegen ein erleuchtetes Fenster prallte Pomanders Essenz immer wieder gegen den ertrinkenden Mann, bis sie von seinem letzten Atemzug eingesaugt wurde.

Instinkt trieb die Essenz des göttlichen Lurchs aus den überfluteten Kammern der Lunge das Rückgrat hinauf in die panikdurchtobte Leere des Hauptmannshirns. Nichts leistete Widerstand, als der alte Gott sich hier eingrub. Die sinnlose Strampelei Kartongs hörte schnell auf, als die simplen, aber effektiven Mechanismen der Amphibie die Körperkontrolle übernahmen.

Mit zwei kräftigen Schwimmzügen erreichte der neue Lurchmensch das narbige Ufer des Pfuhls und stemmte sich aus dem Wasser.

 

*

 

Die Gardisten des kleinen Trupps, den der Feldwebel und die Königin anführten, waren so erschöpft, dass sie sich kaum mehr auf den Beinen halten konnten. Die Ereignisse der Nacht hatten ihre an feste Strukturen und klare Befehle gewöhnten Soldatenhirne etwas aus der Bahn gebracht.

Vielleicht war sowieso alles nur ein Traum, und beim ersten Sonnenlicht würden sie unten in der Wachstube mit einem mörderischen Kater aufwachen.

So zögerten sie nicht einmal, als sie den beschmutzten Vorhang erreicht hatten und erkannten, dass die ekelerregende Schleimspur, die der Gott hinterlassen hatte, direkt hinunter in jene grässlichen, fischig stinkenden Tiefen führte, die der Priester immer mit boshaftem Grinsen als 'jenseitig, absolut verboten und todbringend' bezeichnet hatte. Die Königin hob den Vorhang hoch, und die Gardisten trabten gebückt und im Gänsemarsch die schlüpfrigen Stufen hinab, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, was sie dort unten vielleicht erwarten mochte.

 

*

 

Barn der Barbar stand mühsam und umständlich auf. Jeder Knochen im Leib schmerzte, und in seinem Kopf prügelten alle Krieger der Welt aufeinander ein. Er lehnte sich schwer gegen den blutigen Altarstein und seufzte tief. Seine Gedanken schwammen, er erinnerte sich nur nebelhaft an die zurückliegenden Ereignisse. Er hatte sich geprügelt, gesoffen und war Mädels hinterhergerannt. Aber das tat er eigentlich immer.

Doch tief in seinem Innern ahnte Barn, dass diesmal mehr passiert war. Denn normalerweise lag er unter dem Tisch irgendeines Wirtshauses, wenn er in so einem Zustand erwachte.

Daher war er nur mäßig überrascht, als ein riesiger, triefender Mann aus dem Teich vor ihm stieg und langsam auf ihn zu schwankte. Barn lächelte matt, denn er konnte erkennen, dass es dem Kerl da vor ihm nicht besser ging als ihm selbst.

"Ho, Kumpel, kannste mir sagen, was wir für'n Tag ham un' wo wir hier sind?" rief er dem Riesen so freundlich zu, wie er mit einem Brummschädel sein konnte.

Doch der riesige Mann starrte ihn nur verständnislos aus leicht vorquellenden Augen an, streckte dann seine Zunge vor und sagte: "Quak."

"Halt, Barbar!" rief da eine raue Stimme über ihm. "Wage es nicht, den Hauptmann anzurühren! Los, Männer, nehmt ihn fest!"

Eine Menge Sandalensohlen klatschte durch die Dunkelheit, dann erschienen die bleichen Gesichter von Männern im Geisterlicht der Grotte. Barn grunzte. Das war die Wache! Als war es doch wieder hoch hergegangen diese Nacht! Das passierte ihm immer mal wieder: dass er verhaftet und ins Loch geworfen wurde für Taten, an die er sich erst im Laufe der Zeit wieder vage erinnern konnte.

Die Soldaten packten den Nordmann an den Armen und richteten Schwerter auf seine Brust und den Hals. Ein narbiger Alter mit einer lustigen Feder auf dem Helm stürmte auf den riesigen nassen Mann zu und salutierte vor ihm.

"Hauptmann!" rief der Narbige. "Ihr seid gerettet! Es war eine Intrige des Priesters, er hat Barbaren in die Stadt gelassen, um die Monarchie zu stürzen und selbst als Tyrann den Thron zu besteigen!"

Der Riese starrte den Soldaten eine lange Zeit an. Dann schoss wieder seine Zunge aus dem Mund und leckte dem Alten über das Gesicht.

Der Soldat sprang zurück und zog sein Schwert.

"Bei Tviiseth! Der Hauptmann hat den Verstand verloren!" keuchte er entsetzt.

 

"Mach dir keine Sorgen, Feldwebel!" sagte die Königin und trat zwischen die Gardisten. "Es ist sowieso alles ganz anders, als du denkst, also denk' besser überhaupt nicht mehr. Dann bist du auch ein besserer Hauptmann."

"Hauptmann? Ich?" Feldwebel Jobbo fuhr mit geweiteten Augen herum zur Königin. Eine Weile arbeitete es in seinem Pferdegesicht, dann sank er jäh in die Knie und bedeckte eine Hand Clandines mit rauen Küssen. "Danke! Danke!" stammelte er dazu.

Clandine zog angewidert die Hand weg. "Lass den Dank, Feldwebel. Im Augenblick gibt es eben keinen besseren. Oder soll ich diesen großen, blonden Klotz zum Hauptmann machen? Ihm würde immerhin Kartongs Rüstung besser passen..." Sie wies auf Barn, der sich trotz zehn Schwertern an der Kehle ausgiebig dehnte, streckte und kratzte.

Jobbo wurde blass. "Nein, Majestät, bloß den nicht! Er ist einer dieser Mordbuben aus dem Norden, die der Priester mit Glasperlen bezahlt hat, damit sie Euch und den König mit Haut und Haaren auffressen! Er ist gefährlich, wir sollten ihn auf der Stelle töten!"

"Nein." Clandine grinste. "Ich mache ihn zum neuen Feldwebel. Er ist dumm, sieht gut aus, und im Saufen und Prügeln ist er prima. Mehr erwarte ich nicht von meinen Soldaten."

"Aber Majestät!" widersprach Jobbo leidenschaftlich.

Die Königin wischte seine Worte mit einer arroganten Handbewegung beiseite.

"Nichts mehr, Hauptmann. Nimm deinen Vorgänger und diesen neuen Feldwebel, und bis heute Mittag will ich alles aufgeräumt und gesäubert haben - und Ruhe in der Stadt!"

Jobbo salutierte matt. "Jawoll, Majestät!"

"Und sorge dafür, dass dieses Loch hier zugemauert wird! Ich will nichts mehr von Pomander sehen oder hören, solange ich Königin bin!"

Hinter ihrem Rücken grinste der Hauptmann blöde und steckte die Zunge heraus.

16.

Barn der Barbar saß auf einer Turmzinne hoch über den Dächern der Stadt und ließ sich die Mittagssonne ins Gesicht brennen. Er grinste, völlig zufrieden mit sich und der Welt. Wenn ihn die Jungs daheim in Täppenwinkel so sehen könnten!

Eine prächtig bunte Uniform hatte er bekommen, und einen Helm mit Federn darauf, außerdem eine große Kammer mit richtigem Bett und sogar einem Fenster; und alle anderen mussten ihm jetzt gehorchen, sogar sein alter Kumpel Wulf.

Aber das Beste war, dass er jetzt ein Mädel hatte, das ihn bediente!

"Hoho, Mädel, noch'n Krug Wein!" Er schnippte mit den Fingern. "Un' dann setz' dich eine Weile zu mir!"

Mit gesenktem Haupt kam Flix herbei, ein schweres Tongefäß auf dem Kopf balancierend. Auf sehr ausdrücklichen Wunsch des  Barbaren trug sie nicht einmal mehr einen weißen Schurz.

Sie lächelte sehr herzlich, als sie den Weinkrug vor ihren neuen Herren hinstellte, denn sie hatte ihn heimlich mit der ganz speziellen Sorte Rotwein gefüllt, die der Priester Gastridis dazu benutzt  hatte, um unfreiwillige Gäste zu beruhigen. Und etwas Ruhe brauchte der ungestüme Barbar ganz sicher am meisten.

Es wäre nur dumm, wenn er hier oben einschliefe - wie leicht konnte ein Nickerchen auf den schmalen Zinnen des höchsten Turms von Thenil ein bestürzendes Ende nehmen!

Flix Lächeln wurde zu einem Grinsen, als der blonde Hüne den Krug wie üblich mit einem Zug leerte und hinter sich warf.