Werde ein richtiger Kerl in nur fünf Tagen!

 Der Junge blickte zwischen den eisüberzogenen Felsen hinunter in das verschneite Täppental und grinste.

Hoho, er hatte sie alle überlistet! So weit oben auf dem Gletscher, ganz knapp unter dem Gipfel der Weißhöh, da würde ihn sicher niemand vermuten!

Er musste nur mit der Kälte zurechtkommen und warten, bis die Sonne versunken war. Dann konnte er wieder hinunter ins Dorf gehen und hatte die Prüfung bestanden, sich einen ganzen Tag lang vor den besten Jägern von Täppenwinkel versteckt zu halten.

Er schob sich eine Strähne seines langen, leicht verfilzten blonden Haars in den Mund und begann darauf herumzukauen. Es war Tradition, dass die Väter ihre Söhne - die 'Weihburschen' - während der fünftägigen 'Burschweih' weit vor Sonnenaufgang aus dem Bett prügelten und ohne einen Bissen Essens in die winterliche Welt hinausjagten. Jetzt, wo der Mittag längst vorbei war, murrte dem jungen Nordmann der Hunger im Bauch wie ein zorniger Erdbär.

Barn ignorierte das Gebrumme stoisch und streckte den kräftigen Körper auf dem weichen Schnee im Windschatten der Felsen aus.

Der junge Barbar trug nach der Art seines Volkes eine Jacke und gefütterte Hosen aus zusammengenähten Pelzen der zottigen weißen Eiskuh. Die dreieckigen Fellstücke waren in den drei heiligen Farben türkis, goldgelb und rosa getönt. Sie symbolisierten das Blau des Himmels, das sich im polierten Stahl eines Schwertes spiegelte, das Gold der Sonne, wie es in einem Schluck Bier eingefangen war; und das Rosa des köstlichen Fleischs einer deftigen Schweinshaxe. Dazu hatte ihm die Mutter noch heimlich den alten, mottenzerfressenen Bärenfellumhang des Vaters zugesteckt. Diese Menge an Fellen hielt den jungen Barbaren warm, auch hier oben auf dem Berg, wo der Wind eisig war wie der Biss eines Frostriesen.

Barn blinzelte hinauf in den tiefblauen Himmel. Über ihm trieben runde, weiße Wolken wie Fettbrocken in einer kräftigen Ochsenbrühe. Er leckte sich die von der Kälte spröde gewordenen Lippen und schloss die Augen, um ein wenig zu träumen. Sein junges, angenehmes, aber immer etwas leer wirkendes Gesicht nahm einen Ausdruck engelhafter Unschuld an.

Bei Gruunz! Die Aufnahmeprüfung zur Burschweih, die 'Probe des Torbalkens', hatte er schnell hinter sich gebracht, und mit der zweiten Prüfung, dem 'Verstecken vor den Jägern', sah es auch ziemlich gut aus.

Danach wartete noch eine Handvoll weiterer Aufgaben, verteilt über vier Tage, auf ihn und die anderen acht Burschen. Schließlich gab es einen Tanz und ein großes Fest, und am Ende wurde man als vollwertiger Krieger in die Dorfgemeinschaft aufgenommen. Was bedeutete, dass man jeden Abend bis zur Geisterstunde im Männerhaus sitzen, fluchen und singen, Biere trinken und die Würfel rollen lassen durfte, ohne fürchten zu müssen, dass man am Ohr gepackt und nach Hause geschleift wurde.

 

Nach Art der Nordmänner war die Aufnahmeprüfung simpel und effektiv gewesen: in der Mitte des Dorfplatzes hatte man aus drei Baumstämmen einen rechteckigen Rahmen, das sogenannte Burschtor, errichtet und noch vor Sonnenaufgang die Knaben des Dorfes nacheinander hindurch geschickt: nur wer nicht mehr darunter hindurch passte, durfte an den weiteren Prüfungen teilnehmen.

Barn war als dritter gegangen und gleich so heftig mit dem Gesicht gegen den Querbalken geprallt, dass an seiner Eignung zum Krieger kein Zweifel bestehen konnte: Seine Nase hatte geblutet, und das Burschtor hatte sogar kurz gewackelt.

Mit seinen vier und zehn Lebensjahren war Barn damit der jüngste Teilnehmer der Burschweih dieses Winters geworden. Und doch war er auch der größte, wenn man mal von Farting dem Ochsen absah; aber der wirkte nur deshalb groß, weil er so ungeheuer fett war. Barn hingegen war schlank, hochgewachsen, und an Armen, Beinen und Brust bepackt mit Muskeln, um die ihn mancher erwachsene Krieger beneiden musste. Sein Bauch, noch völlig unberührt vom Lieblingsgetränk der Norländer – Starkbier - war hart und flach wie ein zugefrorener See.

Und außerdem trug niemand so prächtig bunte Felle wie Barn, nicht einmal der hochnäsige Neidgurt Hornhelm, der so wichtig damit tat, dass er der Schwestersohn des Dorfhäuptlings Wolkenbrand Eisenvater war!

 

Während die helle Sonne dem jungen Barbaren in das breite und zuversichtliche Gesicht schien, wuchs ihm ein Gedanke, der sein Grinsen heller strahlen ließ als die sonnenüberfluteten Schneefelder: Heute Nacht, wenn die Männer den ersten Tag der Prüfungen feierten, würde er sich in das Haus von Gerfast Rundschädel schleichen und sehen, wie weit er seine Hände unter die Decke der schönen Skjörga bekommen konnte, bevor sie aufwachte und ihn davonjagte!

Wenn sie ihn davonjagte, hohoho!

Skjörga Rundschädel, die jüngste Tochter von Vaters bestem Freund Gerfast, war am gleichen Tag geboren worden wie Barn. Als Kinder hatten beide viel miteinander gespielt, bis Barn im Alter von acht Jahren spontan erkannte, dass die Spiele, die er mit Skjörga spielte, ziemlich blöde und ausgesprochen langweilig waren. Mädelkram eben.

Im letzten Sommer aber hatte sich alles plötzlich wieder gewendet.

 

Der junge Barbar hatte Skjörga zufällig beim Baden im Mogelsee beobachtet und hatte dabei sehr merkwürdige Gefühle in sich entdeckt. Teile seines Körpers hatten sich auf eine Art und Weise verhalten, die ihm neu waren. Für eine lange Zeit hatte er stocksteif dagestanden, unschlüssig, ob er näherkommen oder flüchten wollte. Sein Kiefer sank immer tiefer, während er beobachtete, wie Skjörga ihren Körper gründlich wusch und abbürstete.

Ho, ganz nackt war sie gewesen, und ihre Brüste schienen ihm so rund, süß und sanft gebräunt wie die Mehlkuchen, die die Frauen im Dorf zum Julfest buken. Während er ihre schlanken Finger über ihren nassen Körper gleiten sah, wuchs in ihm immer stärker der Wunsch, es wären seine, die dort kneteten, schrubbten und massierten.

So erregt war er gewesen, dass ihn der ferne Brunftruf eines Schneehahns in Panik versetzt hatte und er Hals über Kopf geflohen und stundenlang mit weit aufgerissenen Augen durch die Wälder gerannt war. Und in dieser Nacht und vielen weiteren hatte er dann von Taten und Dingen geträumt, die er nicht einmal seinem besten Freund Joggurd erzählen wollte.

Er lächelte versonnen und leckte sich die Lippen.

Ho, die Skjörga Rundschädel, die war ein Mädel!

Er wusste, wenn er erst ein Krieger war, würde er jeden Tag den abgeschlagenen Kopf eines Feindes vor die Haustür des alten Gerfast legen, und dann, im Frühjahr, würde er die Skjörga nach gutem alten Brauch aus dem Haus ihres Vaters rauben und im Wald beim Jungfernstein zum Weib machen, ho!

Die Lebenslust ergriff ihn bei diesem Gedanken so sehr, dass er aufsprang, die Arme hoch zum Himmel riss und laut "Hohoho!" hinauf zu den Göttern brüllte.

"Da!" rief eine Stimme, die lange nicht so weit entfernt war wie die Götter. "Da is' einer! Es is' Barn, Helmers Sohn. Wie ich gesagt hab' - einer kommt immer auffe Idee, sich hier oben auffem Gletscher zu verstecken, wo man ihn sogar vom Dorf aus seh'n kann wie 'ne Fliege auffem Zuckerkuchen! Nich' umsonst heißen die Steine hier die Deppenfelsen!"

Barn erschrak fürchterlich. Keine hundert Schritt von ihm entfernt standen der Häuptling Wolkenbrand Eisenvater, Gerfast Rundschädel und sieben weitere Männer aus Täppenwinkel, bewaffnet mit den traditionellen Knüppeln und Lederriemen, mit denen sie die Burschen, die sie erwischten, fürchterlich verdroschen, bevor sie sie gefesselt und in Schande zurück ins Dorf schleiften.

"Ho, Wolkenbrand, den Buben schnappen wir uns!" lachte Schnodd Bierbrauer, der Vater Fartings des Ochsen. Die anderen Männer nickten, hoben ihre Knüppel und begannen johlend auf den jungen Barbaren zuzulaufen.

Wenn Barn der instinktive Sprung nach hinten zwischen die Felsen gelungen wäre, hätte ein Sturz von über tausend Barbarenlängen hinab ins Tal seine Aussicht auf eine erfolgreiche Burschweih für immer beendet. Im finsteren Jenseits der Norländer, der Feste Vollduunheim über dem Rande der Welt, hätte er dann als Diener dem Gott Gruunz und den im Kampf gefallenen Kriegern beim Ewigen Festmahl aufwarten müssen.

Denn so war - behaupteten die Goden - das Schicksal eines Norländers, der starb, bevor er zum Mann geworden war. Was auch hieß, dass man als Frau bei den Göttern des Norlands überhaupt keine Karrierechancen hatte.

Aber Barn rutschte im gefrorenen Schnee aus, verlor das Gleichgewicht und fiel auf den Bauch. Mit seinen kräftigen Händen versuchte er sich im Eis festzukrallen, aber obwohl er wie wild nach einem Halt ruderte, ließ ihn der Schwung des Sturzes kopfüber den Steilhang des Gletschers hinabgleiten, direkt auf die Männer zu.

Sein Zappeln machte ihn nur noch schneller. Eis rutschte in sein ledernes Hemd und zerkratzte ihm die breite Brust.

Bald konnte er jeden braunen Zahn in den grinsenden Gesichtern der Krieger sehen. Dann wirbelten die haarigen Waden des Häuptlings heran, ungeheuerliche, borstenbestandene rotfleckige Säulen, die das Licht des Himmels aussperrten.

Barn schloss die Augen. Nun war alles vorbei.

Er spürte einen heftigen Schlag gegen den Kopf und die linke Schulter. Die Luft wurde ihm aus den Lungen gepresst. Er zerbiss sich die Zunge und schmeckte Blut. Ein Chaos von Flüchen und Geräuschen brandete über ihn hinweg, etwas Schweres fiel auf seine Beine, glitt aber ab.

"Verflucht, Bursche, wenn wir dich kriegen, zieh’ ich dir das freche Fell ab und mach' eine Hängematte für mein stinkendes Weib draus!" wütete hinter ihm eine raue Stimme. Andere fluchten ebenso wortreich, wurden aber schnell leiser.

Dann wurde alles traumhaft still und leicht, wie ein klarer Morgen nach einer stürmischen Nacht.

Barn öffnete die Augen. Er glitt immer noch bergab und hatte vor sich das weite Halbrund des Weißhöhgletschers, darunter die verschneiten Wipfel des Talwaldes und um sich das überwältigende Panorama der vielen schneebedeckten Gipfel des Hochnorlandes vor einem kristallblauen Himmel. Nur die Krieger waren verschwunden.

Darüber wunderte sich der junge Täppenwinkler, bis ein dicker Holzprügel von hinten herangewirbelt kam, dicht neben seinem Kopf im Eis aufschlug und ihm einen Sprühregen aus Schnee in die Augen spritzte.

Erschrocken blickte Barn über die Schulter und sah die Männer aus dem Dorf hinter sich in einem wütenden Durcheinander von zappelnden Armen, Beinen und Knüppeln am Boden liegen. Eine Weile starrte er verständnislos auf dieses bemerkenswerte Bild, dann begriff er jäh.

Er war geradewegs durch die Krieger hindurchgesaust und hatte sie dabei umgeworfen, wie der Steinball die Elchenbeine beim Godenspiel umkugelte!

Er begann ein wüstes Gelächter.

 

In einem donnernden Strom von pulverisiertem Eis, weichem Schnee und körnigem Geröll glitt die Masse der Lawine mit dem jungen Barbaren in der Mitte über die steile Flanke des Gletschers hinab ins Tal. Weit unten, wo sich die ersten zähen Bergkiefern in das graue Gestein des Berges krallten, zog der Schneesturz eine breite Schneise der Vernichtung durch den beginnenden Wald. Er entwurzelte Bäume, die seit Jahrhunderten dem Wind, der Kälte und dem lastenden Schnee Trotz geboten hatten, zerpflügte die Erde und verschüttete zahllose Wohnhöhlen der breitschwänzigen Nordbergmurmler - was allerdings nicht sonderlich schade war, da diese räudigen Gesellen ohnehin nichts weiter taten, als den ganzen Tag zu pfeifen und zu murmeln und frische Triebe zu zernagen.

Und hier im Tal war es auch, wo die Lawine ein altes Felsengrab aufbrach und ein unsägliches Ding befreite, das ein vergessener Gode vor Jahrhunderten darin eingeschlossen hatte. Weit flogen die Splitter der Granitplatte, in die heilige Hände bannende Runen gegraben hatten.

In einem schmalen, bewaldeten Tal am Fuße der Weißhöh versiegte schließlich die Kraft der Lawine. Die Schneemassen kamen zur Ruhe, und mit ihnen der bewusstlose Körper des jungen Barn, der vielleicht durch den wohlmeinenden Einfluss des mächtigen Frostvaters fast unverletzt geblieben war.

 

*

 

Barn erwachte mit einem Schädel, der dröhnte wie ein Bierfass beim Anzapfen.

Der ganze Leib schmerzte dem jungen Nordmann, als hätte ihn jemand gründlich durchgeprügelt und ihm dann eine sehr, sehr wütende Katze in die Kleider gesteckt. Eine Katze, die sich dort eine Weile ausgetobt hatte.

Dazu war es auch noch dunkel, nass und kalt. Barn öffnete vorsichtig die Augen, aber es blieb dunkel, nass und kalt.

Nachdem der Barbar diese Wahrnehmungen eine Weile in seinem Hirn herumgewälzt hatte, begann er zu grinsen: Wenn es dunkel war, dann war es Nacht - und wenn es Nacht war und er nicht gefesselt im Häuptlingshaus lag, dann hatte er die zweite Prüfung bestanden! Und er konnte nicht im Häuptlingshaus liegen, denn es war ja nass und kalt, und nass und kalt war es im Häuptlingshaus nicht, sondern eher heiß, stickig und rußig... solcherart waren seine Gedanken, und sie folgten einander langsam und gemütlich, wie Polonaise tanzende Schnecken.

Während er noch dachte, begannen seine scharfen Augen sich an die Dunkelheit zu gewöhnen, so dass er Einzelheiten seiner Umgebung erkennen konnte.

Seine Umgebung war in ziemlich schlechter Verfassung. Haufen schmutzigen, mit Geröll vermischten Schnees türmten sich in jeder Richtung, und überall lagen die zersplitterten Stämme entwurzelter Kiefern herum. Selbst die wenigen Sterne am Himmel waren zittrig und verwaschen. Barn grunzte.

Wo war er, und wie war er hier hingekommen?

Nach einer Weile sammelte er seinen Mut und versuchte aufzustehen. Er stöhnte laut. In seiner Brust stach und brannte es, als habe ihm jemand Kiefernnadelschnaps eingeflößt.

Mit zusammengebissenen Zähnen erhob er sich schließlich schwankend auf die Füße. Und nach einer Weile erkannte er dann, wo er war: Im Schnorkental, einem kleinen, nach Norden hin ansteigenden Einschnitt zwischen der Weißhöh und dem Hochschnork. Mutter hatte hier früher manchmal Schnädelwurz für den Schneehaseneintopf gesammelt, aber sonst war das Tal ein uninteressanter Ort, den selten jemand besuchte. Geschichten von einem uralten, grässlichen Gespenst, das 'Das Täppen' oder 'Der olle Mauloff' genannt wurde, gingen um, aber niemand konnte genau sagen, ob sie wahr waren oder nicht, weil sich eigentlich niemand in Täppenwinkel für alte Geschichten interessierte, es sei denn, sie handelten von siegreichen Kämpfen, großen Saufgelagen oder leicht bekleideten, willigen Mädels mit blonden Haaren, kräftigem Körper und Brüsten runder als zwei Vollmonde.

Barn murrte missmutig. Vom Schnorkental bis Täppenwinkel waren es schon am hellen Tag gute vier Wegstunden durch dichten Wald und über kantige Felsen!

Aus dem kleinen Abenteuer mit Skjörga würde in dieser Nacht wohl nichts mehr werden.

Aber, sagte er sich und fand zu einem grimmigen Lächeln, er hatte die zweite Prüfung bestanden, und es würde noch andere Nächte geben, an denen Gerfast Rundschädel im Männerhaus zechte und die Weiber in seiner Hütte allein zurückließ!

Er rief ein trotziges "Ho!" in die Nacht, dann machte er sich hinkend auf den Weg nachhause. Kleine, beißend kalte Schneeflocken begannen über seinen Weg zu fallen, und hinter ihm ging ein Zittern durch die nächtlichen Wälder, denn in ihnen war etwas erwacht, das sie seit Jahrhunderten gefangen gehalten hatten.

 

Dumpf kauerte es zwischen den geborstenen Granitplatten seines Grabes, in sich ein leeres Dröhnen und der Gestank des eigenen Verrottens. Die trüben Sterne waren ihm noch zu grell, und das Rauschen des Windes in den Bäumen zu laut. Es hatte Hunger, aber kaum die Kraft zu wissen, was das war, 'Hunger'. Es gab so wenige Erinnerungen.

Verdammter Gode! Er hatte es mit einem beißenden Saft geblendet und gelähmt und in verfluchten Stein eingeschlossen, wo es ohne Schlaf hatte liegen müssen.

Das Maul war ihm verdorrt in der Ewigkeit des Liegens, sonst hätte es gebrüllt vor Wut und Schmerzen über die Leere in ihm.

Schmerzen hatte es bei jeder Bewegung, bei jedem Zucken des kraftlosen Leibes, denn es war gehäutet und bloß, schwarzes Blut floss haltlos hinaus in den Schnee. Sogar die Ranke gab keine Kraft.

Aber die Schmerzen ließen die Wut wachsen, und bald würde die Wut die Schmerzen besiegen und Kraft werden, so dass es wieder aufstehen und mit dem kalten Nachtwind schreiten konnte, wie es einem Gott der Nacht geziemte!

Die welken Augen waren fast blind, doch die trockenen Nüstern bemerkten den dünnen Dunstfaden, der aus dem Tal aufstieg. Ein Mensch, ein kräftiger Geruch von Leben. Nahrung!

Vor Schwäche zitternd schob es sich aus dem Grab. Es rutschte und rollte den Hang hinab. Dann buckelte es direkt über der Spur.

 

*

 

Barn stapfte tapfer durch den Schnee. Ihm war eiskalt, denn den Fellumhang seines Vaters hatte er in der Lawine verloren, und seine übrige Kleidung war vom Sturz zerrissen und durchnässt.

Gute drei Wegstunden hatte er schon hinter sich gebracht, war durch finsteren Wald und über den sturmzerzausten Krähkamm, einen Vorberg der Weißhöh, gelaufen. Und nun gingen ihm langsam die Kräfte aus.

Außerdem hatte er seit einiger Zeit das Gefühl, dass hinter ihm etwas sei.

Etwas, das seinem Weg folgte.

Manchmal, wenn er kurz stehengeblieben war, um die schmerzenden Beine auszuschütteln, hatte er unter dem Wind ein seltsames Geräusch gehört, ein schweres Schlurfen wie von den trägen Schritten eines Ogers, und knarrende Zweige, als drücke sie etwas riesiges rücksichtslos beiseite.

Bei jeder Rast waren diese Geräusche lauter und deutlicher geworden, so dass Barn es schließlich vorgezogen hatte, nicht mehr stehenzubleiben, auch wenn die Schmerzen immer stechender wurden.

Und nun, auf dem letzten Stück des Weges, das durch den finsteren Nebelforst, einen frostigen, dichten Fichtenwald, führte, kam die Angst. Barn glaubte das Schlurfen nun schon über dem Geräusch seiner Schritte zu hören, und der Nachtwind trug einen Geruch, der so bitter war wie die Luft in einem Hügelgrab.

Und plötzlich war da der Gedanke, dass sich gleich etwas von hinten auf seine Schulter legen würde, etwas länglich-schwarzes, gänzlich unmenschliches, und dann würde er herumgezerrt, um dem Ding gegenüberzustehen, dessen bloßer Anblick sein Herz zum Stillstand bringen würde. Ohne sich umzusehen, begann Barn zu laufen.

Trotz der Prellungen seiner Beine lief er schneller, als er je gelaufen war. Er lief, bis seine Lungen zu platzen drohten und rote Schleier vor seinen Augen tanzten. Er lief, bis er wusste, dass er stehenbleiben musste, wenn er nicht das Bewusstsein verlieren wollte.

Keuchend ließ er sich neben dem Weg zu Boden fallen, die zitternden Hände um den Schwertgriff verkrampft.

Er lauschte an seinem hämmernden Puls vorbei in die Finsternis, doch die Finsternis schwieg.

 

Es war dem Jungen lange gefolgt, hatte todlose Schmerzen ertragen aus Hunger nach Leben, hatte den erregenden Dunst wachsender Furcht in dem Kind gerochen, hatte schon eine Hand nach ihm ausgestreckt, als der Bursche unerwartet losgelaufen war.

Zu schwach, um zu folgen, hatte es zuckend vor ohnmächtiger Wut die Bäume um sich angefallen.

Wie konnte das Schicksal es wagen, ihm das Leben eines so lächerlichen Menschenkindes durch einen so schalen Trick vorzuenthalten? Das Leben, das es so dringend brauchte, um zurückzufinden zur eigenen Erhabenheit darüber!

Es wütete, zerbrach Zähne und Klauen an den Stämmen der Kiefern, bis es kraftlos über dem Weg niederbrach. Die verwehenden Ausdünstungen des Menschen brachten es fast zur Raserei.

Die Wut zwang es schließlich wieder auf die Beine. Es folgte weiter der Spur, denn es wusste, dass es die Schwäche der Menschen war, sich in ihrer Hilflosigkeit stets zu ihresgleichen zu schleppen.

Und am Ende des Waldes fand es eine weite, offene Fläche windgebrochener Bäume und gerodeten Landes. In der Mitte der Lichtung roch es eine Flut von Menschenbrut beieinander in kümmerlichen Holzhütten. Eine kleine, vor Leben brodelnde Siedlung, ein Opferfest.

Es wusste, es war zu schwach, um hinzugehen und sich zu nehmen, was es brauchte. Aber es würde in den Wäldern warten, bis es kräftiger wurde, und dann würde es hingehen und trinken.

 

*

 

Als Barn endlich müde und mit brennenden Augen zwischen die ersten Häuser des Dorfes Täppenwinkel humpelte, schimmerte es über den Bergen im Osten schon grau vom Licht des heraneilenden Morgens. Barn stapfte durch den schmutzigen Schnee des Mittwegs vorbei am Tanzboden zum Dorfplatz. Dort steuerte er auf eine Hütte mit hohem Giebel zu: Die Dorfschmiede, wo er mit Vater, Mutter und seiner kleinen, grässlichen Schwester Schneeburga lebte.

Als er endlich das breite Balkentor der Werkstatt sehen konnte, entfuhr ihm ein erleichterter Seufzer. Hier fühlte er sich sicher.

Er trat durch das Tor in die Dunkelheit der Schmiede, doch plötzlich waren seine in der lebensfeindlichen Umwelt der nördlichen Eisöden geschärften Sinne wieder alarmiert: Vor ihm in der Finsternis, die selbst seine scharfen Augen nicht durchdringen konnten, lauerte etwas. Etwas großes, schwer atmendes, umgeben von einem Geruch von fauligem Bier und verdautem Fleisch. Barn spannte alle Muskeln für die Flucht, doch da dröhnte schon eine tiefe, rohe Stimme auf ihn herunter, die ihn völlig lähmte.

"Soso, Sohnemann, kommste auch man wieder! Als se selbs' den fetten Farting reingebracht hatt'n, dacht'n wir schon, 's wär was passiert. Aber wir hätt'n ja wiss'n könn', dass unser Sohnemann nur wieder inne Berge rumtrödelt!"

Barn empfing aus dem Dunkel einen heftigen Schlag auf die linke Wange.

"Jau, Barn, du Nixnutz!" dröhnte eine noch tiefere Stimme dicht neben der ersten. "Mudder is' mir die ganze Nacht auffe Nerven gegang' mit ihr'm Gejammer. Sogar vom Sauffen hatt'se mich früher heimgeholt, ho!"

Auf seiner rechten Wange landete nun ein Hieb, der den jungen Norländer zu Boden schmetterte. Aber mit der Schnelligkeit eines in den lebensfeindlichen Dorfgemeinschaften der nördlichen Eisöden aufgewachsenen Knaben sammelte er wieder seine Kräfte und stemmte sich vom Boden hoch.

"Ho, Vatter! Ho Mudder!" rief er triumphierend, während er sich die brennenden Wangen rieb. "Ich hab' die zweite Prüfung bestanden, ho!"

"Jau, un' dafür binnich so stolz auf dich, dass ich glatt 'n Bär'n fressen konnte!" brüllte die Stimme des Vaters, und Barn wurde von gewaltigen Armen gepackt, in die Höhe gehoben und so heftig in stinkendes, drahtiges Bartgewirr gedrückt, dass das Luftholen zur Qual wurde.

"Hör' nich' auf den Vatter un' sein albernes Geschwätz", rief die Mutter dazwischen. "Ich hab' dir nur mit Not vom Abendess'n noch was aufheben könn'. Du bis' sicher hungrig!"

Barn wurde abgesetzt, dann wurde dem um Atem ringenden Jüngling jäh eine dicke, fettschleimige Scheibe kalten Bärenbratens zwischen die Zähne gedrängt. Er kaute tapfer und würgte das Fleischstück hinunter, um nicht daran zu ersticken.

"Siehste, Vatter?" triumphierte die Mutter. "Er hat alles auf einmal gegessen!"

"Jaujau! 'N richtiger Kerl isser!" dröhnte der Vater und hieb Barn kräftig über die Schultern, was den Bärenbraten beinahe wieder in die äußere Welt befördert hätte. Dann zog Helmer Halmschmid einen dicken Knüppel aus dem Gürtel und zeigte damit durch das Tor nach Osten, wo der blaugraue Himmel heller wurde.

"Un' nu' guck mal da 'rüber, mein Sohn."

"Ja, Vatter?" Barn wandte gehorsam den Kopf.

"Es is' noch vor Sonnenaufgang."

"Ja, Vatter", nickte Barn.

"Geh' zu Bett."

"Ja, Vatter."

 

Der Schmied begleitete seinen müden Sohn bis zu dem feuchten Lager aus Lämmerfell, wo Barn in mancher Nacht von den Brüsten und dem runden Hintern der schönen Skjörga geträumt hatte.

Dort wartete der Vater, bis sein Sohn sich die filzige Felldecke unter das Kinn gezogen und die Augen geschlossen hatte, dann stimmte er ein grässliches Gebrüll an.

"Aufsteh'n, du fauler Sack!" schrie er. "Heute is' der dritte Tag der Burschweih, un' du wärmst immer noch deine faule Haut im Bett! Raus mit dir, raus, sag' ich, rrraus!"

Und Helmer Halmschmid der Dorfschmied benutzte seinen Knüppel mit elterlicher Sorgfalt und erzieherischem Nachdruck, um Barn gemäß der Tradition Täppenwinkels aus dem Bett zu holen und ohne Frühstück hinaus in die eisige Dämmerung zu jagen, vor das Dorf, wo auf dem Anger schon die Krieger und der Häuptling warteten, um den Prüflingen die Aufgabe für den Tag bekanntzugeben.

 

*

 

Vor den purpurnen Eisschleiern des frühen Wintermorgens wirkten die in dicke Felle gehüllten Krieger wie eine Versammlung vormenschlicher Gottheiten. Die anderen Prüflinge kauerten schon in stiller Andacht vor ihnen im Schnee, als Barn herangehumpelt kam.

Der Vater gab ihm einen rüden Stoß, so dass er ebenfalls auf die Knie fiel.

"Mach' deim Vatter keine Schande!" brummte der Schmied. Verstohlen warf er ein kleines Bündel neben Barn. "Da is' dein Schwert un' noch'n Brot von Mudder. Aber lass' das bloß kein' seh'n!"

Barn riss das Bündel schnell an sich und versteckte es in seiner Jacke. Dann blickte er sich verstohlen unter den Jungen um und grinste: Farting war nicht mehr dabei, und auch der kleine Murkel Schneekuhl fehlte!

Jetzt war nur noch ungefähr eine Handvoll Prüflinge übrig: Joggurd Humpenkling, der Sohn des Skalden, Fran Mannhau, die Zwillinge Hanno und Nanno Säufferheld, Fallburz 'der Fauler' Haderbrut, und - natürlich - der blöde Neidgurt Hornhelm.

Barn tauschte ein vertrauliches Zwinkern mit seinem besten Freund Joggurd, schnitt dem zarten Fran eine Grimasse und streckte dem hochnäsigen Häuptlingsneffen Neidgurt die Zunge heraus. Der ignorierte ihn souverän, wie üblich.

"Es is' erschienen: Barn, Helmer Halmschmids Sohn!" verkündete die raue Stimme von Barns Vater hinter ihm.

"Das is' dann der letzte, Chef", meinte die dünne Stimme Gerfast Rundschädels aus den Reihen der Krieger. Eine gigantische, hornbehelmte Gestalt erhob sich über den anderen Männern. Das war Wolkenbrand Eisenvater, der Häuptling, der den mit Runenzeichen behauenen, mannshohen Steinblock in der Mitte des Angers bestieg, um zu den Prüflingen zu sprechen. Eine Weile stand er dort, ein fassbäuchiger Hüne in einem borstigen Bärenfell, der seine Arme hoch erhoben hatte, als wolle er den eisigen Morgen und alle vor sich still umarmen. In Wirklichkeit wollte er nur Atem holen, denn er war nicht mehr der Jüngste, und die Kletterei strengte ihn an.

"Burschen!" rief er schließlich herab von seinem Podest, dem Häuptlingsstein. "Weihburschen! Alle die hier steh'n, ham auch die zweite Prüfung der Burschweih bestand'n wie richtige Kerls, un' ich bin stolz auf alle! Aber nu' hört der Spaß auf! Nu' müsst ihr beweis'n, ob ihr Männer oder Mädels seid!"

Er machte eine Pause, bis sich ein beifälliges Murmeln unter den Kriegern erhob.

Dann fuhr er fort: "Der dritte Tag beginnt, un' ihr müsst alle rausgeh'n un' bis Sonnenuntergang eine Beute heimbring', die größer un' schwerer is' als ihr selbs'! Mir is' gleich, wasses is', nur, ihr müsst das Ding selbs' gefunden un' hier vor'n Häuptlingsstein geschleppt ham! Sons' dürft ihr wieder mitten Mädels spielen geh'n bis nächstes Jahr!"

Wieder murmelten die Krieger beifällig, bis der Häuptling "Un' nu' haut alle ab!" brüllte. Die Weihburschen sprangen auf, um in den bleichen Wintermorgen hinauszueilen und die Aufgabe zu erfüllen; die Krieger setzten sich gemächlich in Bewegung, um im Männerhaus den Tag bei Salzgebäck, Bier und Rundgesängen zu verbringen.

Direkt hinter dem Häuptlingsstein und dem immer noch breitbeinig dastehenden Wolkenbrand Eisenvater erhob sich in diesem Augenblick die blutrote Scheibe der aufgehenden Sonne und verlieh dem Häuptling kurz die Größe und schier überirdische Würde eines Helden aus der sagenhaften Frühzeit der Norländer - bis der letzte Prüfling in den schneebedeckten Wäldern rings um Täppenwinkel verschwunden war. Dann stieg Wolkenbrand stöhnend hinunter vom Würdenstein und entließ dabei einen so gewaltigen Furz in die frische Morgenluft, dass einige in der Nähe friedvoll mümmelnde Schneehasen erschrocken flohen.

 

Barn rannte zwischen den geraden, grauen Stämmen eines kleinen Tränenkiefernwäldchens. Er war so müde, dass er kaum verstanden hatte, was der alte Wolkenbrand gesagt hatte, aber als alle aufgesprungen waren, hatte er es einfach nachgemacht, und nun lief er allein durch diesen Wald, in dem es trotz der Winterkälte so angenehm harzig roch, wo der Boden frei war von Schnee, aber gut gepolstert von gefallenen Nadeln, und wo die steigende Morgensonne nicht heller schien als durch das Windloch über seinem Bett.

Er wurde langsamer, blieb am Rande einer verschneiten Lichtung schließlich stehen und blickte zu den Baumwipfeln auf. Sanft-silbern sickerte das Morgenlicht zwischen den Ästen auf ihn herab. Mit einem Male war er sehr schläfrig. Er gähnte breit, dann beschloss er, sich für eine Weile hinzusetzen. Sein Rücken fand Halt an einem Stamm.

Er fummelte das Bündel aus den Falten seiner Jacke und band das Schwert um. Probehalber zog er die Waffe. Sie blitzte und roch nach frischem Öl. Dann betrachtete er das Brot, das seine Mutter für ihn zurechtgemacht hatte. Es war dunkel und alt und sah so aus, als hätte man einfach einen knorrigen Ast der Länge nach gespalten und eine Scheibe schleimigen Bärenfleischs in den Spalt gelegt.

Aber Barn schmeckte es an diesem Morgen besser als Bullenbraten in Biersoße.

Nach einer intensiven Zeit heftigen Kauens und Schluckens entließ Barn einen zufriedenen Rülpser, faltete die Hände über dem Bauch und schloss die Augen.

Er musste nachdenken.

 

Es kauerte in der lichtlosen Mitte eines Waldes, in einer Mulde, die es in seinem Schmerz in den Boden gerissen hatte. Seine von der Ranke durchwucherten Flanken bebten vor Schwäche und unkontrollierbarer Wut.

Es hatte die Menschen vom Waldrand beobachtet, als plötzlich der feurige Ball über den Kanten der Berge erschienen war und ihn mit Strahlen aus heißem Licht zerschnitten hatte. Von neuem geblendet und idiotisch war es in das Herz des Waldes geflohen.

Dort erst, in kühlender Dunkelheit, hatte es sich erinnert an die Feindschaft des Lichts, das seinen Körper verbrennen wollte, wo immer es ihn fand.

Und es hatte sich erinnert an die Zeit vor dem kalten Schlaf und vor den Schmerzen, als es stark gewesen war und die Menschen es zum König gemacht hatten. Als sie es anflehten um Hilfe und Führung, und als es sie gegen die Feinde im Süden geführt hatte. Damals, als es das Licht des Tages noch nicht hatte fürchten müssen.

Gerade dieser kurze Anflug von Erinnerung ließ es die Tiefe seines Vergessens ahnen, und diese Ahnung war wie ein dumpfer Schmerz.

Es brauchte Kraft, um zu heilen und zu wachsen! Es wollte hinweg über diese hirnlose Wut, die mit dem eisigen Schlaf gekommen war! Wenn es doch ein Opfer hätte, um die Ranke zu füttern, damit sie ihn nährte! Es kratzte Käfer und Maden aus dem schleimigen Boden und verschlang Brocken der aasig stinkenden Erde, aber das war keine wahre Nahrung, es brauchte etwas anderes, Herzen und Innereien, dampfend warm und zuckend und gewürzt von Lebenskraft!

Es schnüffelte.

Ein Geruch kroch zwischen den düsteren Stämmen in die dürren Gänge seiner Nase. Es durchfuhr ihn wie ein Schock. Da war er wieder, der gleiche kleine Mensch wie in der Nacht zuvor! Schlafend, ahnungslos. Und ganz in der Nähe, weit genug im Schatten, dass das Licht es nicht brennen würde, wenn es aus dem Menschen fraß.

Die Schmerzen nicht achtend, erhob es sich. Wollte das Schicksal es prüfen mit diesem wiederholten Angebot? War es eine Art Symbol?

Oder eine Falle?

Hatte es nicht Dinge gegeben, die es hatte fürchten müssen?

Der Versuch des Nachdenkens machte es müde, träge und wütend. Es schüttelte den Kopf. Bald würde es essen! Mit dieser Überzeugung betäubte es sich und brachte die dünnen Stimmen des Zweifels und der Furcht zum Schweigen.

Es hinterließ eine stinkende schwarze Spur von Gewebefetzen und Eiter an den Bäumen, die es streifte.

 

Lautes Krachen brechender Äste tiefer im Wald schreckte Barn aus dem Schlaf. Er sprang auf und sah sich hektisch um, sah aber jenseits der Lichtung auf allen Seiten nur Bäume, und dazwischen Dunkelheit.

Seine linke Hand, mit der er - sehr zum Leidwesen seines Vaters - die Waffen führte, glitt zum Gürtel, wo das Schwert hing, das er selbst geschmiedet hatte.

Barn war ein geschickter und brutaler Schwertkämpfer, kein Knabe seines Alters hatte noch Lust, sich mit ihm zu messen, und den Älteren war es zu dumm, sich mit einem 'Kind' zu schlagen. So musste Barn hinter dem Haus seines Vaters meist allein üben. Und weil er wirklich sehr heftig wirbelte, parierte, grunzte und stach, war seine Klinge von Zuschauern 'Windmacher' getauft worden.

Er fasste den breiten Griff Windmachers, den er mit der weichen Haut seines ersten selbsterlegten Schneekaters umwickelt hatte, und lockerte die Waffe in der Scheide, damit er sie schnell ziehen konnte.

Nervöser Speichel drohte seine Kehle zu verschließen. Er wagte nicht zu husten. Die Geräusche kamen näher, direkt auf ihn zu. Äste splitterten und Wipfel zitterten. Es musste etwas sehr Großes sein, was sich dort im Wald bewegte. Ein Schneebär vielleicht. Einmal, als er zwölf Jahre alt gewesen war, war er in den Wäldern einem Schneebären begegnet.

Nur eine schnelle Flucht hatte ihn damals mit nichts Schlimmeren als einem blutigen Ohr davonkommen lassen. Schneebären waren zweimal größer als der größte Krieger, rochen schlimmer als Farting der Ochse an einem warmen Sommertag und gebärdeten sich wilder als die dürre Witwe Zicka, wenn man ihre Mastferkel mit Kletten bewarf.

Barn war sicher, dass nicht einmal Gott Gruunz es einem Burschen von vierzehn Jahren vorwerfen würde, wenn er vor so einer Bestie davonlief!

Andererseits wäre es eine wirklich große Sache, wenn er heute mit dem Kopf, dem Bratenfleisch und dem Fell eines Schneebären ins Dorf käme. Alle würden ihn bewundern, und dabei würde sich sicher die Gelegenheit ergeben, die schöne Skjörga einmal kräftig dort zu drücken, wo sie am rundesten war.

Besonders von diesem letzten Gedanken gefestigt, drehte er sich entschlossen um und überquerte mit ein paar weiten Schritten die Lichtung. Hinter einem Durcheinander gestürzter Bäume fand er Deckung. Er zog Windmacher und gab sich Mühe, ruhig zu atmen. Was immer da auf ihn zukam, es musste erst die freie Fläche überqueren. Das gab ihm genug Zeit, es zu betrachten und zu beschließen, ob er sich damit anlegen wollte oder ob er lieber woanders ein Abenteuer suchen sollte, das ihn Skjörga näherbrachte.

Eine Weile blieb es still, Barn hörte nur das Rauschen des eigenen Blutes, dann kam das Krachen brechender Bäume aus unmittelbarer Nähe, und er sah etwas.

Die Stämme am Rand der Lichtung lagen im Sonnenlicht, und so konnte er nur schattenhaft den Umriss von einem Ding dahinter erkennen, das riesig sein musste. Bucklig und zuckend reichte es fast bis unter die Wipfel der Kiefern. Es bewegte sich schwankend hinter dem hellen Gitter der Bäume, und er hörte ein schwaches Schnüffeln und Schlürfen, als würde dort drüben seine Witterung eingesaugt.

Barn biss sich in den rechten Zeigefinger. Die feinen Härchen in seinem Nacken stellten sich auf. Das war kein Schneebär. Nicht einmal die gewaltigen Mammone aus dunklen Vorzeiten, deren gefrorene Kadaver man hoch oben im Eis der Gletscher sehen konnte, waren so groß. Er kannte überhaupt kein Tier, das derart groß war.

Er wollte auch keines kennenlernen.

Aber was ihn schließlich wild und kopflos fliehen ließ, war der Geruch.

Faulig und schwer kam er mit der Plötzlichkeit eines Schlages zu ihm, und er war tausendmal schlimmer als der Dunst eines Schweinekobens, hundertmal übler als verwesendes Fleisch und zehnmal grässlicher als der Mundgeruch seines Vaters nach einer besonders langen Nacht im Männerhaus. Todbitter war er, und auch klebrig süß wie krankes Blut. Er ließ den Kopf schmerzen und verfinsterte den Tag wie ein aufgescheuchter Schwarm Ledermäuse.

Von etwas, das so stank, konnte nichts Gutes kommen.

Barn sprang auf, warf sein Schwert weg und rannte. Er rannte, bis er den Dorfanger vor sich sah.

 

"He-he, Barn Halmschmid, haste'n Hasen geseh'n, oder was rennste, als wollt' deine Mutter dir die Ohr'n waschen, he?"

Zerkratzt und zerschunden war Barn aus dem Wäldchen herausgebrochen, hatte den Anger überquert und den Häuptlingsstein erreicht. Dort saß der Häuptlingsneffe Neidgurt Hornhelm mit locker überkreuzten Beinen und schnitzte an einem Stock. Normalerweise hätte Barn nun die Zähne gefletscht und die Zunge herausgestreckt, aber er war zu entsetzt, um auf die gewohnte Weise auf seinen Feind zu reagieren.

Er ließ sich vor dem Stein zu Boden fallen und pumpte Luft.

Der Häuptlingsneffe steckte Schnitzmesser und Stock in den Gürtel, sprang herab und beugte sich grinsend über Barn. Sein langes, bleiches Gesicht war bedeckt von grellroten Aknepusteln, die er jedoch großspurig als 'Kampfnarben' bezeichnete.

"Haste jetz' das Sprechen ganz verlernt, Idiot, oder warum kannste dem Neffen deines Herren nich' antworten, wie sich das gehört, he?"

Der Häuptlingsneffe schnippte mit schmutzigen Fingern gegen Barns Nasenspitze.

Der konnte nur starren und fand keine rechten Worte.

"Wald. Ding. Schwarz. Groß! Un' stinkt!" stieß er schließlich hervor.

Neidgurt blickte Barn verständnislos an, dann verdrehte er plötzlich die Augen und brach er in ein hartes, bellendes Gelächter aus. Ein Regen von Speicheltropfen ging auf Barns Gesicht nieder.

"'N Bär!" rief der Häuptlingsneffe und führte einen albernen Tanz um den Liegenden herum auf. "Du hast'n Erdbären im Wald geseh'n un' dich erschreckt, hm, mein Kleiner?" fragte er mitleidsvoll und ging so weit, Barn über die Haare zu streichen. "Schön, dasde ihn für mich aufgestöbert hast. Da muss ich nich'n ganzen Tag 'rumsuchen, um meine dritte Prüfung zu bestehen."

Neidgurt zog einen riesigen Bronzedolch und streckte ihn hoch zur Sonne.

"Sieh her! Ein echter Kerl erlegt einen Bär'n mittem Messer. Mein Onkel der Häuptling hat mir das gesagt. Ich geh' jetz' da innen Wald un' hol' mir das Vieh. Un' du gehst mal besser heim un' spielst mit deiner stinkigen Schwester. Aber pass auf, dasse dich nich' flachschlägt, Kleiner! He-he-he!"

Neidgurt stand auf und schritt betont lässig auf das Tränenkiefernwäldchen zu, dessen schlanke, gerade Stämme im Licht der steigenden Sonne nun goldbraun strahlten. Am Waldrand blieb er kurz stehen und winkte Barn einen letzten, höhnischen Gruß zu. Dann verschwand er in den Schatten zwischen den Bäumen.

Barn blinzelte. Er wusste, eigentlich sollte er in das Dorf laufen, um die Krieger zu sammeln, oder wenigstens Neidgurt zurückholen und warnen. Aber der  Schnee neben dem Häuptlingsstein war so weich, und die Sonnenstrahlen streichelten so beruhigend über sein Gesicht. Er starrte in den blassen, blauen Himmel, wo ein launischer Wind ein paar Schäfchenwolken herumjagte. Langsam sanken ihm die Lider über die Augen.

Für den ersten grauenvollen Schrei aus dem Wald hatte er noch ein mattes Stirnrunzeln übrig. Dann tauchte er in einen simplen Traum von Kampf und Heldentum ein, der seine Sinne völlig gefangen nahm.

 

*

 

"He, Alter, was liegste'n hier 'rum? Is' schon Mittach, un' du hast noch keine Beute!"

Barn riss erschrocken die Augen auf, sah einen Schatten über sich und sprang mit der Gewandtheit einer Katze auf die Beine. "Wie? Wie?" rief er nervös, während seine linke Hand hektisch nach dem Schwert suchte. Doch noch bevor er feststellen konnte, dass er seine Waffe verloren hatte, erkannte er seinen Freund Joggurd. Der zerrte mit hochrotem Gesicht einen großen Baumstamm hinter sich her.

"Ho, Joggurd, machst'n du hier?" dröhnte Barn und hieb dem Kleineren eine breite Hand auf die Schulter.

"Ich besteh' meine dritte Prüfung!" grunzte Joggurd und ließ den Baum neben den Häuptlingsstein fallen. Umständlich wischte er sich mit dem Unterarm den Schweiß von der Stirn. Er wies auf den Baumstamm. "Der macht nich' viel her, klar, aber er war leicht zu fangen, un' größer un' schwerer als ich isser allemal!"

Joggurd war der Sohn von Jofrech Humpenkling, dem Skalden von Täppenwinkel und galt als ein recht intelligenter Bursche - was nichts anderes hieß, als dass die Krieger des Dorfes ihn für einen Feigling hielten. Doch seine einfallsreichen Ausreden hatten den ungestümen Barn schon oft vor dem Zorn seiner Eltern gerettet, und die beiden ungleichen Knaben waren seit langem beste Freunde.

Joggurd setzte sich auf seine knorrige Beute. "So, das hätt' ich", seufzte er zufrieden. Dann strich er eine Strähne seines rotblonden Haares aus der Stirn und sah Barn scharf an. "Du musst zuseh'n, dass du noch'n Ding findest bis heut' Abend. Ich hab' nämlich keine Lust, ohne dich in die weite Welt zu geh'n."

Barn nickte. Auf Joggurd war Verlass. Joggurd wusste viele zotige Tanzlieder. Joggurd konnte Katzenfallen bauen. Und Joggurd konnte Feuer machen und darin Fleisch braten, ohne sich die Finger zu verbrennen, eine Kunst, der Barn den höchsten Respekt entgegenbrachte.

"Weißte, ich hab' da sogar 'ne Idee", fuhr Joggurd fort. "Ich wollt's heut' früh selber schon machen, aber dann hab' ich gedacht, vielleicht bin ich nich' flink und kräftig genug. Aber du, du könnt'st das machen."

Barn nickte wieder.

"Ho, Joggurd, klar!" rief er. "Aber wass'n überhaupt?"

Joggurd stand auf und trat dicht an Barn heran.

"Die fette Mastsau von der ollen Zicka!" raunte er seinem Freund ins Ohr. "Die wiegt bestimmt doppelt so viel wie der Gode. Wenn du die kriegen kannst un' herbringst, das wär was! Mein Vatter hat gesagt, dass der alte Wolkenbrand selber schon'n Auge auf die Sau geworfen hat, sich aber nich traut, sie zu klauen, weil die Zicka ihn mal nachts in ihren Beerenbüschen erwischt hat und ihm mit ihr'm Löffel so tüchtig das Fell gerührt hat, dass er jetz' noch bei schlechtem Wetter Schmerzen hat."

Barn nickte heftig.

Joggurd blickte auf zur strahlenden Scheibe der Sonne, die teilnahmslos in der Mitte des Himmels hing.

"Jetz' is' die beste Zeit, der Zicka 'n Schwein zu klau'n. Meine Mudder sagt, dasse Mittags immer schläft!"

Barn nickte.

 

*

 

Zuckend vor unkontrollierbarer Wut zerriss es den ausgeweideten Kadaver des Menschen zu einem blutigen Brei und verschmierte ihn über Boden und Bäume.

Nicht einmal berührt hatte es ihn, er war einfach gekommen, hatte es gesehen und war auf der Stelle vor Angst gestorben. Seine Lebenskraft war die einer Maus gewesen!

Aber selbst der schwache Geschmack hatte Erinnerungen gerufen. Es gab da ein Ziel, das es unbedingt erreichen musste, dessen Überwindung von ihm gefordert worden war, und dazu brauchte es alle Kraft, die es in sich saugen konnte. Da war die Hoffnung auf Verwandlung, weitere Wandlung in etwas strahlend Schönes, das endlich hinaufsteigen konnte in die Himmel, dorthin, wo die anderen Götter herrschten!

Doch jetzt war da statt Kraft nur Wut, die es kaum beherrschen konnte, Wut und Schwäche. Wut über die Schwäche und Schwäche durch die Wut!

Für ein Zwinkern lang erinnerte es sich an zwei schwarzen Schlangen, die zu ihm gekommen waren und sich seine Brüder genannt hatten. Sie hatten ihm von der Verwandlung erzählt. Aber in der Erinnerung an die Brüder vibrierte auch ein Gefühl des Unbehagens, das es verwirrte und ärgerte. Es wollte solche Dinge nicht denken, die ihm Unbehagen verursachten.

Die Wut kam zurück, es verkrampfte die Krallen, bis die Ranke sich schmerzhaft um seine Rippen schloss. Sie hätte es gerne hinausgetrieben, um zu töten, aber jetzt, wo es Nahrung gehabt hatte, war es besser, zu ruhen und Kraft zu sammeln, bis das Licht der Sonne vor der Nacht floh. Die Ranke wurde ruhig und sandte bitteres Salz durch seine Sinne. Die Schmerzen würden sie heilen.

 

*

 

Gebückt und ständig Blicke in jede Richtung werfend, schlich sich Barn an den Hof der Witwe Zicka an. Hinter ihm, bei der Hütte von Wulle Schneekuhl, hatten sich ein paar Kinder versammelt und verwetteten lautstark bunte Bachkiesel auf seinen Misserfolg. Ekelhafte, dreckige Rotznasen!

"Du wirs' das schon machen, un' heut' Abend biste der Held der Burschweih!" hatte Joggurd ihm beim Häuptlingsstein noch zugerufen. Dann hatte er sich auf seinen Baumstamm gelegt und war eingeschlafen.

Barn nickte und presste tapfer seine Lippen aufeinander. Jetzt, angesichts des Hofes und der düsteren Gebäude darauf, war er von seinem Erfolg nicht mehr so überzeugt. Viele Burschen und sogar erwachsene Krieger waren schon vor dem Zorn der dürren Witwe und ihrem riesigen Holzlöffel geflohen. Und wer außer Gruunz wusste schon, ob das alte Weib wirklich schlief, oder ob es hinter dem kleinen Fenster lauerte, das wie ein tückisches Auge im Giebel ihrer Hütte blinzelte?

Er erreichte den genagelten Zaun, der Hof, Hütte und Stall umgab, und spähte wachsam darüber. Das Hofgelände war eine schmutzige Angelegenheit aus Schlamm, Schnee und Schweinekot. Es war leer. Die Fensterläden und die niedrige Hintertür der Wohnhütte zur Linken waren geschlossen. Allerlei Arbeitsgerät lehnte an der verwitterten Hüttenwand, darunter auch ein riesiger Holzlöffel, bei dessen Anblick der junge Barbar trocken schlucken musste. Er blickte zum anderen Ende des Hofes. Das Tor des Stalles stand weit offen. Das eifrige Schnauben und Grunzen von Schweinen drang heraus.

Barn starrte und lauschte eine Weile, dann holte er tief Luft und sprang schwungvoll über den Zaun.

Auf der anderen Seite landete er im halbgefrorenen Schweinedreck, rutschte aus und fiel schmerzhaft auf das Gesäß. Laut fluchend sprang er wieder auf. Dann verstummte er abrupt, schlug die Hände vor den Mund und sah sich erschrocken um.

Doch der Hof blieb leer. Von der Hütte kamen keine Geräusche, und das frohe Grunzen der Schweine hatte sich nicht verändert.

Der junge Nordmann wartete, bis sein Atem wieder ruhig ging, dann kroch er im Schatten des Zaunes hin zum Stall. Vorsichtig spähte er durch das Tor.

Warmer Schweinedunst stieg ihm entgegen. Neben den Torpfosten suchten sich ein paar Ferkel lärmend in der schlammigen Suhle einen Imbiss, und hinter ihnen, eingesunken in das morastverklebte Stroh des Stallbodens, ruhte die Sau.

Barn erstarrte in Ehrfurcht.

Sie lag auf der Seite. Das ungeheure, dunkelborstige Rund ihres Rumpfes wirkte wie ein waldbestandener Bergrücken, die langsame Bewegung ihres Atmens schien die Decke des Stalles heben zu wollen. Allein der Kopf hatte die Größe eines Bierfasses, und die mächtigen Säulen der Schenkel mussten der Traum jedes Haxenfreundes sein. Das ganze Dorf hätte tagelang vom Fleisch dieses Tieres leben können.

Die Sau hob träge den Kopf und sah Barn aus freundlichen blauen Augen an. Sie grunzte schwach, aber warnend genug, dass die Ferkel ihre Rüssel aus dem Dreck zogen und den jungen Barbaren erschrocken musterten.

Der ließ seinen Blick unsicher zwischen Ferkeln und Sau schweifen. Er wusste, dass Schweine schnell in Aufregung gerieten und dann sehr laut werden konnten. Aber wie er diese riesige Sau ohne Aufregung auf die Beine, aus dem Stall und über den Zaun bekommen sollte, wusste er nicht. Doch ihm war auch klar, welchen ungeheuren Ruhm ihm der Diebstahl der Mastsau einbringen würde - vielleicht verfasste der Skalde sogar einen Gesang darauf.

Barn schloss kurz die Augen und erlaubte sich einen kleinen Tagtraum von ruhmvollen Triumphzügen, einer Burschweih mit Hörnerklang und der begeisterten Hingabe der schönen Skjörga.

Daher zuckte er auch erschrocken zusammen, als ihn plötzlich etwas im Schritt berührte. Kampfbereit glitten seine Fäuste nach vorne, aber vor ihm stand nur die Sau, die auf zauberisch lautlose Weise aufgestanden sein musste und ihn nun mit feuchter Nase beschnupperte. Direkt vor seinen Händen ragte sie auf wie ein haariges Vorgebirge, gigantisch, sicherlich zehnmal so schwer wie er selbst – und zum Greifen nah. Barn überlegte nicht, sondern packte die Sau mit aller Kraft im Nacken. So hatte er schon als kleiner Junge Welpen und Kätzchen gefangen.

Barn schwor hinterher, dass die Götterknechte in diesem Augenblick den Sonnenwagen aus der Bahn gelenkt, ihn damit überfahren und dann quer über die gesamte Himmelskuppel mitgeschleift hätten.

Er erhielt einen ungeheuren Schlag von vorne, wurde durch die Luft gewirbelt, landete in rauen Borsten und fand sich plötzlich auf etwas sitzend, das wie rasend seine Runden im Hof der Witwe Zicka drehte. Dann sah er jäh eine Wand, hörte das Brechen von Brettern und bekam einen heftigen Hieb gegen die Stirn. Grelle Sterne strahlten vor seinen Augen. Nun führte der höllische Ritt durch das Innere der Hütte der Witwe Zicka und eine schmale Stiege hinauf. Hier hörte Barn einen schrillen Schrei, Bärenfelldecken flogen, und irgendetwas verkrallte sich zeternd in seinem Haar. Polternd ging es dann wieder die Stiege hinab, eine Tür wurde zerschmettert, und Barn war wieder unter freiem Himmel. Etwas begann, rhythmisch auf seinen Kopf einzuschlagen. Dazu gab es Geräusche, die mit der Zeit wie "Lausebengel! Lausebengel!" klangen.

Der junge Barbar passierte eine ekstatisch grölende Kinderschar, die Hütte von Wulle Schneekuhl, die Schmiede, die heilige Krüppelkiefer des Gruunz, dann war er auf dem Dorfplatz. Kurz sah er den eigenen Vater, daneben Wolkenbrand Eisenvater, doch ging es schon weiter, rund um das Männerhaus, in dessen Tür rote, verdutzte Gesichter erschienen, und vorbei an der Hütte des Gerfast Rundschädel, neben der ausgerechnet Skjörga mit einem Eimer in der Hand stand. Dann wendete die Sau plötzlich und galoppierte über die dicken Bohlen des Tanzbodens zurück auf den Dorfplatz, direkt auf das Burschtor zu. Das Gerüst wurde von der wilden Sau aus dem Boden gerissen und hochgeschleudert. Der wirbelnde Querbalken verpasste Barn einen weiteren Schlag auf die Nase. Was er dann noch sah, war das wutverzerrte Gesicht der Witwe Zicka, die sich in sein Haar verkrallt hatte, und einen Holzlöffel, der ihn immer wieder am linken Ohr traf. Aber das nahm er schon nicht mehr ernst. Zwinkernd verlor er das Bewusstsein.

 

*

 

Barn erwachte inmitten des frohen Lärms von Gesang und Tanz und überlegte schon, ob dies die Tafel des ewigen Festmahls beim Gott Gruunz war, da erschien über ihm das breit lachende Gesicht seines Kumpels Joggurd.

"He Alter, echt einmalig!" rief Joggurd. "Bei Gruunz, das Dorf liegt dir zu Füßen! Das war so ziemlich die schrägste Schau, die seit zwanzig Jahren einer bei der Burschweih hingelegt hat, sagt mein Vatter, un' der is' Skalde un' musses wissen! Wie du mittem Tor um den Hals un' der alten Zicka im Nacken auf der Riesensau hier 'rausgesaust kamst, da hätt' ich mich echt wegschmeißen könn'! Un' wie ihr dann voll gegen den Häuptlingsstein gerannt seid un' die Zicka im Bogen durch die Luft geflogen is', bei Gruunz, ich wär' bald verreckt vor Lachen! Komm' hoch, der Häuptling selbs' will dir gratulier'n! Wir könn' sogar Bier ham!"

Der junge Barbar ergriff die dargereichte Hand und ließ sich hochziehen. Sein Herz pochte schmerzhaft in seinem Schädel, und er sah erst einmal nur eine Menge bunter Kreise. Doch nach einer Zeit des Brummens und Augenwischens ging es ihm besser, und er konnte sich umschauen.

Es war dunkel. Er stand in der Mitte des Dorfangers, neben dem Häuptlingsstein, und vor ihm brannte ein mächtiges Feuer. Darüber drehte sich auf dem entasteten Stamm einer nicht ganz kleinen Kiefer die riesige Sau, nun ohne Borsten, dafür mit glänzend-brauner Schwarte. Vier Krieger mit entblößten Oberkörpern waren nötig, um den Spieß gleichmäßig zu drehen. Sieben Frauen liefen geschäftig um das Schwein herum, um es aus Schöpfkellen mit Schmalz und Bier zu begießen, mit Kräutern zu würzen und das Feuer zu unterhalten.

Tische waren rings um das Feuer aufgebaut.

Barn betrachtete die Sau und begann zu grinsen. Ho, hatte er es am Ende geschafft?

Er wollte gerade den Mund aufreißen und ein frohes Gebrüll anstimmen, da traf ihn ein Schlag mit solcher Gewalt zwischen die Schulterblätter, dass ihm der Atem aus der Brust gepresst wurde.

"Harrharrharr, Barn, Helmerssohn!" dröhnte eine Stimme wie ein Kriegshorn, und ein weiterer Schlag landete mit vernichtender Wucht zwischen seinen Schultern. Der junge Barbar sah die roten Blitze des Schmerzes, aber es gelang ihm irgendwie, stehenzubleiben und sich sogar umzudrehen.

Mächtig wie ein Berg ragte Wolkenbrand Eisenvater vor ihm auf, den Mund zu einem ungeheuerlichen Grinsen verzogen. Er hielt einen riesigen Humpen aus Holz und Leder in einer Hand. Schäumendes Bier schwappte darin, und auf eine Seite war eine derbe Darstellung der sagenhaften Bierbrücke eingekerbt. Diese prachtvolle Kostbarkeit hielt er Barn entgegen.

"Da, trink, kleiner Mann! Hast uns gestern'n büschen Ärger gemacht, oben, auffem Berg, ne?" Der Häuptling zwinkerte ihm zu. "Aber heute! Heute haste eine Tat vollbracht, auf die'n alter Krieger wie ich noch stolz sein würde! Der alten Zicka den köstlichsten Braten direkt unter'm Hintern weggeklaut! Hier, das is' dein eigener Humpen, der ab sofort für dich im Männerhaus bereitsteht!"

Barn war sprachlos vor Stolz. Sein kräftiger Unterkiefer sank herab. Einen eigenen Humpen im Männerhaus zu haben, bevor er überhaupt zum Mann geworden war, das war eine unerhörte Sache! Er wusste nicht, ob selbst Gott Gruunz in seiner Jugend so etwas gehabt hatte!

"Na, nu' nimm schon un' trink!" brummte der Häuptling gutmütig. "Un' noch'n guter Rat - geh' die nächsten Jahre nich' mehr in die Nähe von der Zicka, hm? Sie hat sich in ihr'm Haus eingeriegelt, aber die Nacht is' ja noch lang - un' dunkel!"

Barn nickte eifrig und empfing den Humpen aus des Häuptlings Hand. Er war so aufgeregt, dass er sich die Hälfte des Biers darin über Gesicht und Kleidung schüttete. Der Rest rann würzig und kühl seine Kehle hinab und entfachte in seinem hungrigen Magen ein kleines Feuer. Als der Humpen leer war, riss der junge Barbar ihn hoch über den Kopf.

Um ihn herum entstand betäubender Lärm. Jofrech der Skalde blies einen entsetzlichen Ton auf dem Ochshorn. Die Knaben pfiffen und johlten, die Mädels kreischten, die Männer brüllten und schlugen mit den Schwertern auf ihre Schilde. Die Frauen lächelten milde. Bärenkrallenketten rasselten. Helme wurden in die Luft geworfen und nie wiedergefunden. Ein Stück wollene Frauenunterwäsche flog am Gesicht des jungen Barbaren vorbei, ohne dass er herausfinden konnte, wer es geworfen hatte.

Jäh fühlte Barn sich emporgehoben: Die besten Krieger des Dorfes nahmen ihn auf ihre Schultern und trugen ihn einmal um den Häuptlingsstein. Dann wurde er unter derben Scherzen mitten in die Beifall grölende Menge geschleudert, und die Schulterschläge gingen wie Hagel auf ihn nieder.

Als alle genug gratuliert hatten, liefen die Leute auseinander, um wieder zu essen, zu trinken, zu singen oder zu tanzen.

Der Skalde blies noch einmal in sein Horn, und das war es dann.

Barn blieb völlig zerschlagen auf dem Boden liegen. Er war stolz, aber auch froh, dass das Spektakel vorbei war.

Mit müden Augen sah er, wie der Häuptling einen Tisch erstieg.

"Männer und Weiber von Täppenwinkel!" rief Wolkenbrand Eisenvater. "Männer und Weiber von Täppenwinkel! So geht nun der dritte Tag der Burschweih zu ende, und ich bin stolz, euch sagen zu könn', dass alle bestanden ham..." Er runzelte die Stirn. "Alle bis auf mein' Schwestersohn Neidgurt, der noch nich' zurückgekehrt is'. Trotzdem woll'n wir feiern, bis der Gode die Mitternacht ausruft, bei Gruunz! Setzt euch alle, wir wollen die Sau unter uns aufteilen."

Der Häuptling begann aufzuzählen, was alles gefeiert werden musste, und wie man dies tun würde, aber Barn, den die Prüfung, der Triumph, vor allem aber das Bier sehr geschwächt hatte, mochte nicht mehr folgen. Die Worte wurden zu bloßem Rauschen. Er schlief ein.

 

*

 

"He, Barn wach' auf! Es is' nach der Mitternacht, der Neidgurt is' noch nich' zurück, un' irgendwas is' in dem Wald da vorne. Hörste die Geräusche?"

Das aufgeregte Gesicht Joggurds pendelte wieder einmal über dem erwachenden Barn, unheimlich erleuchtet von der roten Glut eines sterbenden Feuers.

"Der Häuptling hat die Weiber un' Alten mit mei'm Vatter un' dem Goden ins Dorf geschickt un' will, dass die übrigen Krieger un' wir Weihburschen den blöden Neidgurt suchen! Er meint, dass da wohl'n ziemlich großer Schneebär draußen in den Wäldern is'; un' dass der Neidgurt vielleicht Hilfe braucht!"

Barn reagierte nur mit mattem Blinzeln auf die hastig hervorgestoßenen Erläuterungen. Doch da erhob sich die Stimme des Häuptlings über alle anderen Geräusche, und Barn war unwiderruflich wach.

"Männer!" dröhnte Wolkenbrand. "Männer, ihr wisst, es war kein leichter Winter! Wenn ein Schneebär so dicht vor unser Dorf kommt, dass man ihn hör'n kann, dann treibt ihn der Hunger! Un' es gibt nichts Schlimmeres als ein' hungrigen Schneebär im Winter! Also holt sich jeder eine Fackel, un' wir geh'n in Gruppen zu drei! Immer zwei Krieger un' ein Bursche! Die Söhne zu ihren Vätern! Die Waffen blank in den Fäusten!"

 

Barn war zusammen mit seinem Vater und dem grimmig blickenden Gerfast Rundschädel in einer Gruppe. Sie gingen langsam auf den Waldrand zu. Vater trug sein riesiges Schwert 'Beinspalter', Gerfast die gewaltige Streitaxt 'Mordsklopper', eine sagenhafte Waffe aus der Frühzeit Täppenwinkels, mit der Rundschädel Rundschädel, der Ururgroßvater Gerfasts, einmal den Eishandpass ganz allein einen Tag und eine Nacht gegen die angreifenden Horden der Wulkenschinder gehalten haben sollte.

 

Barns Benommenheit ließ ihn den Aufbruch der Krieger wie einen Traum erleben. Das unruhige Licht der Fackeln verwob die Männer und ihre Schatten zu geisterhaften Riesengestalten, die wie lebender Nebel über den Anger flossen. Selbst Joggurds aufmunterndes Abschiedswinken wurde zur drohenden Klaue eines Dämons.

Dann kam der Wald. Die Fackeln färbten die Stämme rotgolden, wie es die Strahlen der aufgehenden Sonne schon am Morgen dieses ereignisreichen Tages getan hatten.

Und da spürte der junge Barbar wieder die Angst, die ihn zuerst im nächtlichen Nebelforst und dann in dem kleinen, namenlosen Wäldchen überfallen hatte. Plötzlich hielt es seine Kiefer nicht mehr aufeinander, sie begannen zu zittern wie seine Hände. Er wusste auf einmal wieder ganz genau, dass dort vor ihnen, in der Finsternis des Waldes, das Ding lauerte, dem sie mit ihren Waffen und Muskeln nichts anhaben konnten, das sie verschlingen würde in einem blutroten Regen ungeheuren Schmerzes.

Da traf ihn ein mächtiger Schlag von hinten auf die Schultern.

"He-jau, was issen los, Sohnemann?" dröhnte die heisere Stimme seines Vaters hinter ihm. "Haste Angst im Dunkeln, oder warum zitterste wie'n Feigbeerbusch im Wind?"

"Ho, n-nein, Vatter", stammelte Barn befangen. "Mir is' nur kalt, so innen kaputten Sachen."

"Gruunz! 'N Nordmann fürcht nix un'n Nordmann friert nich', selbs' wenn er nackend is', wie, Gerfast?" rief Helmer Halmschmid der Schmied, während er tiefhängende, schneeschwere Kiefernäste beiseite bog als wären es Grashalme.

"Hoho, Helmer, kannste ein' drauf lassen!" antwortete Gerfast und schwenkte die Kriegsaxt. "Nich' mal meine Mädels ham vor irgendwas Angst, vor allem nich' die Skjörga, gruunzverdammt! Die is' ein Mädel, die Skjörga, bei Glungg!"

Gerfast Rundschädel hatte eine dünne, hohe Stimme und keine Haare mehr auf dem Kopf, was zusammen mit dem Umstand, dass er in den siebenunddreißig Jahren seines Lebens ausschließlich Töchter gezeugt hatte, Grund so manchen Spottes in den Männerversammlungen gewesen war.

Gerfast versuchte dies auszugleichen durch markig-männliche Sprüche, Kapuzen aus dem Fell des lockenzottigen Winterrinds und exzellente Axtarbeit bei Überfällen und internen Diskussionen.

Barns Vater, Halmschmid der Schmied, Gerfasts bester Freund, war der größte und kräftigste Mann im Dorf, seine Oberarme waren dicker als der Wanst eines durchschnittlichen Mastferkels, und ein einzelner Schwertschlag von ihm konnte eine hundertjährige Kiefer fällen.

Es gab also keinen Grund für Barn, in dieser Begleitung irgendetwas zu fürchten.

Doch als sich die Schatten der Baumstämme wie ein Gitter um ihn schlossen, wuchs seine Angst noch und verkrampfte seine Muskeln, bis er kaum mehr gehen konnte. Der Vater bemerkte es wohl, beschloss aber, keine Rücksicht darauf zu nehmen. Er gab seinem Sohn unauffällig einen kräftigen Stoß ins Kreuz und zischte: "Mach mir keine Schande, Sohnemann, ich warn' dich!"

Barn stieß ein atemloses "Klar, Vatter!" hervor und umklammerte den Griff seines Dolches so fest, dass die Knöchel weiß hervortraten. Er glaubte, schon jenen aasigen Dunst in den Nüstern zu spüren, der ihn am Morgen in der Kehle gewürgt hatte.

 

Sie waren nahe. Mit einem schmerzenden Ziehen im Kiefer registrierte es die Menschen. Es waren mehr, als es erwartet hatte. Die Lichter ihrer Fackeln zwischen den Bäumen stachen wie Lanzenspitzen in seine Haut. Eine jähe Unsicherheit überschwemmte seine Gier. Entsetzt begriff es, dass es einem Angriff der Menschen und ihrer Lichter nicht würde standhalten können.

Obwohl die rote Wut die Ränder seiner Augen verschmierte und die Ranke es mit würgenden Schmerzen durchbohrte, kroch es weg von den Lichtern und Stimmen. Seine schwarzen Flanken zitterten. Es musste sie einzeln treffen und töten, bis es genug Kraft hatte, um wie früher in die Dörfer zu schreiten, wo die weichen, runden Frauen und die duftenden Kinder waren, deren Kraft viel tiefer ging als die der dumpfen Krieger!

 

Nur mit Mühe einen Fuß sicher vor den anderen setzend, folgte Barn dem Rücken seines Vaters. Der harzige Ruß der Fackel biss ihn in die Augen. Seine Hände fanden in dem kleinen Griff des Dolches keinen Trost, und in seinem Kopf drehte und wendete er fieberhaft immer wieder nur den einen Gedanken: wenn man zwar noch ein Knabe war, aber bereits einen eigenen Krug im Männerhaus hatte, wurde man da nach dem Tode schon an die Tafel des ewigen Festmahls geladen, oder war man trotzdem auf alle Ewigkeit zum Dienen verdammt?

Der Vater blieb so plötzlich stehen, dass Barn gegen ihn prallte. Helmer fluchte jedoch nicht, wie er es sonst getan hätte, sondern sog nur scharf die Luft ein.

"Gerfast, kommste mal?" sprach er gepresst. "Un' sieh zu, dass der Junge hinter mir bleibt!"

"Bleib da steh'n", wies Gerfast barsch den jungen Barbaren an und trat neben Helmer. Dann machte er ebenfalls merkwürdig erstickte Geräusche.

"Wir müssen Wolkenbrand rufen!" sagte der Schmied nach einer langen Pause.

"Ja." stimmte Gerfast zu und ließ dabei jede Markigkeit vermissen.

"Ruf' du. Ich kann nich, mir steckt was im Hals", bat Halmschmid nach einer weiteren Weile.

"Ich kann auch nich' rufen", antwortete Gerfast dünn. "Mir fehlt die Luft."

"Dann geh' ihn holen. Ich bleib hier beim Barn."

Gerfast schluckte und umklammerte seine Axt. "Gut. Dann krieg' ich aber die Fackel."

 

Nachdem Gerfast gegangen war, war es stockfinster um Barn und seinen Vater.

"Mein Sohn?" fragte Helmer Halmschmid.

Barn schrak zusammen. "Ja, Vatter?"

"Haste schon mal ein'n geseh'n, der bei der Burschweih oben auffer Weißhöh Deckung zwischen den Deppenfelsen gesucht hat un' dabei abgestürzt is'?"

Barn überlegte genau, dann schüttelte er den Kopf.

"Nee, Vatter", sagte er.

"Genauso sieht der Neidgurt aus. Der liegt nämlich da vorn un' is' tot. Nur, dasse Weißhöh eine Wegstunde weit weg is'."

Danach schwiegen beide, und es war gut, dass sie Norländer waren, denn ein Mensch mit etwas Phantasie wäre in der Dunkelheit vor Angst gestorben.

 

Schließlich kamen die Lichter zahlreicher Fackeln heran, und der Häuptling, die sechs Weihburschen und die elf Krieger des Dorfes betrachteten die Reste des Neffen Neidgurt. Er sah wirklich nicht gut aus. Die Zwillinge Hanno und Nanno erbrachen sich gleichzeitig bei dem Anblick, und Joggurds sonst so fröhliches Gesicht wurde bleich wie ein sommersprossiger Rohmilchkäse.

"Das war kein Bär", stellte Wolkenbrand fest. Seine Stimme war ruhig, aber seine Augen waren zu kleinen, roten Schlitzen verkniffen. "Was immer ihn so zugerichtet hat, es hat nix von ihm gefress'n außer den Därmen. Un' sowas fressen Bär'n nich. Jedenfalls die anständigen Norländerbär'n nich'."

Die anderen Männer, alles erfahrene Jäger, nickten bedeutungsschwer.

"Un' es war auch keiner von Schneeschiss oder Wulkenschand!" rief der alte Schlukker Erbrecht. "Die könn' ja alle nich' mal'n Schneehuhn töten, könn' die nich'!"

Der Häuptling grunzte verächtlich.

"Geht mal hier 'rum un' sucht nach Spuren. Aber geht nur so weit, dass noch jeder jed'n seh'n kann, klar?" befahl er mit rauer Stimme.

Die Männer brummten, dann verteilten sie sich.

 

"Hier liegt der Dolch vom Neidgurt!" kam bald die Stimme von Bagger Mannhau aus dem Wald.

"Da sin' Spuren von was Großem, was Zweige abgebrochen hat. Sie geh'n nach Nord'n!" rief Gurf Säufferheld.

"Jau! Viele Zweige gebroch'n, un' manche ganz schön weit ob'n!" ergänzte Gurf Säufferhelds Bruder Nöter Säufferheld.

"Bäh! Da klebt so'n schwarzer Dreck annem Baum!" fluchte der stets mürrische Steinhand Haderbrut von weiter hinten. "Stinkt schlimmer als'n toter Schweinearsch"

"Auuuh! Hier auffer Lichtung hat irgend'n Idiot sein Schwert liegen lassen!" beschwerte sich Wulle Schneekuhl.

 

Auf Befehl des Häuptlings kamen dann alle wieder zusammen, und Wolkenbrand besah sich die Funde. Das Schwert betrachtete er besonders lange.

"Das is' das Schwert von Helmer Halmschmids Sohn!" rief Wräker Zornstein von hinten. "Der hat ma' mein' Sohn Konan damit verdroschen!"

Der Häuptling runzelte die Brauen und zeigte auf Barn. "Bursche, komm' mal her!"

Der junge Barbar trottete gehorsam vor.

"Was macht'n dein Schwert beim toten Neidgurt, hm?" fragte Wolkenbrand mit zusammengekniffenen Augen.

Barn sah ihn groß an und biss sich auf die Unterlippe.

"Weiß nich', Häuptling", antwortete er dann wahrheitsgemäß. Wegen der ganzen Aufregung hatte er vergessen, dass er sein Schwert verloren hatte.

Der Häuptling rieb sich den Bart und schwieg eine Weile.

"Na gut, Bursche", meinte er schließlich. "Ich hab' auch keine Ahnung. Is' wohl'n Zufall. Hier haste dein Schwert wieder." Er reichte Barn die Waffe. "Un' behalt's diesmal fest in der Faust, denn du weißt nich', was dir heut' nacht noch begegnet."

Dann straffte er sich. "Aber, bei Gruunz und Glungg", rief er. "Neidgurt, der mein Schwestersohn war, hatte nich' so viel Glück wie Barn, der der Sohn unseres Schmiedes is'. Ihm könn' wir nix zurückgeben außer der Kraft, mit der wir sein' Tod an dem rächen, der ihn getötet hat, sei der nun Mensch, Tier, Baum oder was immer!"

Wolkenbrand Eisenvater machte eine Pause. Dann hob er einen dicken Zeigefinger dramatisch in die Nachtluft und sagte:

"Daher ruf' ich euch auf, Männer un' Burschen des Dorfes, euch freiwillig zu melden, um den Mörder des Neidgurt, dessen Spuren wir hier deutlich sehen, zu verfolgen. Für die Männer is' das eine Ehre, un' für die Weihburschen nu' die vierte Prüfung statt dem Schwerterkampf!"

 

Die Männer von Täppenwinkel fluchten verhalten, denn sie hatten den ganzen Tag gefeiert und fühlten nur wenig Lust, ein Ungeheuer durch den nächtlichen Wald zu verfolgen. Doch die Aussicht, der Häuptlingsschwester Runa Hornhelm den Tod ihres einzigen Sohnes melden zu müssen, war noch weit weniger verlockend.

Die Knaben blickten sich ganz offen entsetzt an. Sie waren erschöpft von den Prüfungen und der heftigen Feier. Die Aussicht, jetzt noch einem Wesen hinterherzulaufen, das einen Menschen zermalmen konnte wie ein Ochse einen Grashalm, ließ Kälte in ihre Knochen kriechen.

Aber die raue Stimme des Häuptlings trieb sie wie ein Kriegshorn voran. In einem langen Zug voll flackernder Fackeln brachen sich die zwölf Krieger und sechs Knaben den Weg durch den nächtlichen Wald nach Norden. Über ihnen erwachten in den Ästen die Krähen und Schneeschreier, und das wütende Krächzen der Vögel gellte über den Kriegern wie böse Prophezeiungen der drei Schwarzen Schwestern, der rabenfiedrigen Schicksalsgöttinnen des hohen Nordens.

 

Tobend rot waren seine Gedanken. Vor Wut fraß es ein Stück seiner eigenen Zunge.

Die Schwäche des Hungers war ihm in die Beine gekrochen. Die Ranke hing schlaff und lastend in seinem Leib. Es konnte sich nur noch mit Mühe weiterschleppen. Spitze Äste rissen ihm Haut aus den Flanken. Die mürben Sehnen der Gelenke drohten zu reißen unter der Last seines Leibes. Es hätte getobt und geheult, hätte es nur die Kraft besessen.

Heraus aus der Falle des Waldes musste es, die sich seiner Schwäche immer unüberwindlicher entgegenstellte, fliehen vor den erbärmlichen Menschen, die es fern hinter sich witterte, und fliehen vor dem Himmelslicht, das jenseits des Randes der Welt schon darauf lauerte, es zu verbrennen!

 

Es kroch den Berghang hinauf, wand sich wie ein Wurm im Schnee, das schwarze Blut vergießend aus zahllosen Wunden. Immer wieder brach es zusammen. Kaum ahnte es, dass ein alter Instinkt es führte, bis es vor sich den klaffenden Mund der Höhle sah.

Es glitt blind hinein, fand keinen Halt, stürzte und fiel tief auf Kanten eisigen Felsens, die ihm die Rippen zerbrachen. Für Momente glaubte es, dass dies das Ende sei, die Ranke zerrissen sei, und dass es bewegungslos und in Ewigkeit hier würde liegen müssen, bis die Himmel herabkamen und der letzte Abend der Welt dämmerte. Bis es gerichtet würde für das, was es getan hatte.

Zitternd ließ es den Kopf sinken. Der bleischwere ewige Schlaf war nicht mehr fern, und da war auch etwas in ihm, das ihn herbeisehnte. Etwas, das zur Ruhe kommen wollte.

Doch dann schoss die rote Wut wie ein brennender Strom aus der Ranke in seinen Leib. Es schloss eine Hand um ein Stück Fels. Noch war da kein Schlaf! Es war noch immer kräftig genug, Opfer zu suchen und zu töten! Und es würde töten! Für die Verwandlung!

Der Fels zersprang im Griff der schwarzen Klaue.

 

Die Sonne ging auf, als die Nordmänner die Wälder durchquert hatten und am Fuß der Weißhöh standen. Das rosige Morgenlicht färbte die weiten, sanft ansteigenden Schneeflächen in einem warmen Hautton. Dem erschöpften Barn gaukelten die müden Sinne phantastische, runde Formen vor, die ihn stark an Skjörga erinnerten.

"Die Spur'n führ'n hoch auffen Berg, Männer!" rief Wolkenbrand Eisenvater. "Oben am Gletscher ham wir das Biest schnell erwischt!"

 

Nervös betrachteten die Barbaren die Abdrücke im Schnee. Gerfast Rundschädel tauschte vielsagende Blicke mit Halmschmid und Schnodd Bierbrauer. Schnodd, der der dickste Krieger und so etwas wie das Gewissen des Dorfes war, stellte sich vor Wolkenbrand und schnaufte: "Bei Gruunz, Häuptling, wir sin' tapfer marschiert un' ham bis hier die Spur verfolgt. Aber jetz', wo ich seh', was für eine Spur das is', da geh' ich kein Schritt mehr weiter ohne den Goden! Das is' kein Biest nich' von dieser Welt, was wir da verfolgen tun! Das issen Dämon aus Vulgars Höllen!"

Viele der Männer murmelten zustimmend. Schon der stinkende schwarze Schleim entlang der Fährte war ihnen unheimlich gewesen.

Und die Spuren gigantischer Klauen, die sich nun deutlich im verharschten Schnee abzeichneten, ließen die Hoffnung endgültig schwinden, dass da vor ihnen vielleicht doch nur ein besonders großer und schmutziger Schneebär wartete, den der Hunger in den Wahnsinn getrieben hatte. Kein Bär lief auf Füßen, die nach vorne scharf gegabelt waren und hinten in eine schwertlange Spitze ausliefen. Außerdem ließ sich bei einer Bärenspur immer genau feststellen, wie viele Füße der Bär hatte.

 

"Ein echter Nordmann fürcht' nich' Tod noch Teufel!" schnaubte Wolkenbrand verächtlich und spuckte demonstrativ auf die Spur. "Wollt ihr wirklich meiner Schwester entgegentreten, ohne ihr den Kopf des Mörders ihres Sohnes zu Füßen legen zu können?"

Unter den Barbaren erhob sich ein neuerliches Gemurmel. Runa, die rothaarige Schwester des Häuptlings, wurde unter der männlichen Dorfbevölkerung fast ebenso gefürchtet wie die Witwe Zicka, Barns kleine Schwester Schneeburga oder die heilige Fastenzeit im Frühjahr.

Nach einer Weile aufgeregter Diskussion trat Schnodd Bierbrauer vor den Häuptling und sagte:

"Nu' gut, Häuptling, wir geh'n hoch, deiner Schwester zuliebe. Aber das kost' dich'n Fass roten Südländerwein un' zwei gegrillte Ochsen!"

 

In einer langen Reihe marschierten die achtzehn Norländer den Hang der Weißhöh hinauf. Barn, der völlig erschöpft einfach nur noch dem breiten Rückens seines Vaters hinterherstolperte, bekam einen jähen Schwindelanfall. Die blendendweiße Welt verschwamm.

Und plötzlich hatte er eine Vision: Er sah den struppigen, muskelbepackten Gott Gruunz auf einem eisüberzogenen Thron inmitten von Nebeln und Wolfsgeheul sitzen. Und Gott Gruunz nahm einen Schluck Bier aus einem riesigen Krug und sprach mit einer Stimme wie ein Bergrutsch: "HO, BÜRSCHLEIN, ES SEI DIR VERKÜNDET DURCH DIE KRAFT DER EWIGKEIT: EINES TAGES, BARN VON TÄPPENWINKEL, WIRST AUCH DU SO SITZEN WIE JETZT ICH!donnerte die Stimme des Gottes in Barns leerem Schädel. "NÄMLICH BENEBELT UND MIT KALTEM HINTERN!" Ein gewaltiges Rülpsen beendete die Prophezeiung, und Gott Gruunz krümmte sich auf seinem Thron vor Gelächter; und da wusste Barn, dass er wahrhaft den Gott Gruunz geschaut hatte, denn einen solchen Kalauer hätte er sich nie selbst ausdenken können.

"Eh, Bursche, nu' schlaf mal nich' im Geh'n ein!" Ein derber Stoß brachte den jungen Nordmann wieder in die diesseitige Welt zurück.

Er blinzelte und sah, dass sie vor Bangemanns Hintern standen, einer Felsschlucht, die von einem Ausläufer des Weißhöhgletschers wie von einer dicken weißen Wollmütze bedeckt wurde. Aus der so gebildeten Höhle kam das Ächzen und Knarren der Eismassen des Gletschers auf so unheimliche Weise verstärkt, dass die Sage ging, tief in der grünschwarzen Finsternis hause ein grässlicher, menschenfressender Eistroll. Eine allein verbrachte Nacht in Bangemanns Hintern war daher eine wichtige Mutprobe bei den Knaben von Täppenwinkel. Durch ein delikates Ereignis bei einer solchen Mutprobe hatte die Höhle auch ihren Namen erhalten.

"Hier isser 'rein!" rief Wolkenbrand Eisenvater und deutete auf die Spur besudelten Schnees, die direkt zu der Höhlenöffnung führte.

"Es war der Eistroll!" gellte da die hohe Stimme von Hanno Säufferheld. Nanno, der alles tat, was sein Bruder tat, nur immer etwas langsamer, gellte ebenfalls: "Der Eistroll!"

Wieder entstand ein Tumult unter den Männern. Und wieder trat Schnodd Bierbrauer vor den Häuptling.

"Wolkenbrand! Die Männer sin' der Meinung, dasses ohne Fackeln Blödsinn is', da 'runter zu geh'n, vor allem, wo wir nich' wissen, was das für'n Vieh is', das da lauert. Wir ham alle keine Lust, wie der Neidgurt auszusehen. Daher mein' ich, wir geh'n alle zurück ins Dorf, trinken erstmal einen und komm' dann wieder, wenn wir wissen, was zu tun is'."

Die Krieger von Täppenwinkel brummten ihre Zustimmung. Häuptling Eisenvater kniff die Augen zusammen und sagte eine Weile nichts.

"Gut, Männer!" begann er dann. "Das is' wohl in Ordnung, was der Schnodd sagt. Aber 'ne Wache muss hierbleib'n. Am besten macht der Schnodd selber das, zusamm' mit sei'm Kumpel Wulle Schneekuhl."

Schnodd schluckte hörbar. "Ich hätt' da aber noch'n Fass Bier zu brauen..." wandte er ein.

Wolkenbrand grinste. "Auch gut, dann musst aber du der Runa sagen, was mit ihr'm Neidgurt passiert is'. Ich hab' da selbst keine Zeit für, ich muss nämlich nachdenken, was jetz' zu tun is', weil, ich bin immer noch der Häuptling vom Dorf!"

Der Bierbrauer schüttelte hastig den dicken Kopf.

"Nee, Häuptling, so war das echt nich' gemeint, da bleib' ich doch lieber hier oben mittem Wulle un' pass' auf, dasses Vieh nich' ausser Höhle büxt."

Wolkenbrand nickte.

"Bist'n weiser Kerl, Schnodd", sagte er. "Wir andern gehen in's Männerhaus un' halten Rat. Kommt, un' beeilt euch, der Tag is' kurz, un' bald müssen wir's der Runa wirklich sagen."

 

*

 

Entkräftet taumelte Barn hinter seinem Vater in das Männerhaus von Täppenwinkel. Der dunkle Raum roch nach schalem Bier, aufgequollenem Holz, Rauch und altem Fett. Zu anderen Zeiten hatte der junge Nordmann diese Gerüche als den Atem der Freiheit empfunden, heute aber drangen sie in seinen geschwächten Magen wie eine Bande Plünderer in ein Kaufmannshaus.

Zitternd setzte er sich auf eine Bank.

"Vivi! Ivi! Bier un' Braten für alle!" dröhnte die Stimme des Häuptlings durch das Dunkel. "Un' seht zu, dass ihr das Feuer hier ankriegt, aber schnell!"

Vivi und Ivi Schneedorn, zwei Schwestern, deren Eltern bei einem Lawinenunglück ums Leben gekommen waren, mussten wie alle weiblichen Waisen nach altem norländer Brauch im Männerhaus ihres Dorfes Dienst tun. Da die meisten Nordmänner traditionell mehr Zeit im Männerhaus verbrachten als bei ihren Familien, war dieser Dienst mit vielerlei Aufgaben unterschiedlichster Art verbunden, von denen manche von den alleingelassenen Gattinnen als ausgesprochene Schweinerei empfunden wurden.

Vivi, mit zweiundzwanzig Jahren die ältere der beiden Schwestern, kam mit einer Kelle voll Glut aus der Küche gehuscht. Sie trug gemäß der Tradition lockere Kleidung, die in ihrem Fall aus einem einzigen Lammfell bestand, das mit Lederschnüren am Körper gehalten wurde. Ihr üppiger Busen blieb dabei fast unbedeckt, genauso wie die langen, kräftigen Beine, und tatsächlich war Vivi die erste Liebe des achtjährigen Barn gewesen, damals, als er an der Hand seines Vaters zum ersten Mal das Männerhaus betreten durfte.

Vivi strich ihm auch diesmal sanft durch die zerzausten blonden Haare, bevor sie zum gemauerten Kamin trat, um das Holz darin zu entzünden. "Siehst müde aus, mein Großer!" sagte sie leise.

Barn drehte unwillig den Kopf weg.

"Ho, Mädel!" brummte er, so tief er konnte, denn schließlich war er fast schon ein Mann. "Ein Krieger kennt kein müde nich'!"

Dann sank sein Kopf auf die derbe Tischplatte aus Kiefernholz, und er schlief ein.

 

Erst viel später wurde er von dem Duft warmen Essens geweckt. Eine Platte voll dampfenden Mastschweinbratens unter einer braunen Biersoße stand vor ihm, und daneben lehnte die lächelnde Ivi, die die zweite Liebe in Barns Leben gewesen war.

"Hab' dich lange nich' geseh'n, mein Held!" meinte sie vorwurfsvoll. "Du has' doch nich' alles vergessen, was wir uns versprochen ham, oder?"

Barn grunzte, wich Ivis Blick aus und nahm sich mit den Fingern eine soßentriefende Scheibe Braten. Irgendwann einmal hatte er der drei Jahre älteren Ivi in vollem Ernst versprochen, sie zu seinem Weib zu machen, wenn er erst ein Krieger sei. Aber das war gewesen, bevor er Skjörga beim Baden gesehen hatte. Und dazwischen war er auch noch - wie fast jeder Junge in Täppenwinkel - in die ungeheure Runa Hornhelm und ihr feuerrotes Haar verliebt gewesen.

Also ignorierte er Ivi, bis sie mit einem scharfen Seufzer von selbst ging.

Um ihn herum tobte lautstark das Palaver unter den Kriegern. Viel Bier wurde getrunken, wie immer, wenn die Männer Rat hielten, und Vivi kam mit immer neuen Krügen von der Küche an die Tische. Traditionsgemäß beendete ein Faustschlag des Häuptlings auf den Häuptlingstisch irgendwann die Diskussion.

"Männer!" brüllte Wolkenbrand. "Männer! Es is' alles klar: wir geh'n mit Fackeln hoch zur Weißhöh un' machen das Biest alle, dann wird weitergefeiert!"

Es war genug Bier in die Kehlen geflossen, dass die Männer lautstark und rückhaltlos der am lautesten geäußerten Meinung zustimmten, und so sprangen sie auch jetzt mit erhobenen Waffen auf und verließen grölend das Haus.

 

*

 

Schnodd Bierbrauer und Wulle Schneekuhl ließen vor der Höhle lustlos die Würfel rollen.

Trotz der warmen Felle wurde ihnen langsam kalt, und aus der nachtschwarzen Öffnung von Bangemanns Hintern kamen manchmal Geräusche, die auch den kühnsten Krieger misstrauisch machen konnten.

"Wird Zeit für 'ne neue Häuptlingswahl!" brummte Schnodd mürrisch, während er in seine Finger blies, um sie für den nächsten Wurf gelenkig zu machen. "Wolkenbrand hat 'ne laute Stimme, aber er is' heimtückisch!"

"Jau!" stimmte Wulle ihm zu. Vor allem seine stets positive Einstellung zu Schnodds Aussagen hatte die beiden Männer zu Freunden gemacht.

"Wetten, dassers 'rauszögert, bis die Sonne untergeht?" prophezeite Schnodd düster. "Dann geh' ich aber wieder 'runter in's Dorf, Häuptling hin un' Häuptling her."

"Jau!" machte Wulle Schneekuhl.

Da drang aus der Höhle hinter ihnen ein langgezogenes Heulen, das bestimmt kein Laut des Gletschers war. Die beiden Barbaren sprangen auf die Beine und zogen ihre Schwerter.

 

*

 

Im Abendlicht zogen die Männer von Täppenwinkel hinter ihrem Häuptling singend durch die Wälder zur Weißhöh. Gutes Essen, etwas Schlaf und ein kräftiger Schluck hatte sie den Schrecken der letzten Nacht vergessen lassen, und in ihrer Erinnerung waren auch die großen Klauenabdrücke auf ein vernünftiges Maß geschrumpft.

Man war sich mittlerweile einig geworden, dass der Häuptlingsneffe von einer verirrten Bestie aus dem Süden, einem sogenannten 'Löffen', getötet worden war. Schlukker Erbrecht, ein sehr alter Krieger, der in seiner Jugend viel herumgekommen war, hatte sich an die Existenz eines solchen Tieres in den südlichen Königreichen erinnert, und je mehr er sich erinnerte, desto besser passten die ganzen Umstände auf ein solch gewaltiges und hinterhältiges Vieh, wie es der Löffe war.

"'N Löffen kammer mittem kleinen Finger töten, wemmer weiß, wie's geht!" erzählte Schlukker jedem. Leider hatte er vergessen, wie das ging.

 

Die Barbaren hatten den kürzesten Weg zu den Höhlen der Weißhöh gewählt, durch den Nebelforst und über den Krähkamm, und so stießen sie erst kurz vor Bangemanns Hintern wieder auf die riesigen, schwarzverschmierten Fußspuren im Schnee.

Wolkenbrand Eisenvater blieb stehen.

"Löffe oder nich' Löffe", sagte er, "das Vieh is' gruunzverdammt groß. Un' es wird nich einfach werden, es zu kriegen. Seid also vorsichtig, vor allem ihr Burschen! Ich will nich' noch mehr jammernde Weiber im Dorf!"

In diesem Augenblick kam ein fürchterlicher Schrei aus der Richtung des Hinterns. Der Häuptling erstarrte.

"Das war der Schnodd", stellte er leise fest. Er zog sein Schwert aus dem Gürtel, eine über drei Füße lange Waffe aus silberhellem Stahl, die der Gode 'Wolkenspalter' getauft hatte. "Wer so schreit, braucht alle Hilfe, die er kriegen kann, un' schnell! Also lauft, Männer, als wär's euer eigenes Leben!"

Und er rannte bergauf, dass der Schnee in seinen Spuren hochstob wie unter einem Sturmwind.

 

Oben vor den Höhlen bot sich den heranstürmenden Kriegern ein entsetzlicher Anblick. Blutüberströmt lag ein Mann im zerwühlten und rotgefärbten Schnee. Vom anderen Wächter fehlte jede Spur.

"Männer! Halbkreis vor der Höhle!" schrie Wolkenbrand mit überschlagender Stimme. "Die Schwerter vor!"

Er selbst lief zu dem zuckenden Leib im Schnee. Es war Schnodd. Der Bierbrauer war schwer verletzt, sein Lederwams und sein gewaltiger Bauch darunter waren aufgerissen. Einen weniger beleibten Mann hätte eine solche Wunde in der Mitte zerteilt. Aus vom Schmerz getrübten Augen sah Schnodd den Häuptling an.

"Wolkenbrand, ich hab' Mist gebraut...", kamen Worte neben blasigem Blut aus seinem Mund. "Wir sin' inne Höhle gegang'... nachseh'n... da war so'n Schrei. Un' dann hat uns da drin was erwischt, was... Großes. Ich konnte 'rauskriechen. Der Wulle is' noch drin..."

Dann verstummte sein Gurgeln, und er begann rasselnd zu schnarchen.

Wolkenbrand sprang auf, sein Gesicht schneeweiß unter dem rotgrauen Bart. "Jofrech, du un' Wräker, ihr bringt den Schnodd in's Dorf. Ihr andern: Zündet die Fackeln an!" brüllte er. "Der Wulle is' noch da drin! Wir müssen ihm helfen!"

 

Es kauerte in Dunkelheit und nagte gierig im zuckenden Leib des Menschen. Es spürte, wie die Lebensessenz strömte, wie Kraft das Fleisch der Ranke polsterte und ihre Muskeln füllte. Zähne wuchsen ihm, und neue Triebe krochen in seine Knochen. Seine Gelenke strafften sich.

Es triumphierte. Als die beiden Menschen zu ihm gekommen waren, war es kaum kräftig genug für einen Schlag gewesen. Aber es hatte getroffen.

Einer war wieder davongekrochen, aber das störte es nicht, denn es wusste, dass es nun genug Essenz hatte, um in der Hülle der Dunkelheit mit denen fertig zu werden, die noch kommen würden.

 

Der Angriff der Täppenwinkler wurde verzögert durch das Anzünden der Fackeln. Wenige Männer waren im Umgang mit Feuer vertraut, denn bei den Norländern hatten die Frauen die Herdgewalt, was bedeutete, dass allein die Frauen verpflichtet waren, das Feuer im Herd der eigenen Hütte zu unterhalten und es, falls nötig, neu zu entzünden. Daher gab es einige verbrannte Finger und angesengte Bärte bei den Kriegern, als der kleine Zundertopf herumging.

Doch schließlich hielten immerhin drei Männer brennende Fackeln in der Hand.

Auf ein Zeichen des Häuptlings stürmten dann die Krieger in Bangemanns Hintern - alle gleichzeitig und laut brüllend, wie es die Tradition den Nordmännern vorschrieb.

Kaum zwanzig Schritte hinter dem Höhleneingang mussten sie fluchend wieder stehenbleiben, weil der Pfad vor den Fußlappen der vordersten Sturmläufer jäh endete. Die Fackeln vermochten die ölig-schwarze Finsternis dahinter nicht zu erhellen, aus der ein unangenehm modriger Geruch heraufquoll.

"Links!" dröhnte die Stimme Wolkenbrand Eisenvaters von hinten. "Wisst ihr denn nix mehr aus eurer Burschenzeit? Links geht der Weg 'runter. Die Fackeln hoch, un' guckt auf eure Füße, dann kann uns nix passier'n!"

Die Fackelträger hoben die Fackeln, und alle blickten auf ihre Füße.

Da bewegte sich die Finsternis vor ihnen, etwas langes, teerig Glänzendes schoss plötzlich zwischen die Krieger. Krallen durchschnitten ein Lederwams, Muskeln und Knochen, als wäre alles nur weicher Teig, und Truller Bärentritt, der jüngste Kämpfer, stürzte gurgelnd vom Sims.

Die Nordmänner brüllten aufgeregt durcheinander. Die Fackelträger ließen die Fackeln fallen, um ihre Waffen ziehen zu können. Die vordersten Krieger versuchten, ein paar Schritte vom Simsrand zurückzutreten, die Männer hinten drängen nach vorne. Wieder kamen die Krallen aus der Dunkelheit, und Gerfast Rundschädel wurde der Helm vom kahlen Kopf gerissen.

Der zottige Axter Kiefernbruch hinter ihm stach blitzschnell zu und hätte Gerfast beinahe aufgespießt. Gleichzeitig drosch der alte Schlukker Erbrecht mit seiner eisendornbesetzten Keule 'Frieda' durch die Dunkelheit. Beide trafen etwas, denn ein kalter, stinkender Regen ergoss sich über die Nordmänner, etwas fuhr zischend durch die Luft, und Axter Kiefernbruch brach zusammen. Teile von ihm klatschten gegen die Höhlenwand.

"Verteilt euch!" dröhnte die aufgeregte Stimme des Häuptlings durch das Gewühl. "Un' hebt verflucht nochmal die Fackeln wieder auf!"

Doch dazu war es zu spät.

Plötzlich sprang ein riesiger Schatten zwischen die Barbaren, eine Unzahl scharfer Krallen und Zähne schimmerte im sterbenden Licht der verlöschenden Fackeln. Schlukker Erbrecht und die Zwillinge Hanno und Nanno wurden unter der Schwärze begraben, Nöter Säufferheld gegen den Fels geschmettert. Bagger Mannhau sprang vor Entsetzen in den Abgrund; und Wolkenbrand Eisenvater wurde das Schwert aus der Hand gerissen.

Barn war erschrocken hinter Gerfast Rundschädel in Deckung gegangen. Der suchte selber Deckung und stieß den Knaben einfach beiseite. Barn landete mit dem Gesäß in einer glimmenden Fackel. Mit einem schrillen Schrei sprang der junge Barbar in die Höhe und riss sich die Fellhose vom Leib, die Feuer gefangen hatte. Weit schleuderte er das brennende Kleidungsstück von sich.

In dem plötzlichen hellen Licht sahen alle ein ungeheures schwarzes Ding über sich kauern, viel größer als jeder Schneebär, größer sogar als der Kadaver eines Mammons. Über das genaue Aussehen der Kreatur konnten sich die verwirrten Sinne der Männer nicht einig werden, denn alles daran wirkte verdreht und widerlich, vieles war in Bewegung, anderes hing auf erschreckende Weise herab, und es gab manches, dessen Anblick nicht ertragen werden konnte. Und genau in der Mitte dieses unsäglichen Dings landete Barns brennende Hose.

Die Höhle bebte, als der Dämon sich stumm aufbäumte und die Eisdecke rammte. Dornenbedeckte Gliedmaßen fuhren wie Sensen über den Köpfen der Barbaren hinweg und zerschmetterten Felsen, als wären sie morsches Obst.

Voll ungläubigen Erstaunens sah Barn, dass der Dämon selbst zu brennen begann, als wäre er nur trockenes Stroh. Und dann sprang die Kreatur mit einem Kreischen, das wie ein Schwert in die Ohren schnitt, zurück in den Abgrund.

Eine Weile passierte nichts weiter. Es war wieder dunkel und still. Still bis auf den heftigen Atem der Krieger und ein sachtes Knirschen von oben.

Dann hob jemand eine Fackel vom Boden und schwenkte sie, bis sie wieder hell brannte. Flackerndes Licht breitete sich über ein elendes Bild durcheinanderliegender und herumstehender Barbaren. Lange sprach niemand ein Wort, nur das Stöhnen der Verletzten war zu hören.

"Männer...", begann der Häuptling Wolkenbrand Eisenvater mit schleppender Stimme. "Wir sin' hier dem leibhaftigen Tod begegnet. Aber wir fürcht'n nich' Tod noch Teufel, also..."

Eine breite Eisplatte schlug neben ihm auf und zerplatzte in tausend schimmernde Scherben. Völlig entgeistert starrte der Häuptling nach oben.

"Die Höhle stürzt ein!" schrie Helmer Halmschmid und deutete auf die Decke. Dort geriet das alte Gletschereis in Bewegung.

Die Eisdecke war durch den Aufprall des Dämonen geborsten und der Druck des Gletschers darüber ließ die Risse schnell breiter werden. Brocken brachen herunter und fielen zwischen die Nordmänner.

Der Häuptling blinzelte.

"Bei Gruunz, 'raus hier, Männer, 'raus!" rief er dann mit überschlagender Stimme. "Schnappt euch die Verwundeten; un' dann nur weg hier!"

In einem wilden Durcheinander eilten sich die Barbaren zu Hilfe, die weniger Verletzten luden die mehr Verletzten auf, alle brüllten einander gute Ratschläge zu, und fast hätte es auch eine Schlägerei gegeben, weil sich Helmer Halmschmid und Steinhand Haderbrut nicht einigen konnten, wer den alten Schlukker aus der Höhle tragen sollte.

Doch ein Eisblock, doppelt so groß wie der Bauch von Godskalk, dem Goden, machte der fruchtlosen Diskussion schließlich ein Ende, indem er von der Decke stürzte und Steinhand beinahe erschlug, so dass Helmer nun Schlukker und Steinhand tragen durfte.

 

Vor der Höhle leuchtete das Norland friedlich im Abendrot, als wäre nichts passiert.

Barn rannte mit verbissenen Zähnen hinter seinem Vater her. Seinen Hintern hatte er sich verbrannt, und die rechte Hand dazu. Sobald er im Freien war, ließ er sich in den kühlenden Schnee fallen.

Er sah die anderen Krieger aus der Höhle hüpfen, humpeln und kriechen, als letzten den Häuptling, der rannte, als sei die Zicka mit ihrem Löffel hinter ihm her.

"Haut ab hier, haut alle ab! Das gibt'n Rieseneissturz!" brüllte Wolkenbrand.

Der junge Barbar hörte ein gewaltiges Donnern und blinzelte. Eine Wolke pulverigen Eises wurde aus der Höhlenöffnung geblasen, als sei die der Mund eines rülpsenden Frostriesen.

Dann brach die Öffnung selbst mit einem ohrenbetäubenden Krachen zusammen, und Barn wurde überschwemmt von einer Menge beißend kalten Schnees. Von überallher flogen ihm Eisbrocken um die Ohren. Viele der Eisbrocken waren größer als sein eigener Kopf.

Etwas schlug ihm kräftig gegen die Stirn, dann wurde es dunkel.

 

*

 

"Hoho, da liegter, unser Held ausser Höhle! Hat ihn ganz schön fertiggemacht, der alte Gletscher, hatter, wie?"

Barns barbarische Sinne waren sofort hellwach. Innerhalb weniger Sekunden wusste er, dass er auf dem Rücken lag. Ohne zu überlegen, sprang er mit einem wilden Schrei auf. Er prallte mit der Stirn gegen etwas Hartes und fiel zurück auf ein weiches, pelziges Ding, mit dem er sich in atemlosem Kampf verstrickte, bis er bemerkte, dass es die Lammfelldecke seines eigenen Bettes war, die er da würgte und trat.

"Ho, Wolkenbrand, der wird wirklich mal'n großer Krieger. Er hat den Biss. Haste geseh'n, wie schnell er das Lamm flachgelegt hat, hm?"

Ein raues Gelächter folgte dem Satz. Barn ließ von der Decke ab und starrte erstaunt auf die Gäste, die sich in der engen Schlafkammer drängten.

Der Häuptling Wolkenbrand Eisenvater selbst stand vor seinem Bett, und bei ihm war die graugewandete, fassbäuchige Gestalt von Godskalk, dem Goden!

Dahinter drängten sich die Krieger des Dorfes, auch sein Vater, der alle um Haupteslänge überragte und grinste wie ein Schneekater im Fischfass.

"Steh' auf, Bursche!" donnerte der Häuptling fürchterlich.

Barn erschrak. Am liebsten wäre er wieder unter seiner Decke verschwunden. Aber der Häuptling war der Häuptling. Also stand er auf.

Wolkenbrand Eisenvater holte aus und schlug dem jungen Barbaren mit vernichtender Wucht auf die rechte Schulter. Barn brach in die Knie, als sei er von einer stürzenden Kiefer getroffen worden, aber Wolkenbrand hatte ihn schon unter den Armen gepackt und riss ihn hoch in die Luft, so dass Barn mit dem Kopf an die Decke stieß.

"Bursche!" dröhnte der Häuptling. "Bursche! Jeder Krieger im ganzen Hochnorland könnte stolz sein, wenn er'n Sohn hätte wie du einer bist! Du hast uns vor dem Biest inner Höhle gerettet! Durch deine List mitter brennenden Hose hat sich das Biest selbs' erschlagen, un' so hat das Dorf wieder Ruh', auch wenn wir vier gute Männer verlor'n ham un' drei verletzt sin'!"

Der Häuptling drückte den jungen Norländer gegen die ungeheure Wölbung seiner gepanzerten Brust. Die Krieger hinter ihm stimmten ein ohrenbetäubendes Gebrüll an und ließen ihre Waffen aneinander klirren, bis Wolkenbrand Barn wieder absetzte und gebietend eine Hand hob.

"Daher ham' wir Ältesten beschlossen, dir 'ne ganz besondere Belohnung zu spendier'n. Weil du schon 'nen Humpen im Männerhaus hast, kriegste jetz' das hier!"

Mit großartiger Geste wies Wolkenbrand auf den grinsenden Godskalk, der einen derben, dreibeinigen Holzschemel hinter seinem Rücken hervorholte.

"Ein' eigenen Sitz im Männerhaus!" rief der Häuptling mit überschlagender Stimme. "Godskalk hat sogar dein' Namen in geheimer Runenschrift eingeritzt, damit jeder weiß, dasses deiner is'!"

Er zeigte mit einem dicken Finger auf drei in die Sitzfläche gekerbte Kreuze. Der Gode grinste noch breiter und nickte gütig.

"Doch nu' geh'n wir Männer den Sieg über die Bestie feiern, un' du, mein Bester, gehst man in die Falle un' schläfst dich aus. Morgen is' der letzte Tag vonner Burschweih, un' ich will nich', daste nich' bestehst, nur weilde nich' geschlafen hast!"

Der Häuptling hieb nach Barns linker Schulter und schmetterte den vor Begeisterung und Erschöpfung Sprachlosen zurück auf sein Bett.

Das letzte, was Barn vor dem Einschlafen noch sah, fühlte und hörte, war seine Mutter, die sich über ihn beugte, ihm einen Kuss gab und sagte: "Da wirste erstma' ohne Hose nach Hause getragen un' hast die Haare voll Blut von irgendeiner nixnutzigen Rauferei, un' dann komm' noch die ganzen üblen Freunde von deim Vatter, grölen 'rum, saufen unser Bier un' fressen das frisch gebackene Brot weg! Es is' wirklich traurig, wie du deiner Mudder die Liebe un' Fürsorge lohnst!"

 

*

 

Lang vor dem nächsten Morgen wurde Barn von seinem verkaterten Vater missmutig aus dem Bett geholt und in einer viel zu großen Hose hinaus auf den reifüberzogenen Anger geprügelt, wo die Krieger warteten und sich verstohlen die schmerzenden Stirnen massierten. Sogar Schnodd Bierbrauer stand bei ihnen, seine Brauerschürze fest um den verletzten Wanst geschnürt.

Barn kniete im Schnee nieder und sah sich um. Joggurd kniete rechts neben ihm, drei Schritte entfernt Fran Mannhau, der zum Zeichen der Trauer eine schwarze Mütze trug; und noch weiter weg kauerte der düstere Fallburz und spielte mit gefrorenem Dreck.

Dann hinkten auch die Zwillinge Hanno und Nanno Säufferheld heran, geführt von ihrem Vater Nöter, der in eine Menge schmuddeliger Binden gewickelt war und sich schwer auf einen Holzknüppel stützte.

Als die Brüder knieten und Nöter sich endlich in die Reihen der Ältesten eingeordnet hatte, erstieg der hornbehelmte Wolkenbrand Eisenvater ächzend den Würdenstein und starrte dann eine lange Zeit schweigend in den Himmel, wo die Sterne blasser wurden. Er wirkte noch mitgenommener und verschwollener als seine Männer. Er hatte seiner Schwester endlich den Tod ihres Sohnes Neidgurt gestehen müssen.

"Männer", begann er dann in schleppendem Ton. "Männer un' Weihburschen von Täppenwinkel! Dieser Tag is' ein Tag der Trauer. Das Dorf hat vier Krieger verloren." Er hob die linke Hand und hob vier Finger, denn nicht jeder im Dorf war im Umgang mit hohen Zahlen bewandert. "Im heldenhaften Kampf fielen sie zu Ehren von Gruunz: Bagger Mannhau, der uns bei manchem Raubzug nach Wolkenstein un' Schneeschiss tapfer tragen half; Axter Kiefernhau, der beim großen Treffen der Stämme im letzten Sommer den Kampf der Steinwerfer gewann; der kleine Truller Bärentritt, dessen Schwert am heutigen Abend vom Goden getauft worden wär'; un' Wulle Schneekuhl, dessen Kinder zahlreicher sin' als Nadeln an ei'm Kiefernzweig!"

Wolkenbrand schwieg eine Weile, sichtlich von Rührung ergriffen.

"Von keinem ist uns der Leib geblieben, um ihn im Steinkreis auf dem Gipfel der Hochsteige unter den Augen der Götter aufzubahren, bis wir ihm im Sommer dem Feuer übergeben und ihm einen Grabhügel errichten können, denn ihre Knochen sin' begraben zusammen mit den Knochen von dem Biest, das unser Dorf bedroht hat!", fuhr er fort. "Aber wir werden trotzdem aufsteigen un' zwischen den Ahnensteinen die heiligen Humpen kreisen lassen, bis wir die Geister der Freunde sehen könn', denn sie sin' Helden un' sollen nie vergessen werden!"

Die Ältesten rissen ihre Schwerter hoch über den Kopf und stießen ein markerschütterndes Geheul aus, wie es üblich war zu Beginn der Totenfeiern der Norländer.

Der Häuptling wartete ab, bis selbst das ferne Echo des mächtigen Klagelautes erstorben war, dann hob er beide Arme und brüllte:

"Aber er is' auch'n Tag des Feierns, dieser Tag! Nur ein dutzend Krieger un' ein halbes Dutzend Burschen ham gestern ein Teufelsvieh besiegt, das direkt aus Flabbergassts dunkelsten Höllen zu uns gekommen war! Un' dann isser auch der letzte Tag der Burschweih, un' sechs großartige Weihburschen knien vor uns, die alle prächtige Krieger wer'n wer'n! Heute is' der Tag der Bierbrücke un' des Burschfests!"

Der Häuptling hob einen dicken Zeigefinger in die Morgenluft, um die Wichtigkeit des Tages zu unterstreichen.

"Während wir zur Hochsteige geh'n, werden die Weihburschen die letzte Prüfung ihrer Kraft bestehen, die Prüfung über dem Eiskübel!"

Die Ältesten senkten die Waffen und schlugen damit klappernd auf ihre Schilde, bis der Häuptling "Ruhe!" brüllte.

"Weihburschen!" fuhr Wolkenbrand dann fort. "Weihburschen! Wie einst Gott Gruunz selbst müsst ihr über die Bierbrücke überm Kaltquell geh'n, zehnmal zehn Schritte schwankendes Holz, vom ein' Ufer zum andern. Das is' leicht, nur, dass inner Mitte vonner Brücke einer steht, der nich' will, dass ihr auffer ander'n Seite ankommt."

Die Ältesten lachten und klapperten wieder mit den Schilden.

"Godskalk der Gode wird jetz' die Runen werfen, um zu bestimm', wer als Gegner wie einst Gott Glungg auffer Brücke steht. Dann wird er euch un' den ausgelosten Krieger zur Kaltquell führ'n. Die anderen Männer von Täppenwinkel werden hinaufgehen zur Hochsteige un' dort heiliges Bier trinken, bis sie die Toten zu Gruunz aufsteigen seh'n. Dann, heute Abend, treffen wir uns wieder, um die letzten zwei Aufgaben zu erledigen. Viel Glück wünsche ich bis dahin, Weihburschen! Ich bin sicher, dass jeder besteht!"

 

*

 

Der Schneeferner ragte erhaben in einen klaren Morgenhimmel, auf dessen blendend blaue Wiese sich heute nur wenige Schäfchenwolken gewagt hatten.

Während die Sonne stieg, folgten die sechs jungen Barbaren ihrem schwer atmenden Dorfdruiden den steilen Weg längst des Bergbaches Kaltquell vom Täppental hinauf zum Ende der Kaltquell-Klamm.

Hinter den Jungen trottete mürrisch Gerfast Rundschädel, den das Runenorakel zum Brückenwächter bestimmt hatte. Gerfast schnitt eine Grimasse, die selbst die Steine längs des Weges erschreckte, denn für einen norländer Mann war die Tatsache, nicht an einer Begräbnisfeier teilnehmen zu können, fast so schlimm wie ein Abend zuhause bei der Familie. Immer wieder spuckte der Krieger übellaunige Speichelklumpen in die längs des Pfades munter dahinrauschende Kaltquell.

 

Die Kaltquell war ein Gebirgsbach, der hoch oben in der Südwand des Schneeferners entsprang. Am Fuß des Berges hatte das stürzende Wasser in Jahrtausenden einen engen, fast kreisrunden Kessel in den Fels gegraben, in dem sich der Bach sammelte, bevor er den Weg in die Klamm antrat, um dann irgendwo weiter südlich in einen kleinen, namenlosen Fluss zu münden, der wiederum in die Breite Schnaate floss, die westlich der Sonnenzähne schließlich in das eisige Ostmeer mündete.

Die Täppenwinkler nannten diesen kleinen Bergsee den Eiskübel, weil sie im Sommer darin ihre Bierfässer kühlten, und über den Eiskübel spannte sich die einhundert Schritte lange Bierbrücke.

Die Bierbrücke war für alle Stämme des Norlandes ein heiliger Ort. Obwohl der Pfad, dessen Teil sie war, genaugenommen nirgendwohin führte, nämlich vom Täppental zu einer völlig uninteressanten Stelle unterhalb der Südwand des Schneeferners, wurde sie in zahllosen Liedern besungen, ihr Abbild in Knochenkämme und Schwertstahl geritzt und auf Lederhemden gebrannt. Die Burschweih wurde in jedem Dorf anders begangen, doch die Aufgabe, sich den Weg über diese Brücke zu erkämpfen, wurde jedem jungen Norländer gestellt.

Denn gemäß der Sage soll der hochmütige Quellgott Glungg einundzwanzig Jahre lang ohne besonderen Grund in der Mitte der Brücke gestanden und jeden, der sich näherte, in den See geworfen haben, bis er schließlich vom großen Gruunz selbst in einem sieben Jahre dauernden Ringkampf überwunden und ins Wasser geschleudert wurde, worauf die beiden Freunde wurden und gemeinsam das Bier erfanden, um darauf anstoßen zu können.

 

Es lag unter Eis und Felsbrocken, ein zweites Mal begraben. Aber die Steine über ihm trugen diesmal keinen Bannfluch, der sich wie Frostfeuer in seine Köpfe fraß und es lähmte. Nein, es war wach und voll Wut. Sein Körper war seit zu langer Zeit viel zu tot, um noch weiter sterben zu können. Es mochte Ewigkeiten dauern, bis die Zeit oder ein Zufall es befreiten, aber dann würde es morden und fressen, wie es noch nie gemordet und gefressen hatte! Das gierige Zucken der Ranke ließ die Felsen beben.

Und da spürte es den Menschen neben sich.

Er war begraben und zerschmettert wie es selbst, aber er war noch nicht völlig tot. Wach war er, bei Bewusstsein und erfüllt von einer so tiefen, durchdringenden Furcht, dass sie beinahe pure Essenz war.

Ekstase durchfuhr es, als der Duft schwer in seine Nüstern troff. Das war Kraft und Rausch genug, um die Felsen einzureißen und Rache zu nehmen an den Menschen!

 

Godskalk der Gode blieb an der Stelle stehen, wo sich die Klamm zum Kessel weitete und die Brücke begann. Er musterte sie bedenklich. Die Zugseile hatten unter dem Winter sichtlich gelitten, und das Holz war überzogen mit einer dünnen Eisschicht.

Darunter spiegelte das Wasser des Eiskübels Sonne und Wolken, so dass die Bierbrücke geradewegs hinaus in den Himmel zu führen schien. Sie war ein schwankendes Gebilde aus Holzplanken, eisernen Ösen und Lederschnüren über dem eisigen See, der gute zwanzig Barbarenlängen unter ihr lag. Der stürzende Kaltquell erfüllte den schmalen Felsenkessel mit geschäftigem Rauschen. In der funkelnden Gischt spannte sich ein Regenbogen wie eine zweite Brücke über den See.

 

"Knaben!" sprach Godskalk. "Die Aufgabe is', wie euer Häuptling schon sagte, einfach: ihr müsst über die Brücke gehen, un' wenn ihr das andere Ende erreicht habt, dann habt ihr bestanden. Wenn euch der Wächter aber in's Wasser schmeißt, seid ihr draußen. Nu' werden wir noch die Götter befragen, in welcher Reihenfolge ihr gehen sollt, un' dann geht's los. Sechs Knochen mit Namen hab' ich hier!" Er hob einen verschnürten Lederbeutel über sein weißgelocktes Haupt, löste mit einer Hand geschickt den Knoten daran und ließ sechs bleiche Objekte herauspurzeln. Klappernd schlugen sie auf dem grauen Fels auf.

"Die Knochen sin' gefallen!" rief Godskalk dramatisch. Er beugte sich umständlich über den Pfad, murmelte einige unverständliche Worte, schüttelte den Kopf, rieb sich den langen, weißen Bart und packte dann seine dicke rote Nase mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand. Schließlich richtete er sich schnaufend wieder auf.

"Gerfast, du bis' der Wächter." Der Gode zeigte auf den kahlköpfigen Mann, der sich missmutig am Rande der Brücke herumdrückte. "Leg deine Waffen ab un' geh' in die Mitte der Brücke, denn Gruunz un' Glungg haben ohne Waffen gekämpft, un' so soll es auch sein mit jedem Kampf auffer Brücke bis ans Ende aller Tage."

Gerfast nickte düster, lehnte seine gewaltige Kriegsaxt gegen die Felsen und zog Dolch und Messer aus dem Gürtel. Dann trat er hinaus auf das schwankende Geflecht aus Holz, Metall und Leder. In der Mitte der Brücke blieb er breitbeinig stehen und spreizte die dicken Arme. "Ha, Gode, schick sie mir nur her! Wenn ich schon nich' mit den Kumpels saufen kann, dann will ich wenigstens hier mein' Spaß ham!" schrie er mit seiner dünnen Stimme.

Godskalk hob die Hände empor zum Himmel. "Gruunz gebe den Knaben Stärke!" sang er feierlich. Dann beugte er sich ächzend hinunter zu den Orakelknochen. "Fran Mannhau is' der Erste!" keuchte er atemlos, denn sein mächtiger Bauch war ihm sehr im Weg bei der Auslegung des Knochenfalls. "Leg' deine Waffen ab und geh'!"

 

Fran Mannhau, der wie sein Vater ein sehr vorsichtiger Mensch war, betrat vorsichtig die ersten Planken. Gerfast packte die beiden Griffseile des Geländers und versetzte die Brücke in Bewegung. Fran stolperte und wäre ins Wasser gestürzt, hätte er sich nicht zurück auf den Pfad fallen lassen. Die anderen Knaben brachen in raues Gelächter aus

"Komm schon, du feiger Sohn eines Feiglings!" höhnte der kahle Krieger in der Mitte der Brücke. "Dein Vadder is' auch vor Angs' innen Abgrund gesprungen. Ich hab's selbs' geseh'n!"

"Geh' zurück auf die Brücke, Knabe!" forderte Godskalk. "Ich muss dich von der Burschweih ausschließen, wenn du nich' gehst!"

Fran biss die Zähne aufeinander und nickte. Dann stürmte er plötzlich schrill schreiend auf Gerfast zu. "Mein Vatter war nich' feige!" rief er. "Du wars' schon längs' am Boden, als er noch gekämpft hat!"

Er rammte seinen gesenkten Kopf in die Mitte von Gerfasts stämmigem Leib. Der schnaubte überrascht, bekam den schmalen Knaben aber schnell unter den Schultern zu fassen und hob ihn hoch über das Geländer. Ein paar Augenblicke lang ließ er Fran in der Luft zappeln, dann schleuderte er ihn mit Schwung hinunter ins eisige Wasser.

"Nich' bestanden." kommentierte Godskalk der Gode die Fontäne, die entstand, als Fran im Wasser aufschlug. Gerfast grinste und rieb sich die Hände.

 

*

 

Hoch auf dem weißglitzernden Hang der Weißhöh, dort, wo die eisvermengten Trümmer von Bangemanns Hintern eine blattförmige, dunkle Narbe im Schnee bildeten, stieg die glitzernde Gischtwolke einer Lawine in den strahlendblauen Himmel.

Die Krieger von Täppenwinkel, die auf den grauen Ahnensteinen unter dem Gipfel der heiligen Hochsteige kauerten und ein großes Fass geweihten Bieres leerten, sahen den Eisstaub. Sie nickten einander bedeutungsschwer zu, und der Häuptling brummte ehrfürchtig: "Da steigen sie, die Toten auffem Weg nach Vollduunheim!"

Er hob seinen Humpen hoch hinauf in das Blau und rülpste erhaben.

 

Auf gewisse Weise hatte Wolkenbrand Eisenvater Recht. Etwas Totes stieg dort hinauf in die Welt, doch sein Ziel war nicht die ewige Festung der Götter unter dem Nordlicht, sondern das Dorf Täppenwinkel am Fuß der Weißhöh.

 

*

 

Einige Wegstunden davon entfernt beugte sich der Gode Godskalk wieder über sein Knochenorakel. "Hanno Säufferheld is' der Nächste", verkündete er gleichmütig.

Hanno hinkte zur Brücke. Nanno begleitete ihn, eine Hand ermutigend auf die Schultern seines Zwillings gelegt. Vor der ersten Planke blieb er stehen und nickte seinem Bruder zu. Doch dann rannten plötzlich beide Brüder nebeneinander über die schwankenden Bretter.

"He, das is' nich' erlaubt!" rief der Gode den Zwillingen hinterher. Gerfast Rundschädel, ähnlich überrascht, machte "Huhu!", breitete die Arme aus und versuchte, die Brüder gleichzeitig zu fangen. Das war sein Fehler, denn in seiner Unentschlossenheit bekam er Hanno zwar zu fassen, lockerte aber den Griff, um auch Nanno zu packen. Und schon war Hanno entwischt. Wütend fasste der Krieger nach, verfehlte den flinken Jungen aber und geriet bei seiner wilden Aktion ins Stolpern. Diese Gelegenheit nutzte Nanno, um Gerfast einen festen Ellenbogenstoß in die Seite zu versetzen und unter seiner Schulter durchzugleiten.

Dann standen die Brüder lachend und tanzend am jenseitigen Ufer.

Godskalk runzelte die Stirn. "Na gut, drüben seid ihr, ihr Buben, also habt ihr auch bestanden!" rief er schließlich. "Aber das macht ihr nich' nochmal!"

Die Zwillinge grölten triumphierend, während Gerfast fassungslos fluchte.

Der Gode ignorierte das Gelärme mit der Souveränität eines Mannes von zweihundertfünfzig Pfund Körpergewicht. Er befragte erneut die Knochen des Orakels.

"Joggurd, jetz' gehs' du!" verkündete er den Willen der Gebeine des Schicksals.

Joggurd trat ohne Zögern auf die Brücke. Drei Schritte vor Gerfast Rundschädel blieb er jedoch stehen. Gerfast, von dem Misserfolg bei den Zwillingen extrem motiviert, schnaubte entschlossen. Seine großen, groben Hände öffneten und schlossen sich im Rhythmus seines Atems.

Da flog ein ziemlich großer Stein dicht an seinem kahlen Kopf vorbei.

Plötzlich stürmte eine Horde von Knaben in weißbraunen Kuhfellen brüllend um die Wegbiegung vor der Brücke.

"Die Weihburschen von Schneeschiss!" rief der Gode aufgeregt. "Es sin' viele!"

 

*

 

Die Dörfer des Norlandes lagen so weit auseinander, dass sich die Angehörigen der verschiedenen Stämme normalerweise nur bei gegenseitigen Überfällen begegneten und bei dem traditionellen 'Großen Treffen' aller Krieger in der Mittsommerswoche.

Doch zur Burschweihzeit konnte es durchaus passieren, dass Weihburschengruppen bei der Bierbrücke aufeinandertrafen.

Dann beginnt ein altehrwürdiges und nach dem Maßstab der Hochnorländer sehr kompliziertes Ritual: Zuerst beschimpfen sich die Jungen, dann versuchen sie, sich gegenseitig von der Brücke zu stoßen, bis alle Angehörigen des einen Stammes im Wasser liegen - Gode und Brückenwächter eingeschlossen. Schließlich gehen die Gewinner singend nach Hause, um zu feiern. Und die Unterlegenen rächen sich, indem sie mit allen Kriegern ihres Dorfes am folgenden Morgen das Dorf der Sieger überfallen und alles übriggebliebene Bier, allen Bärenschinken und ein paar nette Mädels mitgehen lassen. Wenn die Überfallenen aus ihrem Rausch erwachen und begreifen, was passiert ist, überfallen sie wiederum das Dorf der Plünderer, denn nun haben die gefeiert und schlafen. So geht es dann über Monate, bis der Streit beim 'Großen Treffen' durch einige Einzelduelle und ein großes Besäufnis beigelegt wird.

 

*

 

Wie eine Horde blutdurstiger Dämonen rannten die Schneeschisser Weihburschen kreischend auf die Täppenwinkler zu, gefolgt von einem sehr kleinen, aber breiten Krieger und einem großen, mageren Goden.

"Auffe Brücke, alle, schnell!" rief der dicke Godskalk hektisch und lief selbst los. Das filigrane Gebilde aus Holz und Leder schwankte und ächzte unter seinem Gewicht wie ein Schiff in einem Orkan. Die Halteseile sangen wie gespannte Saiten. Joggurd musste sich blitzschnell auf die Außenseite des Geländers schwingen, um von den geheiligten Massen Godskalks nicht ins Wasser gedrängt zu werden.

"Komm' schon, Barn!" schrie Joggurd seinem Freund zu, der noch auf dem Pfad stand und auf die heranstürmenden Schneeschisser starrte. Erst als ein zweiter Stein heranflog und seine Schulter streifte, drehte sich und rannte los.

Kurz hinter ihm erreichten die Schneeschisser den Platz vor der Brücke und blieben schweratmend stehen. Neun Weihburschen waren es, und dazu der Krieger und der Priester.

Ein großer, wildhaariger Knabe mit schmutzigem Gesicht, einer großen Nase und Zähnen, die an das zerklüftete Bergland des Nordens erinnerten, baute sich vor den anderen auf und packte ein Halteseil.

"Wie isses, Mamasöhnchen?" höhnte er im rauen Dialekt der Schneeschisser. "Springt ihr freiwillig in's Wasser, oder müssen wir noch nachhelfen?"

Er rüttelte am Geländer, um die Brücke zum Schwingen zu bringen, aber gegen das Gewicht der Täppenwinkler, vor allem des Goden in der Mitte, war er machtlos. So unauffällig wie möglich ließ er die Hände vom Seil sinken.

Joggurd trat zwischen Barn und Fallburz, formte die Hände vorm Mund zum Trichter und rief: "Un' ihr, ihr Mädels von Schneeschiss? Wie könnt ihr wagen, auf die heilige Brücke zu treten, wo doch alle Stämme wissen, dass eure Mütter euch zwingen, Unterwäsche zu tragen?"

Der große Knabe wurde rot unter seinem Schmutz, denn Joggurd hatte tatsächlich die wunde Stelle der Schneeschisser Männer berührt.

"Wart ab, Goldlöckchen, du fliegs' als Erster!" stieß er zwischen den schadhaften Zähnen hervor.

Damit war der Rhetorik Genüge getan. Schrill kreischend stürmten die Schneeschisser vor. "Bück' dich!" zischte Joggurd Barn zu. "Wennse über uns sin', spring' wir mit aller Kraft hoch un' werfen die ersten ins Wasser!"

Barn nickte seinem Kumpel kräftig zu: aufspringen und die Kerle von der Brücke werfen! Er grinste breit. Ho, war das ein toller Plan!

Und so jäh wie eine zustoßende Eisnatter sprang er auf, schnellte die bald einhundert Pfund seines muskulösen Körpers grölend den Schneeschissern entgegen und rammte dem wildhaarigen Weihburschen seinen dicken Schädel direkt in den Magen.

Der Bursche machte ein Geräusch, wie es sonst beim Anstechen allzu warmer Bierfässer entsteht, bäumte sich auf und stand für einen schier endlosen Augenblick reglos über dem Geländer. Dann kippte er nach vorne und in die Tiefe. Die Fontäne seines Aufschlags spritzte bis hoch auf die gebleichten Planken der Brücke.

Barn verlor ebenfalls das Gleichgewicht. Der Zusammenstoß dröhnte in seinem Schädel wie der Amboss seines Vaters unter einem besonders dicken Schwert. Benommen musste er in den Spannseilen Halt suchen.

"Jetzt, Weihburschen! Jetzt zeigen wir es den feigen Hunden!" brüllte der Gode Godskalk von hinten. "Werft sie alle von der Brücke!"

"Ja, werft sie alle!" hörte Barn Joggurd neben sich rufen, dann sah er Gestalten in bunten Fellen an sich vorbeieilen, hörte Stimmen fluchen und Körper zusammenprallen. Die schmale Brücke geriet in Bewegung, als die Täppenwinkler und Schneeschisser aufeinandertrafen. Barn wurde von den Beinen gerissen und ins Geländer gedrückt. Schläge klatschten. Ein zappelnder Körper streifte Barns linke Schulter und schlug tief unter ihm im Wasser auf.

Bald fiel ein weiterer. Das Geschrei wurde lauter, und die Brücke schwankte stärker. Die alten Spannseile knarrten wie ein Tisch beim Armdrücken im Männerhaus. Godskalk der Gode brüllte. Joggurds hohe Stimme hallte im Felsenkessel wider. Mehr Körper schlugen im Eiskübel auf.

Nun sangen die ledernen Sehnen der Brücke wie der eisige Nordwind, der sich in einem hohlen Baum verfangen hat. Barn spürte das Zittern der Seile unter seinen verkrampften Fingern. Dann gab es einen kurzen, scharfen Ton.

Beide Spannseile der Brücke waren auf einmal gerissen. Der blaue Himmel war jäh von umherpeitschenden Lederschnüren durchwoben.

Die miteinander verbundenen Holzplanken hielten noch eine kurze Weile, dann gaben auch sie nach - genau dort, wo Godskalk der Gode mit schreckensbleichem Gesicht die Arme zum Himmel erhoben hatte. Und die Welt kippte um.

Barn fühlte sich von einer ungeheuren Kraft gepackt, herumgezerrt und mitgerissen. Schreie gellten in seinen Ohren. Ein gewaltiger Stoß ins Kreuz presste ihm allen Atem aus den Lungen. Für einen Moment wurde ihm schwarz vor Augen.

Schließlich fand er sich mit dem Kopf nach unten drei Barbarenlängen über dem See baumelnd wieder. Sein linker Fuß hatte sich zwischen zwei Planken der Brücke verfangen.

Das Wasser unter ihm brodelte von um sich schlagenden Körpern. Barn sah Godskalk den Goden, der sich mühsam auf den Pfad neben dem Bach wuchtete. Dort kauerte schon der wildhaarige Bursche und rieb sich frierend die Arme.

"Wir ham gewonnen!" brüllte Godskalk, packte den Burschen, hob ihn über den Kopf und warf ihn zurück ins Wasser. "Täppenwinkel hat für immer gewonnen!" Er zeigte auf Barn, der vor der Felswand hing. "Einer is' noch auf der Brücke! Einer von uns!"

 

*

 

In einen lautstark grölenden Triumphzug trugen die Täppenwinkler Burschen den verlegen grinsenden Barn auf ihren Schultern in das Dorf.

Unter dem anfeuernden Geschrei des Goden und seiner Kumpels hatte Barn seinen geschwollenen Knöchel befreit und war mühsam die Reste der Brücke hinaufgeklettert. Scheinbar Stunden hatte es gedauert, bis er seinen schmerzenden Körper über den Felsrand gequält hatte und zitternd auf dem Weg stand. Und dann wäre er beinahe doch noch in den Eiskübel gestürzt, denn sein linkes Bein war unter ihm weggeknickt, als er jubelnd die Arme hochreißen wollte.

Nun aber hatte er es geschafft, er hatte auch diese Prüfung bestanden und war schon fast ein richtiger Kerl! Das Bild vom Jungfernstein und einer nackten Skjörga im Frühlingsgras leuchtete in hellen Farben in seinem Geist.

 

*

 

Die Frauen und Mädels liefen auf dem Dorfplatz zusammen, als sie den Lärm hörten. Einige trugen Hornhelme und waren mit Messern oder Schwertern bewaffnet, denn der Tod der Krieger und die Geschichte von dem grässlichen Dämon hatte alle sehr nervös gemacht. Es gab erleichterten Beifall, als klar wurde, dass es nur die eigenen Weihburschen waren, die da kamen. Allein Swiga Säufferheld, die allzeit besorgte Mutter der Zwillinge, zerrte ihre völlig durchnässten Söhne aufgeregt schimpfend an den Ohren nachhause.

Vor dem Männerhaus hielt der Gode den Zug an.

"Ihr geht 'rein, Burschen, un' lasst euch von Vivi un' Ivi mal richtig verwöhnen!" Godskalk lachte, dass ihm die Wassertropfen wie Regen aus dem eisgrauen Haar und Bart stoben. "Der Gerfast un' ich, wir geh'n noch hoch auf die Hochsteige, um dem Häuptling zu berichten un' mit den Kriegern zu trauern. Bei Sonnenuntergang sin' wir zurück, dann werdet ihr echte Männer!"

Gerfast, der sehr erfreut war, nun doch noch mit den Kumpels das heilige Bier trinken zu können, schlug Barn onkelhaft auf die Schultern.

"Du has' was gut bei mir, Sohn meines besten Freundes, weil's deinetwegen so schnell gegang' is' mitter Prüfung! Kanns' heut' abend um den Tanz bitten mit meiner Skjörga, un' ich bin sicher, die sagt auch nich' nein!"

Bei der Nennung des geliebten Namens fuhr dem jungen Barbaren ein heißer Schrecken bis hoch in die Ohren, die sofort rot wurden. Ahnte der alte Gerfast etwa etwas?

Barn senkte hastig den Kopf und murmelte: "Geht schon klar, Alter."

Doch innerlich tobten die Gefühle. Er würde heute Abend mit Skjörga tanzen! Dann würde er sie heim in ihre Hütte bringen, während die anderen noch feierten, und dann...

Dann traf ihn ein zweiter heftiger Schlag zwischen die Schulterblätter. "Bei Gruunz, völlig verliebt isser, unser Held!" grölte Gerfast ausgelassen. "Völlig verliebt."

Barn schnaubte geringschätzig. Er und verliebt! Verliebt, das war etwas wie Kuchenbacken und warme Wollmützen! Mädelkram! Echte Kerle brauchten so etwas nicht!

Aber seine Ohren glühten wie die Holzkohlen, in denen seine Mutter Kastanien röstete.

Zu seiner Rettung schob sich der gewaltige Bauch des Goden zwischen ihn und den grinsenden Gerfast.

"Ach Gerfast!" rief der Gode. "Lass' man unsern Barn Halmschmid in Frieden! Er is' ein echter Held, un' er kann jetz' jedes Dorf im Norland überfallen, um sich seine Braut zu suchen!"

Dann formte er die Hände vor den Lippen zu einem Trichter und rief ins Männerhaus hinein.

"He, ihr, Vivi un' Ivi! Wacht auf da drin! Gebt unseren siegreichen Burschen hier ein kleines Fass Bier un' gut zu Essen, die müssen heute Abend noch fix tanzen!"

Er lachte wieder. Dann nahm er Gerfast bei der Schulter, und beide gingen über den Dorfplatz zum Mittweg, um sich den trauernden Kriegern auf der Hochsteige anzuschließen.

Die Sonne schien, und die Frauen sangen, während sie den Tanzboden mit bunten Fellen und frischen Zweigen schmückten.

Alles war friedlich im Dorf Täppenwinkel.

 

*

 

Alles brannte vom Feuer des Himmels. Die brüllenden Flammen der Sonne hatten es verfolgt, als es aus dem Eis gebrochen und blutend den Hang hinabgerutscht war, um im Schatten der Wälder Schutz zu finden.

Die Augen waren ihm in den Höhlen verkohlt, und in der wahnsinnigen Wut über den Schmerz hätte es sich beinahe selbst verloren. Es wollte springen, hinauf zur Sonne, und sie aus dem Himmel reißen und zerfetzen. Aber da war es gestürzt und klaftertief über Felsen in die Finsternis gefallen.

Nun kauerte es im Herzen des Waldes, ein verkohltes, zerschmettertes schwarzes Ding, das eigentlich zwei war, und wühlte dicke, bleiche Maden aus dem Boden, um seinen Hass zu nähren, bis es dunkel wurde.

 

*

 

Durch einen anderen Wald marschierten, bis auf die Unterwäsche durchnässt, frierend und gedemütigt die Schneeschisser Burschen.

Und auch sie trugen den Hass auf Täppenwinkel in den Herzen. Vor allem der wildhaarige Junge, der einige Schritte hinter den anderen trottete und mit dumpfem Blick auf den Boden starrte.

Er hieß Nerf Steinbrecher, und er war der einzige Sohn des Schneeschisser Häuptlings Brockenhau Steinbrecher. Für ihn war der Sturz in das Wasser des Eiskübels schlimmer als für alle anderen, denn er hatte bereits eine Burschweih nicht bestanden, weil er beim Weihtanz eine Schlägerei angefangen und beide Beine gebrochen bekommen hatte.

Das Gesicht des blonden Täppenwinklers, der ihn von der Brücke gestoßen hatte, tanzte höhnisch grinsend durch seine düsteren Gedanken. Er würde es nicht vergessen. Und auch den Namen nicht. 'Barn' hatten sie ihn genannt.

Nerf ballte die Fäuste, und zum hundertsten Male zerschmetterte er im Geiste dem blonden Barn die Fresse.

Dies in der wirklichen Welt zu tun, war genau das, was er heute Abend vorhatte. Denn sein Vater, der Häuptling, würde tun, was er ihm vorschlug, um der Schande zu entgehen, einen Sohn zu haben, der zweimal bei der Burschweih versagt hatte.

Und Nerf würde vorschlagen, die Prüfung auf der Brücke für ungültig zu erklären und stattdessen mit allen Kriegern das Dorf der Täppenwinkler noch während des Tanzes zu überfallen, um sie für die Freveltat der Zerstörung der Bierbrücke zu bestrafen.

Nerf knirschte mit seinen schadhaften Zähnen. Er würde Barn langsam töten und dabei das Wissen genießen, dass er dessen Seele als Schanksklaven in Gruunz Küche schickte! Und dann würde er sich das Mädel nehmen, mit dem der Täppenwinkler getanzt hatte, und sie als Sklavin in seine Küche stellen!

 

*

 

Im Inneren des Männerhauses von Täppenwinkel war es warm und gemütlich. Joggurd zog Barn zu einem Tisch in der Nähe des Feuers, an den sich nach einigem Zögern auch Fran Mannhau setzte. Fallburz der Fauler machte sich auf dem alten Schneebärenfell direkt vor dem Kamin breit. Er holte ein Messer und ein Aststück aus seiner Weste und begann einen Angelhaken zu schnitzen.

"Mann, wir ham's tatsächlich geschafft!" rief Joggurd und ließ die schmale Faust auf die Tischfläche niedersausen. "Jetz' sin' wir so gut wie fertige Krieger! Schon morgen können wir losziehen un' uns die ganze Welt ansehen! Die Weichlande, Kümmerien, das Daal! Myr Mamon, Thenil, Schilfmahr un' Myll! Vielleicht sogar das sagenhafte Krawalle, falls es das wirklich gibt! Tausende von Abenteuern! Wüsten! Berge! Wälder! Meere! Alles! Bis zum Rand der Welt - un' weiter!"

Ein heller Glanz war in Joggurds Augen getreten. Barn sah den Freund unsicher an. Er verstand ihn nicht. Was wollte Joggurd mit all diesen seltsamen Namen, die kaum mehr waren als Schnee auf der Hand? Was gab es besseres, als mit den Kumpels an langen Winterabenden zusammen am Feuer zu sitzen, heißes, gewürztes Bier zu trinken, zu würfeln und die alten Lieder zu singen? Im Sommer die anderen Dörfer zu überfallen und Spaß beim Großen Treffen zu haben? Und eine eigene Hütte mit einem netten Mädel, das den Herd und das Bett warm hielt?

"Du kommst doch mit mir, Alter?" Joggurd streckte Barn über den Tisch hinweg die Hand entgegen.

Barn zögerte.

In seine Verlegenheit hinein kam Ivi Schneedorn mit einem leeren Tablett und ihrem knappen Schneelammfell an den Tisch.

"Na, ihr kleinen Männer dürft jetzt auch schon ganz allein hier sitzen un' Bier trinken?" fragte sie lächelnd. "Wie die Zeit vergeht. Kinder werden zu Männern. Männer ziehen in den Krieg. Männer nehmen Frauen. Männer zeugen Kinder."

Dann seufzte sie. "Und an mir geht alles vorbei."

Joggurd fasste nach dem Handgelenk am Tablett und sah Ivi unendlich ernst ins Gesicht. "Ivi, wenn du mit mir tanzt heut' Nacht, dann nehm' ich dich mit in die Welt", sagte er.

Ivi entriss dem jungen Barbaren so hastig die Hand, als wären seine schmutzigen bleichen Finger weißglühendes Metall. "Hast schon zu viel Bier getrunken heute, Kleiner?" schrie sie schrill. "Lasst mich bloß in Ruhe mit diesem leeren Geschwätz!"

Mit hochrotem Gesicht rannte sie zurück in die Küche.

Barn blickte Ivi irritiert hinterher.

"Ho, Mädel!" rief er. "Da war doch was mit Essen? Wo issen das Essen? Ich hab' Hunger!"

Ein gewaltiger Lärm von stürzenden Kupferkesseln und splitterndem Geschirr kam von der Küche her, dann die erregten Stimmen von zwei streitenden Frauen. Schließlich war Stille.

Nach einiger Zeit erschien dann Vivi Schneedorn mit einem Tablett vollgefüllter Humpen im Schankraum. Sie stellte das Bier vor die Knaben, lächelte abwesend, sagte aber nichts. Vier frische, blutige Kratzer zogen sich von ihren Wangenknochen bis zum Kinn. Lautlos wie ein Gespenst verschwand sie wieder in der Küche.

Joggurd öffnete den Mund, als wolle er etwas sagen, hob aber nur den Humpen und trank, bis ihm der Schaum aus den Mundwinkeln rann.

Barn grinste. Ho, das war wieder sein alter Kumpel Joggurd! Er griff sich selbst ein Bier vom Tablett und riss es hoch.

"Hoho! Auf mein' Kumpel Joggurd!" dröhnte er und zwinkerte dem Freund zu. Joggurd setzte seinen Humpen ab und zeigte ein schwaches Grinsen.

"Klar, Barn, wir machen das schon", murmelte er und blickte verträumt zur Tür, durch die das goldene Sonnenlicht eines Spätwintermittags ins Männerhaus fiel.

 

Während die Sonne sank und ihr Licht rötlich wurde, leerten die Täppenwinkler Weihburschen tapfer Humpen um Humpen. Der Geist des Gottes Gruunz, der dem Getränk innewohnte, beflügelte die Gedanken und Worte, und als die Abenddämmerung blaugrau vor der Tür stand, waren die vier jungen Barbaren etwas schwerfällig in ihren Bewegungen, aber voll Tatendrang.

Da kam von draußen der markerschütternde Ruf des norländischen Ochshorns. Und der hornbehelmte Umriss des Häuptlings Wolkenbrand Eisenvater schob sich in den Türrahmen und sperrte das letzte Tageslicht aus.

"Auf, hoch, ihr Weihburschen!" brüllte er, dass die Flammen in der Feuerstelle ängstlich flackerten. "'Raus mit euch! An die frische Luft! Es geht weiter!"

 

Blinzelnd und benommen erhoben sich die Weihburschen. Der kleine Fran Mannhau musste sich an der Tischplatte abstützen, um nicht umzufallen. Fallburz grinste blöde und gab dem alten Schneebärenfell vor dem Kamin noch einen Kuss, bevor er aufsprang und mit einiger Wucht gegen den Türrahmen lief.

Draußen empfing die vier jungen Barbaren der spöttische Jubel der Krieger. Sie standen in zwei Reihen links und rechts der Tür, und jeder hielt eine brennende Fackel in der Rechten. Ihr Spalier führte direkt hin zum Tanzboden, um den herum vier hohe Feuer und zahllose Fackeln brannten. Dort standen die Frauen in ihren Festtagskleidern und hielten Kiefernäste voller hellgrüner Knospen in den Händen. Der Abendhimmel glühte in hellem Orange. Es war ein prächtiger Anblick, den die Weihburschen jedoch nicht voll zu würdigen wussten, denn die frische Luft und der Lärm vertrugen sich nicht sehr gut mit dem Bier in ihren Bäuchen.

Ruhig und würdevoll schritt der Häuptling zum Tanzboden, stieg die vier Stufen des Podests hinauf und drehte sich dann mit erhobenen Armen um. Der Jubel verstummte.

"Männer un' Burschen! Weiber un' Mädels!" begann Wolkenbrand die traditionelle Rede des Häuptlings zum Burschentanz. "Es is' wieder soweit: das rote Feuer der Sonne versinkt über dem letzten Abend der Burschweih, un' vor mir steh'n die, denen die Schicksalsrunen der Drei Schwarzen Schwestern bestimmt haben, vor mir zu steh'n! Mit der Kraft un' dem Verstand echter Männer ham sie gezeigt, dass sie würdig sin', Krieger unseres Dorfes zu werden! Fünf Prüfungen", er spreizte die Finger der Rechten. "Fünf Prüfungen ham diese prächtigen Burschen bestanden, un' es waren schwere Prüfungen, von der 'Probe des Torbalkens' bis zum Kampf auffer Bierbrücke."

Hier hielt er inne und rieb sich die Nase mit einem Zeigefinger.

Dann fuhr er etwas leiser fort: "Die is' ja nun wohl kaputt, die Bierbrücke. Das is' 'ne schlimme Sache. Aber der Gode, aus dem im Rausch des heiligen Bieres der Gott Gruunz spricht, hat verkündet, dass Gruunz' Zorn nich' auf unserm Dorf liegt, sondern sich gegen die feigen Memmen aus Schneeschiss wenden wird, denn nur durch ihren hinterhältigen Überfall wurde die Brücke zerstört!"

Nun grinste er breit.

"Un' jetz' zurück zum Tanz. Ihr alten Kerle wisst ja, wie es geht", rief er den Kriegern zu. "Schließlich habt ihr alle ein' Haufen Bälger bekomm' mit den Mädels, die ihr beim Tanz kennengelernt habt, wie?"

Die Männer lachten laut und dreckig. Die Frauen auch, aber aus anderen Gründen.

Der Häuptling hob wieder die Arme, bis Ruhe einkehrte. Dann wandte er sich an die Burschen, zu denen inzwischen auch Hanno und Nanno Säufferheld getreten waren. Sie waren von ihrer Mutter bis unter das Kinn in dicke Wollumhänge gewickelt worden, damit sie sich bloß nicht erkälteten.

"Aber euch Burschen, euch muss ich das noch erklären", rief Wolkenbrand mit wichtiger Miene. "Wie ihr wisst, erfand der große Gott Gruunz nich' nur Krieg un' Bier, sondern auch den Tanz un' die Weiber! Ein echter Norländer muss also nich' nur ein Kämpfer un' ein Trinker, sondern auch'n Teufelskerl auffem Tanzboden un' bei den Mädels sein! Um zu beweisen, dass ihr so welche Kerle seid, sollt ihr euch heute Abend das Mädel suchen, das euch am besten gefällt, un' mit dem Mädel die vier alten Tänze des Norlandes tanzen."

Der Skalde Jofrech stieß nach diesen Worten des Häuptlings kräftig ins Ochshorn. Der langgezogene Ton hallte aufs schaurigste von den Bergen wider.

"Tretet vor mich, Weihburschen!" intonierte Wolkenbrand Eisenvater feierlich.

Die sechs jungen Barbaren schritten langsam auf ihren Häuptling zu. Die Sonne ging gerade hinter den steilen Gipfeln der Sieben Zackigen Brüder unter und übergoss den Dorfplatz ein letztes Mal mit goldenem Licht. Dann lag Täppenwinkel im Schatten, und nur noch die Fackeln leuchteten rotflackernd über den Köpfen der Menschen.

"Auf die Tanzfläche, Burschen!" befahl der Häuptling.

 

Die Dunkelheit der nahenden Nacht floss als ruhiger Strom feuchter Kälte durch die versengten Nüstern. Die Ranke kroch beißend in seinen toten Körper und heilte auf ihre widerliche Art, indem sie Zerstörtes überwucherte. Schließlich richtete es sich auf und betrachtete mit ruhiger Gewissheit die wenigen Sterne am Himmel. Es würde heute Nacht noch einmal töten und trinken, zum letzten Mal. Dann würde es sich verändern.

Die Ranke zuckte und pulsierte.

Der warme Geruch des Menschendorfes drängte von ferne wie eine uralte Sehnsucht zum Aufbruch. Es machte sich auf den Weg.

 

Mit knirschenden Zähnen begrüßte Nerf Steinbrecher die Dämmerung, denn sie bedeutete, dass der Zug der vier mal fünf Krieger und Burschen langsamer vorankam. Auch wenn der Waldpfad zwischen Schneeschiss und Täppenwinkel bei den zahllosen Überfällen beider Seiten fast zu einer Straße aus gestampfter Erde getreten worden war, machten Nacht und Winter ihn zu unsicherem Gelände für die schwerbewaffneten Männer. Vor allem, weil niemand daran gedacht hatte, Fackeln mitzunehmen.

Nerf schickte ein hastiges und barsches Gebet zu Glungg, dass der Gott möglichst bald einen hellen Mond aufgehen lassen möge. Er wollte den Barn um jeden Preis noch vor seiner Weihung zum Krieger stellen!

Der vor ihm gehende Vater drehte sich um. Er war ein großer, breitschultriger Mann ohne Bart, dessen Haar wie das seines Sohnes unbändig in allen Richtungen abstand.

"Nerf, wenn du noch'n einziges Mal mitten Zähnen knirscht, brech' ich die alle einzeln aus!" drohte er leise.

"Schon klar, Vadder..." murmelte Nerf und ballte die Fäuste, um nicht mit den Zähnen zu knirschen.

Ein kurzer Schlag gegen die Stirn ließ ihn Sterne sehen.

"dass das klar is'", zischte Brockenhau Steinbrecher. "Ich tu' das nich' für dich. Wenn ich nich' noch 'ne alte Rechnung mit dem fetten Wolkenbrand von Täppenwinkel auszugleichen hätte, würd' ich jetz' am Feuer sitzen un' mit Freude zuseh'n, wie der Gode dich mit der Runenrute verdrischt, weil du die Prüfung versaut hast!"

Nerf grunzte böse.

Aber er sagte nichts, denn der Weg öffnete sich nach einer Biegung zu einem Ausblick auf ein kleines, verschneites Tal, an dessen Ende die roten Punkte fernen Feuers blinkten. Und darüber strahlte der Gipfel der Weißhöh im Blutrot des letzten Sonnenlichts wie ein gezogenes Schwert.

 

*

 

Ehrfürchtig und unsicher standen die Weihburschen nebeneinander auf den alten Planken des Tanzbodens von Täppenwinkel. Generationen von drehenden und schiebenden Barbarenfüßen hatten das dunkle Holz so blankpoliert, dass sich die Fackeln darin spiegelten wie in einem stillen nächtlichen See.

Mit verschränkten Armen musterte der Häuptling die sechs jungen Barbaren. Dann schmunzelte er und sprach:

"Ich erinner' mich noch, wie's war, als ich selbst als Bursche hier vor dem alten Gurtberst Bierbrauer, der damals unser Häuptling war, stand. Gruunz, ich war so aufgeregt, dass ich kaum gerade steh'n konnte. Ich konnt' nur an meine Frigga denken, un' ich war sicher, dass ich mich mit allen Burschen des Dorfes prügeln müsste, nur um mit ihr tanzen zu könn'. Un' ich war bereit, für sie zu kämpfen, bei Glungg! Aber dazu kam es nich'..."

Er schüttelte den zottigen Kopf.

"Die andern Burschen hatten alle nur meine Schwester im Sinn, die Runa. Jeder wollte mitter Runa schwenken! Bei Glungg, das gab eine Armdrückerei, dass der alte 'Eisenarm' fast durchgebrochen wär'!"

Wolkenbrand Eisenvater kicherte ausgesprochen würdelos. Dann straffte er seinen Gürtel und wurde durch diese schmerzhafte Aktion jäh wieder ernst.

"Ihr Burschen habt bewiesen, dass ihr die Sinne und Fähigkeiten eines Kriegers habt!" rief er. "Un' da gefällt dem einen oder anderen vielleicht auch schon ein bestimmtes Mädel. Wenn das so is', oder wenn euch eins jetz' besonders auffällt, dann sagt es euerm Vatter. Der geht dann zu dem Vatter von dem Mädel un' sagt es ihm. Wenn's dem dann recht is', dann schickt der sein Mädel zum Burschen. Wenn's ihm nich' recht is', gibt's 'ne Schlägerei zwischen den Vättern, un' wer gewinnt, hat recht. Un' wenn mehr als ein Bursche mit einem bestimmten Mädel tanzen will, dann gibt's ein Armdrücken zwischen den Burschen, un' der Sieger bekommt das Mädel."

Der Häuptling schneuzte sich in die dicken Finger und schlenkerte den Rotz mit dem Geschick langer Erfahrung beiseite.

"So einfach is' das. Wenn dann jeder sein Mädel hat, dann wird getanzt. Unser Skalde, der Jofrech, schlägt die Humpendrumme un' singt."

Wolkenbrand Eisenvater zwinkerte vielsagend, dann schwang sich die schlanke, elegante Gestalt Jofrechs neben ihn auf den Tanzboden. Der Skalde schüttelte seine langen blonden Locken und hob die Humpendrumme, die traditionelle Tanztrommel des Norlandes. Die Humpendrumme war ein riesiger hölzerner Bierhumpen, dessen Trinköffnung mit der geschabten Haut der Schneekuh überzogen war. Sie wurde mit der bloßen Hand geschlagen und erzeugte einen Ton, der ähnlich klang wie ein kräftiger Hieb in den Magen.

Jofrech lächelte breit und strahlend.

"Joho, Kerle!" rief er. "Keine Bange vor'm Tanzen! Ihr habt ja schon die Großen tanzen seh'n, un' eure Kinderreigen getanzt, ne? Jetz' is' das fast genauso. Erst kommt der Dreher, da dreht ihr euch mittem Mädel einfach im Kreis. Dann kommt der Schieber, da schiebt ihr das Mädel vor und zurück. Beim Schwenker hebt ihr einfach manchmal das Mädel hoch, während ihr schiebt oder dreht. Un' dann kommt der Bump. Der is' der Lieblingstanz vom Gott Gruunz. Da macht ihr einfach, was ihr wollt, nur schön eng am Mädel. Alles klar?"

Die Burschen nickten unsicher. Die meisten starrten nervös auf ihre Fußlappen. Nur Fallburz bohrte ungeniert in der Nase.

Jofrech lachte herzhaft und fuhr sich durch das gelockte Blondhaar.

"Ich sehe schon, ihr seid geborene Herzensbrecher! Unsere Mädels werden begeistert sein!"

Er schlug mit den Fingern der linken Hand einen Wirbel auf der Drumme.

"Und hier kommen sie!" rief der Skalde von Täppenwinkel überschwänglich. "Die Mädels unseres Dorfes! Sanft wie frisch gefallener Schnee, kräftig wie eine junge Kiefer im Sturm, schön wie die Sonne am Mittag! Eisblumen des Norlandes! Geschaffen, einem Krieger zu gefallen, geschaffen, neue Krieger zu gebären!"

Er zwinkerte den Weihburschen zu.

Die Krieger begannen ein lautstarkes Schildegeklapper; die Frauen stimmten das traditionelle lange Seufzen der norländer Mütter an.

Aus der Dunkelheit gegenüber den Burschen hob sich ein sprühender Bogen aus Fackeln, gehalten von den Frauen, die im vergangenen Jahr einen Sohn geboren hatten, und hindurch schritten barfuß und mit gesenkten Häuptern die 'Mannbaren Mädels' des Dorfes, je zwei nebeneinander. Sie trugen die traditionell knappen, tief ausgeschnittenen Tanzkleider aus beigem Rehleder und Kränze aus duftigem Schneedorn um die Stirnen als Zeichen ihrer Unschuld.

Barn spürte, wie ihm die Hitze ins Gesicht schoss. Er wagte nicht aufzusehen. Neben ihm husteten die Säufferheld-Zwillinge und scharrten nervös mit den Füßen.

Über den ohrenbetäubenden Lärm der Schilde und Mütter hob sich mit Leichtigkeit Jofrechs geschulte Skalden-Stimme.

"Sie treten vor uns als erste Knospen des fernen Frühlings! Sie bringen Schönheit und Wärme in unsere Mitte! Und als erstes kommen..."

Der Skalde machte eine Pause und schlug einen Wirbel. Barn hob zaghaft den Kopf.

"...Wigga und Gigga Schneekuhl, zwei der lieblichen Töchter unseres armen Wulle, der ihnen jetzt nur noch von Gruunz' Tafel aus aufmunternd zuzwinkern kann!"

Viele Rehe hatten für die Kleider von Wigga und Gigga sterben müssen, und doch fand Barn sie noch zu knapp, als die beiden pummeligen Schwestern nun schwitzend, schnaufend und rotbackig wie Äpfelchen vor den Weihburschen standen. Joggurd stieß Barn in die Seite, murmelte "Die wär'n doch genug für uns alle, oder?" und kicherte heftig.

Plötzlich rief Fallburz sehr laut: "Haut ab, ihr zwei, ihr steht den Mädels im Weg!"

Ein brüllendes Gelächter stieg in den Abendhimmel, und mit hochroten Köpfen zogen sich die Schneekuhl-Schwestern in die hinterste Ecke des Tanzbodens zurück. Die nächsten zwei 'Mannbaren' traten vor.

"Nun stehen vor uns: Birke Mannhau und Ingibjörk Bierbrauer", verkündete Jofrech das Offensichtliche.

Birke war wie ihr Bruder Fran schmal, dunkelhaarig und etwas unauffällig. Barn hatte sie in vergangenen Wintern einige Male mit Schnee eingeseift; sonst wusste er nichts von ihr.

Ingibjörk Bierbrauer dagegen kannte er gut: im Gegensatz zum Rest ihrer Familie war sie groß, schlank und muskulös, konnte gut mit dem Schwert umgehen und hatte Barn einige gemeine Kampftricks gezeigt. Als beide noch jünger gewesen waren, hatten sie bei der gemeinsamen Jagd auf Schneekater viel Spaß gehabt. Ein gutes Mädel, die Ingi, schade nur, dass sie so mager war!

"Alraune Erbrecht und Schneeburga Halmschmid!"

Alraune Erbrechts Auftritte als 'Mannbares Mädel' waren seit fünfzehn Wintern fester Bestandteil des Burschweihfestes. Und seit einigen Wintern war ihr früher rabenschwarzes Haar mit grauen Strähnen durchwoben. Seit dieser Zeit hatte ihr Godskalk, der Gode, auch einige Male angedeutet, dass die Schwesternschaft der Hexen und Seherinnen auf dem Geisterzacken immer gern neue, ledige Schwestern aufnahm. Aber Alraune hatte darauf bestanden, dass eines Tages ihr Prinz sie direkt vom Burschweihfest hinfort führen würde. Gott Gruunz selbst habe ihr das während eines Traumes versprochen. So war sie mittlerweile dreißig Jahre alt geworden, ein beträchtliches Alter für eine norländer Frau. Und noch immer trug sie das knappe Rehlederkleid und ging barfuß.

Ein Schrecken ganz anderer Art war für Barn das Auftauchen seiner eigenen Schwester. Dieses elende, kratzende, beißende Ungeheuer, das er immer nur mit Schlamm in den Haaren und wutrotem Gesicht erlebt hatte, dieser Plagegeist erschien jetzt bei seiner Burschweih als 'Mannbares Mädel'? Gruunz war fürwahr ein launischer Gott! Zugegeben, sie sah in dem knappen Kleid irgendwie ganz anders aus, als er sie in Erinnerung hatte, ein bisschen wie Ingi, nur runder an den richtigen Stellen. Aber er konnte ihr nicht vergessen, wie sie ihn vor den anderen Mädels des Dorfes lächerlich gemacht hatte, nur weil er ein paarmal seine Winterhose mit dem Fell nach außen getragen hatte. Doch dann wurden seine zornigen Gedanken mit einem Male beiseite gewischt.

"Ivi Schneedorn und Skjörga Rundschädel!" verkündete der Skalde, und für Barn ging an diesem Abend die Sonne noch einmal auf.

 

*

 

Leise zähneknirschend betrachtete Nerf die geduckten Hütten hinter dem flachen, schneebedeckten Wall. Das frohe Geschrei und das helle, flackernde Licht der vielen Fackeln, die ganze Festtagsatmosphäre, die das ahnungslose Dorf so aufdringlich ausstrahlte, fachten seinen Hass zusätzlich an. Ha, wie ein bluttrinkender Eisdämon aus Vulgars Höllen würde er unter diese singenden Täppenwinkler fahren und schlitzen und schänden!

"Wir wer'n zu dem Wald da geh'n un' uns da versteck'n, bisses richtig dunkel is'", brummte Nerfs Vater neben ihm. "Wir mach'n kein dummes Zeug, solange da drüb'n noch'n Kerl nüchtern is'. Die von Täppenwinkel mögen alle Deppen sein, aber sie sin' auch Krieger, denen so leicht keiner den Humpen unter'm Maul wegklaut!"

Beinahe lautlos zogen die Schneeschisser im Gänsemarsch durch den harschigen Schnee zu den Schatten des kleinen Kiefernwäldchens beim Dorfanger. Zwischen den hohen Stämmen lastete bereits das frostige Schweigen einer norländer Winternacht.

"Legt euch hin un' ruht euch alle aus. Ich un' der Nerf halten Wache un' wecken euch, wenn was passiert!" befahl Brockenhau Steinbrecher leise seinen Männern. "Die Nacht kann hart un' lang werden, un' ich will, dass jeder alle Kraft bei sich hat, wenn's losgeht!"

Die Schneeschisser Krieger und Burschen zogen ihre dicken Pelzumhänge eng zusammen und wühlten sich zum Schlafen in die Schneewehen am Waldrand. Bald bewegte nur noch ihr Schnarchen die eisige Luft unter den Kiefern.

"Jetz' wirs' du lernen, was Warten bedeutet, mein Bester!" zischte Brockenhau seinem Sohn zu. "Un' es wird dir guttun, bei Glungg!"

Und sie warteten, nur mit der Stille der weiten Wälder hinter sich.

 

Es kauerte an einem schwarzen Ort zwischen kranken Kiefern und sog den fleischigen, unbeholfen lebendigen Duft des Dorfes ein. Ein seltsames Gefühl stellte sich ein, ein unangemessenes Gefühl: Trauer. In einer Vergangenheit, an die es nicht mehr zu denken wagte, war es auch wie diese Menschen gewesen. Nicht so schwach, nicht so weich natürlich. Aber es empfand für einen kurzen Moment, dass es etwas verloren hatte seit dieser Zeit.

Die Ranke bohrte sich schmerzhaft durch die brüchigen Schädelknochen. Sie signalisierte etwas Neues. Ein wenig vor dem Dorf, direkt in seinem Weg, hatten sich Menschen zwischen den Bäumen verborgen. Die meisten von ihnen schliefen, aber zwei waren wach und warteten. Wollten sie ihm etwa einen Hinterhalt legen?

Rote Wut durchzog das Gerank um seinen Leib wie ein Krampf und presste auf die zersplitterte Schale seines Kopfes. Was hatte es denn verloren seit jener Zeit, außer Schwäche und kindischer Träumerei?

Wie konnte es sich durch leere Sentimentalitäten von seinem Ziel ablenken lassen! Wenn es solche nutzlosen Erinnerungen doch nur aus sich herausreißen könnte wie Därme aus einem Opfer!

Warum lauerten ihm diese Menschen immer wieder auf? Wie konnten sie glauben, es bezwingen zu können? Wie konnten sie nur vermuten, ihm durch lächerliche Wachsamkeit zu entgehen, mit ihren schwachen, stets von Müdigkeit und Trieben getrübten Sinnen?

Wollten sie denn nicht begreifen, dass es beinahe ein Gott war?

Die Ranke bohrte sich kalt durch sein Rückgrat. Es erhob sich. Seine zahlreichen Gelenke karrten wie brechende Bäume. Als schweigender Herr des Todes würde es aus den Wipfeln über sie kommen, und aus ihren kreischenden Hüllen trinken, bis ihre Schreie in ihm hilflos verhallten. Dann würde es ins Dorf gehen und sich die weichen Frauen nehmen.

 

"Nun, da ihr alle Mädels des Dorfes vor euch gesehen habt, geht zu euren Vätern, Burschen, und sagt ihnen, welche zarte Frucht euern Appetit erregt hat!" rief Jofrech vergnügt und schlug die Drumme, dass sie laut in die Nacht hinaus dröhnte.

Mit einem Herzen, das im Hals klopfte wie ein balzender Schneespecht, ging Barn vom Tanzboden hinunter zu seinem Vater, der in der ersten Reihe der vor dem Männerhaus versammelten Krieger stand.

Helmer Halmschmid grinste breit, als er sich zu seinem Sohn beugte, dessen Lippen vor Eifer und Erregung zitterten.

"Mach dir man kein Kopp wegen den Mädels, Sohnemann!" brummte der Dorfschmied wohlwollend. "Sin' eh' alles Biester. Ich wollt' unbedingt deine Mudder, nur weil ich sie nackend beim Baden im Mogelsee geseh'n hab, un' hinterher hat sie mir gesagt, sie hätt' das nur gemacht, weil sie genau gewusst hat, dass ich zuguck!"

Barn erschrak heftig. Woher wusste sein Vater von der Sache mit dem See?

"Also, was is', Sohnemann?" fragte Helmer. "Haste'n Mädel, oder muss ich eins für dich suchen, bei Gruunz?"

Barn wollte antworten, aber ihm steckte ein dicker, heißer Kloß tief unten im Hals. Er hatte plötzlich Angst, dass man ihn nur auslachen würde, wenn er seinen Wunsch laut ausspräche, dass es allen lächerlich erschiene, dass so ein kleiner, alberner Kerl wie er mit einer so großartigen Schönheit wie der Skjörga tanzen wollte.

"Skörrrgatnzzz", war schließlich alles, was er an dem Kloß vorbeizwingen konnte.

"Mitter Skjörga willste tanzen?" dröhnte Helmer Halmschmid so laut, dass es jeder im Dorf hören musste. Dann schlug er seinem völlig entgeisterten Sohn wuchtig auf die Schultern. "Mitter Skjörga! Bei Glungg, jetz' hab' ich einmal Müll 'raustragen gegen deine Mudder verlor'n! Ich hab' gewettet, dass du ganz bestimmt mitter Ingi schwenken willst! Un' dem Gerfast schuld' ich'n Fass Bier! Un' Wolkenbrand kriegt 'ne Schweinehaxe!"

Die Krieger begannen ein brüllendes Gelächter.

"Ich hab' dir doch gesacht, Alter, 'n echten Norländer zieht's immer hin zu den Bergen, hab' ich gesacht!" kalauerte Wolkenbrand Eisenvater mit überschlagender Stimme. Das Gelächter wurde womöglich noch rauer und wilder, und Barn stand wie betäubt mitten darin und war in diesem Moment sicher, dass ihm seine Ohren das Gesicht versengten. Bei Gruunz, sie mussten heißer glühen als alle Herde in Vollduunheims Küchen!

Dann kam auch noch Gerfast Rundschädel auf den jungen Barbaren zu und hieb ihm kräftig zwischen die Achseln.

"Ich gratulier' dir zu deiner Wahl! 'N bessers Mädel finnste nich' nirgendwo im Norden als meine Skjörga!"

Doch plötzlich rief jemand sehr laut von hinten: "Aber ich will doch die Skjörga!"

Barn fuhr herum, als habe ihm jemand einen Dolch in Rücken gestochen. Da stand Fallburz der Fauler und grinste mit seinen gelben Zähnen über das ganze breite und schmierige Gesicht!

 

Barn saß auf einem Hocker an 'Eisenarms Wippe', dem traditionsreichen Täppenwinkler Arme-Drück-Tisch. Die dicke Tischplatte war bucklig und schartig von unzähligen eingeschnitzten Namenskreuzen vergangener Sieger und speckig vom Schweiß der Verlierer. Vier Krieger hatten den schweren Tisch aus dem Männerhaus bis hinauf auf den Tanzboden tragen müssen.

Barn gegenüber lümmelte sich der faule Fallburz auf seinem Hocker und studierte einen dicken Klumpen Ohrenschmalz den er sich mit einem kleinen Finger geangelt hatte, als gäbe es nichts Wichtigeres in der Welt.

Und neben dem Tisch stand mit zwei hochroten Flecken auf den Wangen die schöne Skjörga. Sie hielt einen Humpen voll Bier für den Sieger gegen die Brust gepresst wie einen Schild. Ihre Lippen waren fest aufeinandergepresst, aber das eine Mal, als es Barn gelungen war, ihren Blick zu fangen, hatte sie gelächelt. Da war dem jungen Barbaren ganz warm geworden. Aber diesmal nicht in den Ohren.

In einem engen Kreis um den Tisch hatten sich die Krieger des Dorfes und die anderen Weihburschen mit ihren Mädels versammelt. Unter ihnen hatte es keinen Streit gegeben, das einzig Bemerkenswerte war gewesen, dass Joggurd tatsächlich Ivi Schneedorn gewählt hatte, die daraufhin in hemmungslose Tränen ausgebrochen war.

"Burschen!" rief Jofrech der Skalde, der die dramatische Zuspitzung des Abends sichtlich genoss. "Ihr stellt jetzt eure rechten Unterarme Ellenbogen gegen Ellenbogen aneinander. Treten unter'm Tisch is' erlaubt. Wenn der Wolkenbrand 'Hupp' ruft, drückt ihr los!"

 

*

 

"Gruunz, ich hasse es, wenn sie so blöd schrein beim Feiern!" zischte Nerf Steinbrecher und knirschte mit den Zähnen. Er lag neben seinem Vater auf dem Bauch im Schnee des Waldrandes. Die Kälte war ihm tief in die Knochen gekrochen und hatte sich in seinem leeren Magen zu seiner schlechten Laune gesellt. Und das Wissen, dass sein Feind dort vorne Spaß hatte, machte ihn rasend.

Sein Vater schlug ihm fest in den Nacken. "Du sollst's Maul halt'n!" wütete er leise. Dann zuckte er jäh zusammen.

Er legte einen Zeigefinger vor die Lippen und richtete den Oberkörper lauschend auf.

"Hinten!" flüsterte er. "Ham da hinter uns nich' Äste geknackt?"

"Quatsch, Vadder, das war'n meine Zähne!" antwortete Nerf. Doch da hörte er es auch: ein fernes Rauschen und Knirschen, als brächen Äste im Sturmwind. Aber es war windstill.

"Gruunz, Vadder, ein Schneebär!" rief Nerf erschrocken.

Brockenhau hob seine Streitaxt und stand auf. "Nerf, weck' die andern! Das kommt genau auf uns zu!"

 

*

 

Helmer Halmschmid beugte sich über seinen Sohn und flüsterte: "Sohnemann, du kannst siegen. Klar is' der Fallburz älter und'n bisschen kräftiger als du, aber er hat keine Ausdauer. Wennde ihn nur am Anfang halten kanns', wird er anfang' zu zittern, un' dann kriegste ihn 'runter!"

Barn nickte unsicher. Fallburz hatte die Ärmel seines schwartigen Lederhemdes hochgerollt, und seine Arme waren furchtbar haarig und knollig dick wie alte Baumwurzeln. Er grinste. "Du wirs' verlier'n, Halmschmid", keuchte er heiser. "Un' ich werd' dein Mädel kriegen. Un' ich werd' Sachen mit ihr anstell'n, die du dir nich' mal ausdenken kanns'!"

Lange bevor Barn eine Antwort darauf eingefallen wäre, rief der Häuptling von hinten "Hupp!", und Fallburz begann zu drücken.

 

Wie vor Tagen auf dem glatten Eis des Scheehöhgletschers fühlte Barn sich der Realität entgleiten. Gnadenlos wurde sein Arm hinabgedrückt. Er versuchte, sich dagegenzustemmen, bis ihm das Blut im Kopf sang und rote Kreise vor seinen Augen tanzten. Die Stimmen um ihn verwirbelten zu einem sinnlosen Rauschen. Nur den stetig stärker werdenden Schmerz in seinem Handgelenk nahm er noch wahr.

Und dann erschien wieder das zottige, schwarzbärtige Haupt des großen Gruunz vor ihm. Der gewaltige Gott hieb mit einer fassgroßen Faust auf eine der eisigen Armlehnen seines gefrorenen Thrones und brüllte: "SACH' MA', DU KANNS' DICH NICH' MEHR AN MEINE LETZTEN WORTE ERINNERN, WIE?"

Barn blieb vor Entsetzen sprachlos, während sein Arm immer tiefer gepresst wurde.

"DU ALSO AUCH NICH'?" dröhnte der Gott. "NA, DANN WIRD'S WOHL NIX WICHTIGES GEWESEN SEIN." Und Gruunz verschwand so schnell und endgültig wie ein Schluck Bier im Männerhaus.

Das abrupte Ende der Vision stieß Barn wieder zurück in die reale Welt, in der er gerade einen Zweikampf im Armdrücken verlor.

Er konnte plötzlich Skjörgas schönes Gesicht und die Angst in ihren goldenen Augen sehen. Und seinen eigenen Handrücken, der vielleicht noch eine Daumendicke über der schartigen Tischplatte von Eisenarms Wippe zitterte; und Fallburz' haarige Faust und das klobige, grinsende Maul darüber.

Mit einem jähen Schrei stemmte Barn seine Zähne aufeinander, spannte die Muskeln und setzte Fallburz einen gewaltigen Tritt gegen das Schienbein. Es krachte, Fallburz wurde fleckig rot, und der Druck gegen Barns Handgelenk ließ ein wenig nach.

Barn wusste, dass dies seine einzige Gelegenheit war. Er biss seine Lippen blutig, schob und presste und quetschte und merkte kaum, dass er brüllte wie ein tödlich verwundeter Schneebär. Aber er sah, wie sich sein eigener Arm wieder über die Tischplatte erhob, die Mittelposition erreichte und dann langsam Fallburz' Hand zurückbog. Nun brüllte auch Fallburz.

"Beim Frostvatter, ich mach' dich kaputt, Halmschmid!" Sein Gesicht war rot und schmerzerfüllt.

 

*

 

Die Schneeschisser Krieger und Burschen im Wald vor Täppenwinkel umklammerten die Schäfte ihrer Äxte und die Griffe ihrer Schwerter. Der Schlaf steckte ihnen noch in Kopf und Gliedern und ließ ihnen den nebeldunklen Wald wie ein Alptraumland erscheinen. Das Splittern und Bersten der Bäume kam näher, und unter diesen Geräuschen wurde ein rhythmisches Stampfen laut.

"Vadder, was is' das?" fragte Nerf und mahlte nervös mit den Zähnen. "Isses'n Bär oder 'ne Sau oder was?"

"Weiß nich'", knirschte der Häuptling. "Halt's Maul!"

"Auf jeden Fall isses nix gutes, was da kommt!" raunte Bijgod der Gode düster und hob seinen Runenstab. "'N vernünftiges Vieh macht nich' so'n Lärm!"

"Vielleicht'n Trick von denen von Täppenwinkel?" schlug ein Krieger unsicher vor.

"Oder 'ne Riesenlawine!" rief ein anderer.

"Maul halten jetz', alle!" zischte Brockenhau. "Das is' keine Zeit für Reden! Jeder sucht sich 'n Baumstamm als Deckung!"

Schnell und ohne viel Streit wählten die Krieger ihre Bäume und stellten sich dahinter.

Dann standen sie still im eisigen Dunst der Nacht, jeder allein mit dem unentwegt näherkommenden Lärm niederbrechender Kiefern, dem bodenerschütternden Stampfen und den eigenen nervösen Vermutungen darüber.

"Ich hoffe nur, dass wir dem Glungg genug Bier geopfert ham am Mittwinterfest!" zischte Bijgod und warf dabei seinem Häuptling einen scharfen Blick zu. Brockenhau Steinbrechers sparsamer Umgang mit dem Opferbier war dem dürren Goden schon seit langem ein Dorn im Auge.

"Da hättest du besser nich' so viel selbs' gesoffen, Gode!" zischte Brockenhau zurück.

Bijgod öffnete den Mund für eine scharfe Erwiderung, doch mit einem hohlen Pfeifen und einem gewaltigen Krachen stürzte plötzlich der Wipfel einer Tränenkiefer zwischen ihn und den Häuptling und beendete die Diskussion.

Weiter vorne schrie ein Mann, bis sein Schrei in einem Gurgeln erstickte. Es folgte ein hässliches Knirschen, eine Reihe dumpfer Laute, weiteres Geschrei.

Brockenhau sprang mit erhobener Axt aus seiner Deckung, verfing sich in den Zweigen des gefallenen Baumes und fluchte. Wütend hackte er auf die Äste ein. Etwas klatschte von oben auf seinen Helm und lief ihm über das Gesicht. Er blickte auf und grunzte vor Verblüffung: Hoch über sich sah er den dicken Helmer Knollschink schweben. Der Krieger schlug wild mit Armen und Beinen um sich und kreischte wie ein Schneehuhn beim Eierlegen.

Der Häuptling wollte Helmer voll Wut zurechtweisen, dass in Feindesland ein solches Gebrüll machte.

Dann sah er das Ding, das den Mann hielt und aus ihm fraß.

Nun brüllte er selbst.

Es war schwarz, dieses Ding, schwärzer als die Nacht, aber auf grauenvolle Weise deutlich sichtbar, wie ein Nachbild unter geschlossenen Lidern. In vierfacher Mannshöhe ragte es über ihm auf, und seinen vom Schrecken geblendeten Sinnen wurde nicht klar, ob es wie eine zuckende Masse Moos, ein verbranntes Tier, ein gefrorener Wasserfall oder etwas völlig anderes aussah. Einen Kopf schien es zu haben, denn etwas Längliches ruckte dort oben auf und ab und riss Stücke aus Helmers Mitte.

Als eine Hand nach Brockenhaus Schulter fasste, wäre der Häuptling vor Grauen fast gestorben. Das Gesicht des Goden erschien schmal und weiß wie ein kranker Halbmond neben ihm.

"Häuptling." Bijgod wagte kaum zu wispern. "Wir sollten nach Täppenwinkel fliehen und Gastfreundschaft suchen. Das kann uns vielleicht noch retten!"

Normalerweise hätte Brockenhau dem Mann für einen solchen Vorschlag alle Zähne ausgeschlagen. Aber der bloße Anblick des fressenden Dinges nahm ihm alle Kraft. Willenlos ließ er sich von dem Goden führen.

Erst als der Waldrand hinter ihm lag, fiel die Benommenheit von ihm ab, und er hörte das Knirschen des gefrorenen Schnees unter seinen Füßen - und die Schreie seiner Männer im Wald.

Er packte die Schulter des Goden. "Bei Glungg, Bijgod, hast du den Männern nix gesagt?"

Bijgod ächzte unter den Griff seines Häuptlings. "Brockenhau, das is' kein Tier nich', da im Wald", flüsterte er. "Das issen Teufel aus Flabbergassts Höhlen. Ein lautes Wort, un' er packt uns beide. Die annern müssen für sich selbs' sorgen. Wir könn' nur zu Glungg beten – un' lauf'n!"

"Ich überlasse meine Krieger nich' der Gnade vonnem Gott, der nix tut außer mein Bier saufen!" zischte der Häuptling. Er drückte Bijgods Schulter fester, bis der heilige Mann leise wimmerte. "Biste sicher, dass wir im Dorf da sicher sin'?" fragte er scharf.

Bijgod nickte. "Da is' Licht... viele Teufel mögen kein Licht..."

Brockenhau ließ ihn los und legte die Hände als Trichter vor den Mund.

"Männer von Schneeschiss!" brüllte er zum Wald. "Hier is' euer Häuptling! Haut ab! Rennt wie ihr könnt zum Dorf!"

"Jetz' hast du den Teufel hergerufen!" prophezeite Bijgod mit düsterer Stimme.

"Wir werden seh'n." Der Häuptling spähte in die Dunkelheit. Auf der fahlen Fläche des verschneiten Angers bewegten sich Schatten auf ihn zu.

"Männer, hierher!" rief er noch einmal. "In's Dorf! Der Teufel mag kein Licht!"

Jetzt konnte er den heftigen Atem der Männer hören.

"Sie ham uns gehört, Häuptling", stellte der Gode fest. "Mehr könn' wir nich' tun. Lass' uns jetz' weiterlaufen!"

Wütend schlug Brockenhau nach ihm, verfehlte ihn aber. "Du kanns' laufen, wohin du wills', Schneehase!" knurrte er. "Ich tu kein' Schritt weiter, bis nich' der letzte meiner Krieger vor mir läuft!"

 

*

 

Brockenhau Steinbrechers Schreie schnitten wie ein Schwert durch den frohen Lärm des Täppenwinkler Burschweihfestes. Köpfe fuhren herum, Mütter drückten ihre Kinder an sich, Männerhände legten sich um die Griffe ihrer Waffen.

Es wurde jäh still im Dorf.

Barn und Fallburz, die sich mit verkniffenen Mienen und knirschenden Zähnen immer noch bemühten, einander die Arme zu brechen, waren vergessen.

"Männer!" rief Wolkenbrand leise, während er seine Waffe zog. "Das klingt wie Ärger. Schickt die Weiber in die Häuser un' löscht die Fackeln!"

Die Krieger verließen schweigend den Tanzboden. Da wurde neues Geschrei laut. Ein dünner Mann mit einem schmuddeligen weißen Bart und der Gewandung eines Goden kam aus der Dunkelheit des Mittwegs auf den Dorfplatz gerannt. Er schlug mit den Armen auf und nieder wie ein großer Vogel und war ganz offensichtlich sehr erregt.

"Der Teufel kommt! Der Teufel kommt!" schrie er immer wieder.

Godskalk drängte sich an die Seite von Häuptling Eisenvater. "Das is' der gruunzverdammte Gode von Schneeschiss", raunte er ihm zu. "Der war heute früh bei der Bierbrücke!"

"Du meinst, es is' 'n Überfall?" fragte Wolkenbrand mit gesenkter Stimme.

Godskalk nickte. Wolkenbrand fuhr sich durch das drahtige Gewirr seines Bartes.

"Helmer! Gerfast!" befahl er dann. "Fangt den Kerl ein un' bringt ihn mir!"

 

Der Gode ließ sich widerstandslos gefangen nehmen und vor den Häuptling werfen.

"So, Gode von Schneeschiss", knurrte Wolkenbrand Eisenvater gefährlich. "Da kommt also'n Teufel, wie?"

Bijgod kauerte am Boden und nickte nur.

"Un' was is' das für'n Teufel? Vielleicht am Ende dein nichtsnutziger Chef Brockenhau Steinbrecher?"

"O nein, o Häuptling von Täppenwinkel!" versicherte der Gode mit aufgerissenen Augen. "Glungg soll mich auffer Stelle in Bier ersäufen, wenn ich lüge! Es war der Teufel vom Hochschnork, das schwarze Ding aus der Sage, wie sie die Hexen vom Geisterzacken erzählen! Das Täppen!"

Godskalk der Gode atmete scharf aus.

"Das Täppen?" fragte er ungläubig.

"Das Täppen?" wiederholte Wolkenbrand Eisenvater verständnislos.

"Ja! Ja!" rief Bijgod ungeduldig. Er stand auf. "Das Täppen, in das der gottlose Kriegshäuptling Täppen Mauloff verwandelt wurde, als er die Hexen zwingen wollte, ihn durch einen Zauber zum Gott zu machen!"

Er zeigte in die Nacht.

"Es is' schwarz, groß wie'n Baum, un' es is' da draußen!"

"Das is' doch Kinnerkram!" widersprach Godskalk. "Der Großdruide Knaak hat das Täppen vor Zeiten in ein Grab gebannt, da war'n die Urgroßvätter von unsern Urgroßvättern noch nich' gebor'n!"

 

In diesem Augenblick kamen weitere drei Schneeschisser mit wehenden Bärten auf den Dorfplatz gelaufen. Ihre Gesichter waren weiß, ihre Augen weit aufgerissen. Sie wehrten sich nicht, als die Täppenwinkler Krieger sie umringten, packten und vor den Häuptling schleiften.

"Soso, noch mehr Teufel, wie?" höhnte Wolkenbrand.

"Jau, Teufel, Chef...", murmelte matt ein Mann mittleren Alters, der sichtbar zitterte. "Ich hab' geseh'n, wie der dem Helmer un' dem Kulm das Herz 'rausgefressen hat..."

Die Frauen schrien auf, als eine neue Gruppe von fünf Kriegern und vier Burschen sich ins Licht schleppten: Sie trugen zwischen sich zwei blutüberströmte Männer, einem davon fehlte ein Arm.

"Wir ham gekämpft...", schluchzte der vorderste Krieger, ein wahrer Hüne, der selbst Barns Vater um einen Kopf überragte. "Aber es is' so glunggverdammt groß un' schnell..." Dann brach er zusammen und weinte hemmungslos.

Wolkenbrand Eisenvater raufte sich unschlüssig den Bart.

"Nun, nun", meinte er schließlich. "Das sieht ja nun doch recht ernst aus, hm, Godskalk?"

"Wenn der Gode von Schneeschiss recht hat, dann isses verdammt ernst", erwiderte der Täppenwinkler Gode. "Das Täppen hat fast die Kraft von ei'm Gott, un' es kann nich' mit Waffen getötet werden."

"Pah, den Teufel inner Höhle ham wir auch erschlagen!" rief Gerfast Rundschädel markig dazwischen. Die anderen Täppenwinkler Krieger murmelten verhalten ihre Zustimmung.

"Da bin ich jetz' gar nich' mehr so sicher, Jungs...", brummte Wolkenbrand Eisenvater nachdenklich. "Gar nich' mehr."

Eine laute Stimme aus der Finsternis des Mittwegs unterbrach die Gedanken des Häuptlings.

"Wolkenbrand, Sohn des Harschbart, Häuptling von Täppenwinkel, ich, Brockenhau Steinbrecher, Sohn des Brockenbeiß, Häuptling von Schneeschiss, erbitte die Gastfreundschaft deines Dorfes für mich, meinen Sohn un' alle meine Männer!"

Brockenhau trat in das Licht der Fackeln, zwei verletzte Krieger unter die Arme geklemmt. Ihm folgte hinkend ein wildhaariger Bursche, der ähnlich wirres Haar hatte wie der Häuptling.

In der Mitte des Dorfplatzes ließ er die beiden Verwundeten zu Boden gleiten. Dann schritt er langsam auf Wolkenbrand Eisenvater zu. Seinen barschen Gesichtszügen war deutlich anzusehen, dass ihm die Bitte schwerfiel. Im wilden Hochnorland baten die Menschen nur im äußersten Notfall um Gastfreundschaft, und es war die tiefste Demütigung, sie dann auch noch zu erhalten.

Wolkenbrand wusste dies und genoss die Situation. Er grinste, hob sein Schwert und ballte die linke Faust mit dem Daumen zwischen Mittel- und Ringfinger zum Symbol der Feige.

"Männer von Täppenwinkel!" brüllte er. "Haltet eure Waffen bereit un' nehmt euch Fackeln! Wir werden die Mädels aus Schneeschiss beschützen un' den Teufel ein zweites Mal erschlagen, ja, selbs' dreimal, wenn's sein muss!"

In diesem Moment begann wie eine Antwort auf Wolkenbrands Prahlerei ein ferner, rhythmischer Donner, als liefe etwas sehr Schweres mit weiten Schritten auf das Dorf zu.

"Glungg!" Bijgods Gesicht wurde bleich wie ein alter Knochen. "Es kommt!"

Der Donner wurde lauter, bis er als Erschütterung des Bodens zu fühlen war. Aus den Häusern ringsum drang das Klirren von Geschirr.

Die Menschen auf dem Dorfplatz hatten den Atem angehalten und wagten keine Bewegung. Der donnernde Rhythmus kroch ihnen in die Eingeweide und machte sie weich. In einem entfernten Schweinekoben bekam eine alte Sau einen hysterischen Anfall. Ihr schrilles Quieken stieg wie das Geschrei einer verlorenen Seele über das Dorf.

Es war, als stampfe das Weltende selbst heran.

 

Nur Fallburz und Barn, die mit Skjörga oben auf dem Tanzboden alleingelassen worden waren, bemerkten von allem nichts, denn die Trance aus Schmerz und Wut, in die sie sich versenkt hatten, lag wie ein dicker roter Vorhang auf ihnen. Sie drückten und drückten und drückten, sonst gab es nichts.

 

Plötzlich brach der Donner der Schritte ab. Ein Geräusch füllte die Luft, das hohle Heulen eines stürzenden Sterns, dessen Ziel die geduckten Hütten von Täppenwinkel waren.

Und dann landete etwas mit lautem Krachen hinten auf dem Tanzboden und zerschmetterte das Holz, so dass schenkeldicke Bohlen durcheinanderflogen wie Späne unter einem Axthieb. Die Fackeln ringsum flackerten wie in einem heftigen Sturm, manche erloschen sogar.

Die Münder der Menschen öffneten sich zu einem Schrei des Entsetzens, aber der Anblick raubte ihnen die Stimmen.

Der einzige, der jetzt immer noch nichts mitbekam, war Barn. Er saß mit dem Rücken zu dem Ding, das gelandet war. Daher war er auch sehr überrascht, als Fallburz plötzlich eine Grimasse schnitt, die sein normales Aussehen an Hässlichkeit noch weit übertraf, weiß wie ein Ziegenkäse wurde und langsam vom Stuhl sank.

Barn sah nur den verhassten Gegner am Boden und wähnte sich als Sieger. Er sprang auf, riss die Arme über den Kopf und stieß einen lauten Triumphschrei aus.

Sein Schrei löste die Zungen der anderen Menschen. Ein grässliches Geheul des Schreckens scholl dem jungen Barbaren vom Dorfplatz entgegen. Barn ließ irritiert die Arme sinken. Als dann auch noch einige der Krieger mit starren Augen ihre Waffen zogen, trat er völlig verwirrt einen Schritt zurück.

"Ho, Leute, ich..."

Da bemerkte er den Geruch. Den Geruch, der ihn verfolgt hatte in der Nacht nach der ersten Prüfung, es war der Geruch des morgendlichen Wäldchens, der Geruch der Gletscherhöhle. Der Geruch des schwarzen Dings.

Ganz langsam drehte er sich um.

 

Höher als eine Hütte ragte der Dämon vor ihm auf. Er war keine fünf Schritte entfernt.

Zunächst erschien er ihm nur schwarz und zuckend und schrecklich, ein Ding wie ein riesiger, verbrannter Bär, eine kranker, missgeformter Baum, eine gefrorene Welle schwarzen Blutes.

Doch die Fackeln enthüllten mehr Einzelheiten des verrottenden Leibes, als einem normalen Verstand angenehm sein konnten.

Denn da war noch etwas anderes, eine auf entsetzliche Art vertraute Form in der Gestalt des Teufels. Barn glaubte, er müsse sich vor Ekel und Mitleid erbrechen, als er erkannte, was das war:

Da waren die Reste eines grotesk überstreckten menschlichen Körpers, dessen in die Länge gezogenes, vertrocknetes und verdrehtes Fleisch von pulsierenden schwarzen Dornenranken umwuchert und durchbohrt war. An manchen Stellen war die Ranken fein wie Gras, an anderen zur Dicke eines Oberarms geschwollen. Verknotungen waren in ständiger Bewegung. Sie wanderten im Netz der Ranken wie Würmer in Friedhofserde.

Das Gewucher war für den Leichnam darin Gefängnis und Stütze zugleich. Es zwang dem eingepressten Kadaver eine andere, gänzlich unmenschliche Form auf, die den Oberkörper am Brustkorb mehrfach rechtwinklig knickte. Geborstene Rippen und Rückenwirbel stachen dort durch die nekrotische Haut und nässten unaufhörlich von einer bleichen, zähen Flüssigkeit. Die Knie waren in den Gelenken nach hinten gebrochen.

Das Schlimmste aber war der Kopf. Ein entsetzlicher Zauber schien hier Haut und Knochen verflüssigt zu haben, alles war eine ständige Eruption schwarzen, zuckenden Fleisches mit einem hammerförmig nach vorne ausgezogenen Kiefer, in dem Zähne wie Splitter von Schlacke glänzten.

Und diese Zähne öffneten und schlossen sich direkt vor Barns Gesicht. Die Außenwelt mit ihren Schreien, dem Weinen und dem Waffenklirren verschwamm zu einem bedeutungslosen Schemen am Rande seiner Wahrnehmung. Es gab nur noch diese Zähne. Die Zähne, die ihn töten würden.

Wie ein Guss kalten Wassers überschwemmte ihn die Angst, eine panische, tiefe Angst, die er nur aus bösen Träumen kannte. Er wollte sich umdrehen, um wegzulaufen, oder sich zu Boden fallen lassen und heulen und kreischen, bis er den Verstand verlor, um dieser Angst zu entkommen, aber es ging nicht.

Ihm war klar, dass er jetzt sterben musste, und er wusste auch, dass sein Tod die Qual dieses Sterbens nicht beenden würde. Sie würde ewig dauern, denn er - sein Leben - würde ein Teil der Kreatur werden und in ihr leiden.

Dieses unerbittliche Wissen war zusammen mit dem Bild der Monstrosität tief in seinen Kopf eingedrungen.

Doch in ihm regte sich noch ein anderes Gefühl, ein tiefer, urtümlicher Trotz, der direkt aus dem Bauch heraufstieg, dem Zentrum der Lebenskraft eines Nordmannes.

Es war ungerecht!

Er hatte die Prüfungen bestanden, hatte einen Humpen und einen Hocker im Männerhaus, neben ihm stand in einem knappen Kleid das Mädel, das er begehrte - und nun sollte er alles nicht mehr haben dürfen, nur weil ein gruunzverdammter Teufel von irgendwoher aufgetaucht war? Ein schwarzer, stinkender Kadaver, den selbst seine sparsame Mutter längst weggeworfen hätte, wenn er bei ihnen daheim in der Speisekammer gehangen hätte?

Barn ballte die Fäuste, stampfte mit einem Fuß auf, sog die Luft tief in seinen kräftigen Brustkasten und brüllte, so laut er konnte: "NEIIIN!"

Dann sah er sich nach einer Waffe um, während sich vor ihm die Kränze der schlackeschwarzen Kiefer im harten Rhythmus öffneten und schlossen.

Aber auf dem Tanzboden gab es nichts, mit dem man in die Zähne schlagen oder stechen konnte.

Der Drücktisch war zu schwer zum Schwingen. Die Trümmer des Tanzbodengeländers lagen hinter und unter dem Dämon und waren damit unerreichbar.

Der bewusstlose Fallburz gab auch keine brauchbare Waffe ab. Und der Dorfplatz, wo die Männer mit den Schwertern waren, schien unendlich weit entfernt.

Einen Schritt entfernt von ihm stand Skjörga und weinte leise vor Entsetzen. Sie hielt noch immer den Krug mit Bier an die Brust gepresst.

Barn überlegte keinen Augenblick und riss dem Mädel den Humpen aus den Händen. Es war eine schwache Waffe gegen einen baumhohen, nachtschwarzen Dämon aus Flabbergassts Höllen, aber immerhin konnte man sie werfen!

Mit all der Kraft, die in ihm war, schleuderte er den Krug mit dem schäumenden Inhalt  in die verzerrte Fratze über sich.

 

Ein gewaltiger Schlag fegte Barn vom Tanzboden. Er wirbelte durch die Luft wie ein Blatt in einem Herbststurm. Der Aufprall auf die gefrorene Erde des Dorfplatzes drosch ihm den Atem aus den Lungen. Aber der Zorn trieb den jungen Barbaren sofort wieder auf die Beine.

Er zerrte dem gaffenden Steinhand Haderbrut das Schwert 'Durstfeuer' aus den Fingern und wollte zurück zum Tanzboden, um sein Mädel zu retten. Doch als er sah, was dort oben passierte, blieb er starr stehen: Der Dämon tobte über die Tanzfläche wie ein Bär mit verbranntem Hintern. Qualmschwaden stiegen von dem entsetzlichen Kopf auf, und der ganze schwarze Leib war in zuckender Bewegung, wie ein brennender Baum in einem Feuersturm.

Neben Barn brüllte Godskalk der Gode plötzlich los.

"Das Bier, bei Gruunz! Es is' das gruunzverdammte heilige Bier! Es macht ihn kaputt!"

Die ungeheuren Körpermassen des Gruunzpriesters gerieten in hektische Bewegung, als er wild gestikulierte. "Schnell, holt alles geweihte Bier aus euren Hütten und schüttet es auf den Teufel, solange er noch blind is'!"

"Jau, macht, wie der Gode sagt!" rief Wolkenbrand Eisenvater, der sich endlich auf seine Pflichten als Häuptling besann.

Und sogleich rannten die Barbaren wild schreiend durcheinander, Krieger warfen Frauen um, und Frauen trampelten Kinder nieder. Den wenigen, denen es gelang, von irgendwo einen vollen Humpen zu holen, wurde das Bier meist von zahlreichen Hilfswilligen verschüttet. Doch hin und wieder traf ein Schwall des gekühlten Safts den Teufel und fraß sich zischend in sein schwarzes Fleisch.

"Nehmt auch Fackeln! Vertreibt ihn mit Feuer!" schrie der Gode Bijgod mit dünner Stimme in das Chaos, aber niemand hörte ihn.

Und der Dämon wütete und wütete. Geblendet schlug er ziellos um sich und zertrümmerte Stück für Stück den größten Stolz Täppenwinkels: Den Tanzboden.

 

In seinem Inneren brüllte es rot. Die Ranke krampfte sich wie ein Würgeeisen um seine Seele. Die Schmerzen schienen unerträglich. Die beißendkalte Suppe hatte ihm Augen und Nüstern zerfressen, die Zähne versengt.

Es war geblendet worden, wie damals, als der verräterische Gode es in den kalten Schlaf gezwungen hatte.

Und doch sah es Bilder. Es erinnerte sich.

Man hatte es verraten, immer nur verraten. Schon damals, in der Zeit, als es noch anders gewesen war, ein Krieger und König von Kriegern, war es verraten worden. Als Mensch hatte es alles erreicht, was ein Sterblicher erreichen konnte. Es hatte die zerstrittenen Stämme des Nordens vereint und in einen Feldzug gegen die heranrückenden Eroberer aus Myr Mamon geführt, eine Tat, die zu vollbringen manchem Gott nicht gelungen wäre.

Als es dies erkannt hatte, war ihm bewusst geworden, dass es weitergehen musste auf diesem Weg, dass es zu den Fähigkeiten eines Gottes auch die Kraft und die Unsterblichkeit eines Gottes verdiente.

Es war zu den Hexen auf dem Berg gegangen, deren Magie ihn zu einem Gott machen sollte, zu einem unsterblichen Wesen, zu dessen Herrlichkeit die Menschen in Ehrfurcht und Demut aufblicken mussten.

Aber es war betrogen worden. Erst hatte es sich mit Gewalt nehmen müssen, wozu die Hexen aus freiem Willen nicht bereit gewesen waren, und dann war statt der göttlichen Kraft das schwarze Gerank in seinen Leib gefahren.

Für eine Ewigkeit war es irrsinnig gewesen von den Qualen, die die Ranke mit sich gebracht hatte. Es war gestorben. Dann, nach dem Erwachen, hatte es sich als Gefangener im tiefen Herzen eines Berges wiedergefunden, eingesperrt von seinem eigenen Volk.

Doch die Ranke hatte seinen toten Körper stark gemacht. Wenn auch seine Kräfte nicht ausreichten, den Berg zu zerbrechen, so war doch seine Stimme hinausgedrungen, und es waren Wesen erschienen, die sich seine Brüder nannten. Sie hatten ihn befreit und ihm gezeigt, wie es sich Nahrung beschaffen konnte. Sie hatten ihm von der Verwandlung erzählt.

Und sie hatten versprochen, ihm zu helfen, wann immer es sie riefe.

 

Oben auf der Tanzfläche erwachte Fallburz der Fauler. Er hob den Kopf, sah das Täppen brüllte kurz auf, wie ein verwundeter Bär. Dann fiel er wieder in Ohnmacht.

Sein Gebrüll aber hatte Skjörga aus ihrer Starre gerissen. Sie begann ebenfalls zu schreien. Sie rief Namen. Den ihres Vaters, und Barns. Dessen Finger verkrampften sich um das speckige Griffband des Schwertes Durstfeuer.

Doch auch das Täppen hörte sie. Es erstarrte mitten in seinem irrsinnigen Tanz, der qualmende Kopf ruckte hoch.

Die Frauen und Männer des Dorfes, eben noch in hektischer Bewegung mit Krügen voll Bier, blieben erschrocken stehen und blickten auf den riesigen Dämon und die kleine, blasse Gestalt des Mädchens davor.

"Verdammt, Mädel, komm' 'runter da!" kreischte Gerfast Rundschädel schrill. Er hob seine Axt, obwohl er wusste, dass er seine Tochter nie rechtzeitig würde erreichen können. Über zwanzig Schritte lagen zwischen ihm und dem Tanzboden.

Der schwarze Kopf bewegte sich langsam, pendelnd wie eine Schlange kurz vor dem Zustoßen.

Skjörga wich einen Schritt zurück. Ganz leise quiekte das Holz. Der Kopf schoss vor und verfehlte das Mädchen nur, weil es über die eigenen Füße gestolpert und gefallen war. Die schwarzen Zähne bohrten sich dicht neben Skjörgas Kopf in die Planken des Tanzbodens. Umherfliegende Splitter streiften die Wange des jungen Mädchens und hinterließen einen Schnitt. Jeder unten konnte das Blut sehen.

Das war zu viel für Barn. Mit einem furchtbaren Kriegsruf stürmte er vorwärts. Er würde diesem schwarzen Biest zeigen, was es hieß, das Mädel von Barn Halmschmid zu verletzen!

Aber noch bevor er kaum drei Schritte hin zum Tanzboden getan hatte, flog etwas im Licht der Fackeln blutrot Glänzendes über ihn hinweg.

Gerfast Rundschädel hatte mit schier unmenschlicher Kraft seine Streitaxt geschleudert, eine Waffe, die manch ein ausgewachsener Mann nur mit Mühe hätte heben können. Und die Axt traf genau zwischen die pulsierenden Kiefer, die sich keine Armlänge über Skjörga öffneten und schlossen.

Teile des Dämonenkopfes wurden abgerissen. Ein zäher schwarzer Schleim spritzte mit hohem Druck heraus und ging als stinkender Regen auf dem Dorfplatz nieder.

Da bäumte sich der gepeinigte Dämon auf, ragte höher als zehn Männer übereinander und gab zum ersten Mal Laute von sich. Unirdisch dumpf und hohl rollten sie, voll unendlicher Qual und Wut. Alles erstarrte ringsum. Das Täppen brüllte eine lange Zeit, und selbst gestandene Krieger mussten sich beim Klang der Stimme vor Angst und Ekel erbrechen.

Als es endlich verstummte, herrschte eine betäubte Stille.

Der erste, der wieder Worte wagte, war Bijgod, der Gode von Schneeschiss.

"Es hat etwas herbeigerufen...", stellte er mit brüchiger Stimme fest, denn er verstand noch ein wenig von dem uralten Dialekt, den das Täppen gebraucht hatte, dem Althochbarbarisch. Aber niemand hörten ihn. Wolkenbrand Eisenvaters mächtiges Organ hingegen war unmissverständlich.

"Ho, Männer, der Gerfast hat's uns vorgemacht! Lasst uns das schwarze Vieh jetz' erschlagen!" rief er voll demonstrativer Entschlossenheit, die er nicht wirklich fühlte. "Krieger! Hackt dies Stück Schiet in Scheiben!"

Tapfer hoben die Männer von Täppenwinkel ihre Waffen, die sorgsam polierten und geölten Eisenäxte und Schwerter, und heiser brüllend rannten sie auf den schwarzen Feind in der Mitte des Tanzbodens zu. Sie waren fast alle bei dem schrecklichen Kampf in der Höhle dabei gewesen, und wussten, wie mächtig der Dämon war. Viele waren sicher, noch in dieser Nacht mit Gruunz an der göttlichen Tafel in der Feste Vollduunheim zu sitzen und himmlisches Bier zu schlürfen. Aber sie hatten keine Angst, denn war das Ewige Festmahl nicht das Ziel eines jeden Kriegerlebens? Eine wilde Nacht im Männerhaus, nur besser noch, und in Ewigkeit, ho?

Doch bevor selbst Barn, der zehn Schritte vor den Kämpfern war, auch nur das Geländer erreichen konnte, drückte ein eisiger Wind die Männer wie eine gebieterische Totenhand zurück. Düsterer Nebel stieg von der Tanzfläche auf. Wolken, schwärzer als die Mitternacht, erhoben sich um den Dämon und wuchsen hoch und fleischig, wie Blumenkohl des Bösen. Ein Ding entstand, das widersinniger Weise gewaltig wie ein Gebirge schien, obwohl es sich in seiner Gesamtheit doch irgendwie auf die Fläche des Tanzbodens beschränkte. Wie ein Schlachtfeld war es, ein Getürm aus zuckenden Kadavern, schlängelndes, blassschwarzes Gewürm dazwischen; wie das Täppen war es in ständig züngelnder, flatternder Bewegung. Und sein Geruch war schlimmer als alles, was selbst die zur Schmuddeligkeit neigenden Barbaren je ertragen hatten.

Das Entsetzen der Menschen entlud sich in einem einzigen, tiefen, schluchzenden Seufzer aus hundert Kehlen. Die Krieger blieben kraftlos stehen, die Frauen und Mädchen senkten die Köpfe. Wolkenbrand Eisenvater brach in die Knie, riss sich den Hornhelm vom Kopf und rieb sich wie von Sinnen Stirn, Augen und Bart.

"Das gib's doch nich'", murmelte er immer und immer wieder. "Das gib's doch verdammt noch mal nich'..."

Und dann begann der Berg zu sprechen, und die Menschen wurden von seiner Stimme zu Boden geworfen. Das Land erbebte.

 

"BRUDER, DU HAST UNS GERUFEN?"

Es erschrak. Es hatte vergessen, verdrängt, wie viele die Brüder waren. Und diesmal waren sie alle erschienen. Allein ihre Stimmen brannten wie das Licht der Sonne.

"Ich brauche einen Rat, Brüder", sagte es, bemüht, seine Schmerzen nicht zu zeigen.

"EINEN RAT..." Spott ließ die Stimmen wirbeln.

Trotz aller Schwäche fuhr die rote Wut wieder in seinen Kopf. So kurz vor der Verwandlung, der Vollendung, würde es sich nicht einmal von den Brüdern verhöhnen lassen. Wenn es erst ein echter Gott wäre, würde es diese unheiligen Verbündeten weit hinter sich lassen. Eine Belohnung mussten sie vielleicht bekommen, aber weiter sollte es keine Verpflichtung geben.

"Ich brauche auch Eure Hilfe bei meiner Verwandlung, Brüder!" rief es fordernd. Es roch die Verderbtheit dieser Wesen, ein jedes ein Aas, durchbohrt von schwarzen Ranken, ständig zuckend, eiternd, leidend.

"DIE VERWANDLUNG?" Der Hass und die Wut und die Verachtung der Ranken durchbohrten es wie eine Wolke von Nadeln. Seine eigene Ranke verschlang sich in seinen Leib und presste es. "DU HAST GENAUSO VERSAGT WIE ALLE ANDEREN! DU HAST DEINEN TEIL DES ABKOMMENS NICHT ERFÜLLT, ALSO WERDEN WIR DICH MIT UNS NEHMEN! HINUNTER, HINUNTER."

Jäh erinnerte es sich. Die, die sich Brüder nannten, sie waren alle einmal Menschen gewesen, die den Wunsch gehabt hatten, Götter zu werden. Und nun waren sie nur noch Leichen mit schmarotzenden Ranken im zerfallenen Leib.

Ihr Wunsch nach Erhabenheit war ausgenutzt worden von der Ranke, einem schwarzen Gewucher, das keine eigene Gestalt und kaum Vernunft besaß, doch dafür das Verlangen, nicht mehr nur ein aasfressendes Geschlinge im kotigen Schoß der Hölle zu sein, sondern um jeden Preis aufzusteigen und ein Wesen des Lichts zu werden.

In die Beschwörungen schwacher und unwissender Zauberer hatte sich die Ranke gedrängt, machtversessene Frauen und Männer mit dem Versprechen der Verwandlung in ihre Verschlingung gelockt, in der Hoffnung, von Verstand und Gestalt der Menschen zu profitieren. Als Gegenleistung hatte sie den Wirten ihre einzige Fähigkeit zur Verfügung gestellt: Leben auszusaugen und in Kraft zu verwandeln.

Doch die Menschen hatten alle versagt. Ihr Schicksal hatte sie wahnsinnig gemacht, die meisten waren zu hirnlosen Höllenmaschinen verkommen, die getötet und getötet hatten, ohne das Ziel noch zu kennen. Andere waren einfach verstummt, erstarrt und schließlich von der Ranke als nutzlos zerquetscht worden. Keinem war die Verwandlung je gelungen. Sie alle waren am Ende in die Hölle gezerrt worden, um dort ewig zu leiden an ihrem Ehrgeiz; die Ranke und die in ihr gefangenen, irrsinnigen Seelen, aneinandergeklammert wie sterbende Zwillinge in einem verdorrenden Schoß.

Aber es, er war anders!

Er wusste seinen Namen, wusste wieder, wer er gewesen war, bevor alles passiert war, er hatte noch die Kraft zur Verwandlung, sie war rings um ihn, er brauchte sie nur zu nehmen, und würde alles Gewürm, allen Dreck zurücklassen, sich sogar befreien von dem Gerank, das ihn verdorben hatte, das immer noch versuchte, ihn zu zerstören!

"HINUNTER! HINUNTER!" höhnte der Chor der höllischen Wesen um ihn.

Auch ohne Augen sah er die Kreaturen, die sich seine Brüder nannten, in ihrem einsamen Elend. Tot waren sie, und wollten es nicht wissen.

Sie zu rufen, war ein Fehler gewesen, sein letzter Fehler.

"Geht! Verschwindet!" rief er voll Ekel. "Ihr seid lange verloren! Ich nicht!"

Er würde einfach hinunterspringen, dorthin, wo die lebensvollen Herzen der Menschen ihm furchtsam entgegenschlugen, und sie rot aufreißen, leertrinken, mochten sie auch mit ihren Schwertern Stücke aus seinem Körper hauen. Und mit jedem gestohlenem Opfer, jedem geraubten Trunk würde er stärker werden, bis die Kraft schließlich zur Verwandlung führte. Dann wäre er ein Gott und konnte alles zurückgeben, was er vorher genommen hatte.

"Ich bin Täppen Mauloff, der König aller Stämme des Norlandes!" brüllte er triumphierend. "Borgt mir euer Leben!"

Und Täppen Mauloff sprang.

 

In diesem Augenblick erwachte Fallburz der Fauler aus der Trance seiner Angst. Er sah den gewaltigen Turm der zuckenden Toten vor sich, und die längliche, schwarze Masse des springenden Teufels darüber. Ohne zu überlegen, packte er zu. Er bekam einen Ausläufer der Ranke zu fassen. Er schrie, denn der dicke, raue Wulst unter seinen Fingern war heiß wie Glut. Aber der gleiche, todesmutige Trotz, der vor ihm seinen Rivalen Barn gegen den Dämon getrieben hatte, ließ ihn festhalten. Der unerwartete Angriff brachte den Teufel zum Straucheln. Statt mitten zwischen den Kriegern zu landen, brach das Täppen über dem Geländer des Tanzbodens nieder. Es schrie schrill wie brechender Stahl und wand sich. Fallburz wurde davongeschleudert, bis zum Erdwall mit den zugespitzten Pfählen, der das Dorf umgab. Dort blieb er ächzend liegen und bekam von allem weiteren nichts mit, bis er am Nachmittag des nächsten Tages von einer Hausfrau gefunden wurde, die ihre Wäsche zum Trockenen über die Palisaden hängen wollte.

 

"NIEMAND ENTFLIEHT DEN BRÜDERN!" donnerten die Stimmen der Ranke rings um Täppen Mauloff.

Täppen sprang auf und sah sich dem zuckenden, boshaften Berg aus Leichen gegenüber. Als er all das Elend dieser lebenden, versklavten Toten erkannte, wurde ihm klar, dass er alles, was er getan hatte, niemals hätte tun dürfen. Ihm war jämmerlich zumute. Hatte er nicht geschworen, die Menschen des Norlandes gegen alle Feinde zu verteidigen, und war er nicht selbst ihr schlimmster Feind geworden?

Die dünnen Wurzeln der Ranke bohrten sich bereits tief in seinen Kopf. Er wusste, dass es nur noch Augenblicke dauern würde, bis sie seinen Schädel zerfetzten. Aber er würde alles tun, um ihr bis dahin so viel Schaden und Schmerz zuzufügen, wie er mit seiner gestohlenen Kraft vermochte. Und vielleicht konnte er durch diese Tat doch noch ein Gott des Lichts werden.

Sein zerstörter Kopf mit den rotierenden Kiefern drehte sich dem Berg der Toten entgegen. Es griff seine Brüder an.

 

Auf dem Tanzboden begann der Kampf zwischen den Dämonen mit der Wildheit eines Weltuntergangsgewitters. Stücke stinkender schwarzer Substanz flogen wie Geschosse über den Köpfen der entsetzten Dorfbewohner, nur um in seelenerschütternden Eruptionen dunkelsten Nichtlichts zu vergehen. Ein Schrei voll unirdischer Wut schwoll an, wurde scharf und dünn wie eine Messerklinge, die in die Ohren der Menschen schnitt, und brach plötzlich ab.

Alle hoben die Augen zur Tanzfläche, um ein letztes Mal die Ungestalt des Täppens zu sehen, die sich in den dunkel brennenden Berg des anderen Dämons verkrallt hatte und zuckende Dinge herausriss. Barn, der keine zwei Barbarenlängen vor der Treppe flach am Boden lag, sah aber auch Skjörga, die in den verkeilten Trümmern des Geländers eingeklemmt war. Stumm sprang er auf, zerbrach die Bretter, die sein Mädel gefangen hielten, und drückte den zitternden Körper an seine Brust.

Dann erhielt er einen furchtbaren Stoß in den Rücken, als bäume die Welt selbst sich voller Wut auf. Er verlor den Boden unter den Füßen, der Himmel vermischte sich mit der Erde, das Ende von allem schien gekommen.

 

Nach einer sehr langen Weile der Stille beschloss Barn, ein Auge zu öffnen. Er öffnete es, sah sich um und fand sich begraben unter den Trümmern des altehrwürdigen Tanzbodens von Täppenwinkel.

Die Dämonen waren verschwunden, als hätte es sie nie gegeben.

Neben Barn ragte schief die Tischplatte von Eisenarms Wippe auf, wie durch ein Wunder unversehrt, und auch ein paar Fackeln brannten noch. Die Nachtluft war wieder klar, die Sterne zwinkerten vom Himmel wie erleichterte Zecher nach einer glimpflich beendeten Wirtshausschlägerei.

Doch das Beste war, dass unter ihm, geborgen in seinen Armen, die schöne Skjörga lag.

Ihr knappes Rehlederkleid war aufgerissen, so dass er unter seinen Händen den warmen, glatten Körper fühlen konnte, dessen Traumbild ihn seit Monaten beschäftigte.

Und als Skjörga die goldenen Augen aufschlug, ihn erkannte und lächelte, waren alle Schrecken der Nacht schneller vergessen als ein heiliger Schwur beim Bier.

"O Barn, halt' mich! Fest!" bat sie. Er nickte. Da konnte sie sicher sein!

Dann hob sie ihre weichen, vollen Lippen hoch zu seinen, und der junge Barbar vergaß für lange Zeit alles, sogar seinen Namen.

 

"Harr-Harr-Harr-Harr, Barn Halmschmid!" dröhnte da eine ungeheure Stimme über ihm. "Eigentlich solltes'te ja ers' tanzen, bevor du das hier anfängst, aber bei ei'm Helden wie dir kann man wohl 'ne Ausnahme machen!"

Völlig entgeistert hob Barn den Kopf und blickt auf in das narbige Gesicht Wolkenbrand Eisenvaters. Skjörga zuckte zusammen und bedeckte ihre entblößten Brüste mit den Händen.

Energisch packte der Häuptling Barn im Nacken und zerrte ihn aus den Trümmern.

Dann schlug er ihm so kräftig zwischen die Schultern, dass der junge Norländer sich schon auf dem Weg nach Vollduunheim wähnte. Und schließlich ging der erste Mann von Täppenwinkel sogar so weit, dass er Barn einen unbeholfenen, bartborstigen Kuss auf die linke Wange setzte. Der schüttelte sich. Das war nach der sanften Begegnung mit Skjörgas Lippen so, als ob man nach einer wunderbaren Schlittenfahrt in einem Dornbusch landete.

"Krieger von Täppenwinkel!" dröhnte Wolkenbrand. "Wir ham heut' nacht zum zweiten Mal ein Ding besiegt, das fast so stark war wie ein Gott! Wir könn' stolz auf uns sein! Un' wieder hat uns dieser prachtvolle Bursche hier", er packte den jungen Barbaren unter den Achseln und hob ihn ein wenig hoch. "Wieder hat er uns allen gezeigt, wie man als Norländer kämpft! Bei Gruunz, wenn nich' schon ich der Häuptling wäre, gäb' es kein' besseren als ihn!"

Ein unglaubliches Gebrüll der Erleichterung und des Triumphes erhob sich ringsum. Die Krieger, die noch Waffen und Schilde hatten, klapperten den traditionellen Beifall der Norlandbarbaren, und die anderen schlugen sich einfach auf Brust oder Bauch und blökten dabei wie blöde. Der schrille Diskant der Frauen erhob sich über diesen Lärm, und sogar einige Männer aus Schneeschiss klatschten matt Beifall.

"Lasst uns jetz' feiern! Wie unsere Ahnen werden wir einfach auffer rohen Erde tanzen", rief Wolkenbrand. Er bückte er sich wieder, zog mit der erhabenen Gewalt eines norländer Häuptlings Skjörga an den Haaren aus den Trümmern und drückte sie heftig gegen Barn.

"Un' ihr beide, ihr seid das Paar des Abends!"

Fallburz war völlig vergessen.

 

Trotz des zertrümmerten Tanzbodens stieg die Stimmung unter den Barbaren wieder schnell. Die Tische und Bänke auf dem Dorfplatz wurden enger zusammengerückt, um Platz für die Tänzer zu schaffen.

Schnodd Bierbrauer ließ aus einem geheimen Erdloch hinter seinem Hof vier große Fässer ausgraben, die er 'für besondere Fälle' dort versteckt hatte, und auch die anderen Haushalte brachten an geheiligtem Gebräu herbei, was nicht beim Angriff des Dämons verschüttet worden war.

Große Grillfeuer wurden von den fachkundigen Frauen entzündet, und große Ketten der traditionellen Burschweihspeise, der Burschbratwurst, auf eisernen Stangen über die Glut gehängt.

Dann, während das Bier in den Humpen schäumte und das Wurstfett in den Flammen zischte, griff Jofrech der Skalde zur Humpendrumme, und sang so unvergessliche alte Norländerweisen wie "Tanzt-tanzt-tanzt!" und "Hossa! Hossa! Hossa!", bis alle mitgrölten.

Es wurde eine schöne Zeit. Alternde Paare, die seit Jahren zerstritten kein Wort mehr miteinander gewechselt hatten, lagen in dieser Nacht wieder einander in den Armen, und die Männer überhäuften ihre errötenden Frauen mit Koseworten, die einmal nicht abwiegelnd und beruhigend gemeint waren.

 

Doch während sich die Weihburschen mit ihren Mädels auf der platten Erde des Dorfplatzes zum ersten traditionellen Tanz des Norlandes, dem Dreher, aufstellten, erhob sich in der dunklen Ecke, wo die Schneeschisser mürrisch lagerten, plötzlich ein heiserer Wutschrei. Dumpfe Flüche wurden dort ausgestoßen, dann rannte mit erhobenem Schwert und hassverzerrtem Gesicht Nerf Steinbrecher aus den Schatten auf die Tänzer zu.

Der Triumph seines Erzfeinds, des blonden Barn, hatte ihn in Raserei versetzt.

Wie ein hungriger Bär in eine Speisekammer brach er in die Reihen der Tänzer ein. Fran Mannhau wurde beiseite gedrückt und musste Halt suchen an seiner Partnerin, der schlanken Ingibjörk Bierbrauer.

Vor Barn blieb Nerf stehen. Mit brutaler Kraft drosch er seine Faust gegen das Kinn des Täppenwinklers.

"So, du Schwein un' Brückenschänder!" brüllte Nerf. "Jetz' wirs' du bezahlen für das, was du gemacht has'!"

Mit seinem Schwert, einer kurzen, hässlichen Waffe, die mit ihrer schartigen, rostig-braunen Klinge seinen Zähnen ähnelte, holte er zu einem weiten Schlag aus. Doch Barn reagierte blitzschnell. Er stieß Skjörga beiseite und sprang auf Nerf zu.

Das kurze Schwert zerschnitt nur rauchige Nachtluft, und Barns rechte Ferse landete mit Wucht auf Nerfs linkem Fußrücken.

Der Schneeschisser Häuptlingssohn schrie auf und versuchte, sein rechtes Knie zwischen den Beinen seines Feindes hochzubringen. Doch Barn drehte sich blitzschnell zur Seite und packte dabei das Gelenk von Nerfs Schwerthand. Mit seinen kräftigen Daumen drückte er tief in die gespannten Sehnen und riss den Arm gleichzeitig nach hinten. Diesen Trick hatte er von seiner Schwester gelernt. So hatte sie sich immer ihre Puppen von ihm zurückgeholt.

Er überdrehte den Arm, bis irgendwo in Nerfs Schulter etwas deutlich knirschte. Jammernd ließ der Häuptlingssohn seine Waffe fallen.

Barn trat dem Feind noch einmal kräftig gegen das rechte Schienbein und sah ihn fallen, dann drehte er sich grinsend zu Skjörga um.

"Ho Skjörga", rief er laut. "Siehste, was passiert, wenn einer..."

Da durchzuckte ein scharfer Schmerz seine linke Wade, als hätte jemand glühenden Stahl hineingebohrt.

Fluchend fuhr er herum und starrte in Nerfs grinsendes Gesicht. Der verdammte wildhaarige Bursche hatte ihn ins Bein gebissen!

"Nu zeig mal, wiede mittem Loch im Bein tanzn kanns!" höhnte der Schneeschisser und stemmte sich mit einem Dolch in der Faust hoch.

Doch da erschien hinter Nerf plötzlich eine breite, dunkle Gestalt. Sie holte mit zwei dicken Armen aus und traf den Burschen mit dumpfer Wucht im Nacken. Ächzend fiel er zu Boden.

Nerf wälzte sich herum und erkannte den Angreifer. Seine Augen wurden weit.

"Vadder!" japste er erschrocken.

"Halt's Maul!" zischte der Häuptling von Schneeschiss und versetzte seinem Sohn einen Tritt in die Seite. "Du machst mir schon wieder Schande! Steh nu' auf un' hau ab!"

"Aber Häuptling, aber Häuptling!" dröhnte da die gutgelaunte Stimme von Wolkenbrand Eisenvater. Der Häuptling von Täppenwinkel trug einen schäumenden Humpen in der Hand, den er jetzt in einer spontanen Geste seinem Schneeschisser Kollegen hinhielt. "Wir alle ham' genug gekämpft heut' nacht, jetz' woll'n wir lieber feiern un' fröhlich sein!"

Brockenhau zögerte, das Getränk anzunehmen. "Wir ham nix zu feiern, Eisenvater!" sagte er bitter. "Dieser Schneeköter da", er trat noch einmal nach seinem Sohn, der sich stöhnend zur Seite rollte. "Der hat uns so weit gebracht, dass wir nu' 'n ganzes Jahr ohne neue Krieger auskomm' müssen, ganz zu schweigen davon, dasser die Burschweih schon zum zweiten Mal nich' geschafft hat. Außerdem hab' ich gute Männer verlor'n, un' dann hab' ich noch diese Gastfreundschaft von Deinem Dorf annehm' müssen heute. Nee, Eisenvater, nach Feier is' mir nich'..."

Der wohlwollende Wolkenbrand brummte eine Weile herum und rieb sich nachdenklich die rote Nase. Plötzlich leuchtete sein Gesicht auf.

"Godskalk, komm' mal bei!" brüllte er.

Der Gode erhob sich stöhnend von dem Tisch, an dem er die Burschweih zwischen Bergen von Bratwurst gefeiert hatte und kam, eine fettglänzende Wurst in jeder Faust, kauend herangewatschelt.

"Was is'n, Häuptling?"

"Sach ma', Gode, Alter", begann Wolkenbrand listig zwinkernd. "Es is' doch so, dass'n Bursche sich durch 'ne besondere Heldentat die Burschweih verdienen kann, selbs' wenn er eine Prüfung nich' geschafft hat, wie?"

"So will es die Tradition." bestätigte der Gode feierlich, während er in eine Wurst biss. Fett rann in seinen grauweißen Bart.

"Un' dabei zu sein, wenn 'n Gott getötet wird, das könnte doch schon 'ne Heldentat sein, oder?" fragte Wolkenbrand weiter.

Godskalk ließ die Bratwurst sinken und blickte seinen Häuptling nachdenklich an. "Unter Umständen", meinte er nach einer Weile.

"Na also!" grölte der Täppenwinkler Häuptling fröhlich und schlug Brockenhau Steinbrecher auf die Schulter. "Alle deine Burschen sin' Helden! Un' als Helden ham sie auch ihre Burschweih bestanden un' dürfen nu' tanzen!"

Brockenhau sprang einen Schritt zurück und zog sein Schwert. Die Spitze der Waffe zitterte vor Wolkenbrands breiter Brust.

"Ich brauch' deine Gnade nich', Eisenvater!" spuckte er Wolkenbrand mit wutverzerrtem Gesicht entgegen. "Du hast uns schon gedemütigt, treib's nich' zu weit!"

"Aber mein Häuptling!" kam da die besorgte Stimme von Bijgod dem Goden von hinten. "Ich finde diese Sache ausgesprochen richtig! Der Häuptling von Täppenwinkel hat nur ausgesprochen, was jedem Mann des Norlandes, der die Ehre eines Kriegers im Leib hat, klar sein müsste: Das wir, die es gewagt ham, in finsterster Nacht durch von Geistern heimgesuchte Wälder zu zieh'n, nur um unserm Bruderdorf gegen ein' Teufel aus Flabbergassts Höllen beizustehen, echte Helden sin'!"

Brockenhau fuhr herum und starrte seinen Goden an, als habe dieser den Verstand verloren.

"Bruderdorf?" blubberte er aufgebracht. Er ließ seine im Fackellicht blitzende Klinge wie ein Elmsfeuer über dem Kopf des Priesters tanzen.

"Gewiss", stotterte Bijgod. "Ich erzählte dir doch schon zuhause von der ungeheuren Gefahr, und du räumtest deinen berechtigten Zorn auf das Nachbardorf beiseite und warst bereit, ihm trotz allen Streits zu helfen. Eine großmütige Geste, die noch die Kindeskinder unserer Kindeskinder erinnern werden!"

Mit leicht angeekelter Miene ließ Brockenhau sein Schwert sinken. Er spuckte in weitem Bogen aus.

"Tatsächlich, so war's...", brummte er. "Wohlberaten von meinem Goden..."

Dann packte er seinen Sohn am Kragen der Felljacke.

"Also, du Schandfleck! Mit der Erlaubnis des Dorfes Täppenwinkel darfst du dich nach Hause verziehn, dort mit ei'm Mädel tanzen un' ein Kerl werden! Aber danach komm' mir nich' mehr unter die Augen! Geh' runter innen Süden un' lern', wie man sich als Krieger benimmt!"

"Aber Vadder!" widersprach Nerf verzweifelt. Eigentlich hatte er sich vorgestellt, schon bald seinen Vater in einem Zweikampf zu besiegen, selbst Häuptling von Schneeschiss zu werden, alle Stämme des Nordens zu überfallen und zu unterwerfen und schließlich mit einem Heer von Teufelskerlen über die Sonnenzacken zu gehen und den Süden zu erobern.

"Oh, mein Bruderdörfler!" warf Wolkenbrand Eisenvater mit warmer Stimme ein. "Ich hab' noch 'ne bessere Lösung! Scharfe Mädels gibt's in meinem Dorf, die trotz allem noch kein' Burschen gefunden ham! Warum soll nich' dein Sohn hier bei uns tanzen un' ein Weib aus meinem Dorf mitnehm', was die neue Einigkeit zwischen unseren Stämmen auf's heftigste bekräftigt?"

"Wie meinst'n das, Eisenvater?" wollte Brockenhau wissen.

"Das siehste gleich!" antwortete der Häuptling von Täppenwinkel schlau grinsend. Er hob er die Hände vor die Lippen.

"Alraune!" brüllte er. "Komm' mal her!"

Als dann Alraune mit zierlichen Schritten herbeigetrippelt kam und einen Knicks vor den beiden Häuptlingen machte, wobei sie ihr Gesicht in die tausend Falten eines bezaubernden altmädchenhaften Lächelns legte, stutzte Brockenhau Steinbrecher kurz, dann lachte er laut auf. Er hieb seinem Täppenwinkler Amtskollegen so kräftig auf den Rücken, dass dieser dröhnte wie ein halbleeres Bierfass.

"Ha, Eisenvater, du bist'n Fuchs!" rief er vergnügt. "Das is' ne bessere Strafe für den jungen Heißsporn, als mir je eine eingefallen wär'!"

 

*

 

Barn blinzelte müde in die Flammen des großen Feuers auf dem Dorfplatz. Sie brannten langsam nieder, genau wie sich auch die Nacht, die Burschweih und das Fest dem Ende entgegenneigten.

Er hatte trotz seiner Wade tapfer getanzt und war dabei nicht besonders oft auf Skjörgas Füße getreten. Dann war er zusammen mit den anderen Weihburschen und den Mädels an eine lange Tafel gesetzt worden, und man hatte Bratwurst und Bier aufgetragen. Auch die Burschen aus Schneeschiss durften bei ihnen sitzen, sogar der verbissene Nerf Steinbrecher, doch der blieb den ganzen Abend über stumm.

 

"Alles noch von deiner Sau!" hatte Barns Mutter augenzwinkernd gesagt, als sie Holzplatten mit gebratener Wurst brachte. "Aber die Zicka hat mir gesagt, dasse dir verzeiht, weil du das Dorf von dem Teufel befreit hast." Und sie hatte ihrem Sohn einen rauen Kuss auf die Wange gegeben, der dem von Wolkenbrand Eisenvater kaum nachstand.

Die Platte aber hatte Mutter Halmschmid vor Skjörga hingestellt. "Un' du sieh' zu, daste mein' Sohn immer gut versorgt hältst, Mädel!" hatte sie ihr befohlen, denn es war die Aufgabe der Mädels, ihren Weihburschen bei der Feier stets mit Essen und Bier zu versorgen; und die Aufgabe der Mütter der Burschen, die Mädels dabei argwöhnisch zu überwachen.

Später hatte es weitere Lieder vom Skalden gegeben, Ansprachen vom Häuptling, dem Goden und dem schnaufenden Schnodd Bierbrauer; kleine Kinder waren brüllend zu Bett geschickt worden, größere prügelten sich bei den Tischen um die halbleeren Humpen und die Bratwurstreste; und überall wurde gesungen, gezecht und gelacht.

Irgendwann einmal war dann Barns Kopf müde zur Seite gesackt und hatte im Schoß der liebevollen Skjörga ein weiches Lager gefunden.

"Ich glaub', ich könnte dich richtig mögen, Barn Halmschmid!" hatte sie über ihm gelächelt, während ihr blondes Haar wie ein Seidenzelt um sein Gesicht niederhing. "Du machst so lustige Dinge!"

"Ho, Mädel!" hatte Barn müde genuschelt. "Dann geh'n wir jetz' zum Jungfernstein, hm?"

"Schlaf ers'ma', mein Held", war Skjörgas Antwort gewesen; und während sie sanft begonnen hatte, seine Muskeln zu massieren, war er hineingeglitten in eine dunkle, warme Welt traumlosen Schlafs. 

 

Bis der bittere Ton des Ochshorns ihn weckte und er die Gestalt von Wolkenbrand Eisenvater breitbeinig vor dem niederbrennenden Feuer stehen sah.

"Neue Krieger von Täppenwinkel!" rief der Häuptling mit schwerer Zunge. "Leider muss ich euch nochmal aus den Armen eurer Mädels reißen. Seht hin zum Osten!"

Barn riss die müden Augen auf und sah, dass sich dort schwer und blass das Grau des frühen Morgens heranschob.

"Es is' immer so gewesen", erläuterte Wolkenbrand, "dass die neuen Krieger vor Tagesanbruch zum Götterzinken ziehen, seinen Gipfel besteigen und bei Sonnenaufgang von dort oben ihre Namen hinauf rufen zu Gott Gruunz, damit er sie kennt und sie am Ende ihres Lebens nach Vollduunheim holen kann. Das wird die letzte Prüfung sein, un' ich bin sicher, sie wird für euch Kerle nich' schwieriger, als 'ne Sau zu futtern!"

Schwer ließ sich der Häuptling wieder auf seine Bank nahe am Feuer fallen und nahm seinen Humpen hoch. Dann versenkte er gurgelnd sein Gesicht darin.

"Ich trinke auf euch, Jungs!" sagte er dumpf. "Nu' geht!"

 

Schwankend und mürrisch brummend erhoben sich die fünf jungen Krieger von ihrem Tisch. Ihre Sinne schwammen in einer trüben Lake aus Bratwurstfett und Bier und machten es ihnen schwer festzustellen, wo der Boden endete und der Himmel begann.

Der kleine Fran Mannhau fiel zweimal flach aufs Gesicht, bis er mit tiefer Zufriedenheit feststellen konnte: "Mein Kopp is' noch dran, sons' tät er nich so weh!"

Barn rieb sich brummend den Schädel und murrte: "Wo issen der, der Götterzinken?"

"Nach Süden, alter Freund!" rief Joggurd mit einer Begeisterung, die alle anderen schmerzte. Er zeigte auf die tiefe Kerbe zwischen den dunklen Schatten zweier Berge, dem Tormann und dem Passwächter. Dort konnte man oben vom Gipfel der Weißhöh an klaren Tagen auf eine weite, im Sommer graugrüne Ebene sehen, die von den Kriegern verächtlich 'Die Weichlande' genannt wurde. Dort begann für die meisten Nordmänner bereits der Süden.

 "Wir werden unsere Namen zu Gruunz rufen, un' dann, an dem Morgen, der diesem hier folgt, werden wir schon losziehen, dem Abenteuer entgegen!"

Der ganze Lärm weckte die schöne Skjörga seufzend aus dem Schlaf.

"Wassen los?" rief sie augenreibend.

"Ich muss... wohin..." antwortete Barn schwer.

Skjörga kicherte. "Aber das kannste doch gleich hier machen. Ich hab' keine Angst, dein Ding zu seh'n!"

Barn grunzte träge. Was redete das Mädel da?

"Ich muss zum Götterberg un' da was rufen...", erklärte er weiter.

"Ach", machte Skjörga enttäuscht. "Nun, dann nimm das mit, daste mich nich' vergisst!"

Sie hielt Barn eine kleine Faust entgegen. Barn öffnete sie neugierig und fand darin eine Locke blonden Haars. "Was issen das?" fragte er. "Mussich das ess'n?"

"Es würd' mich freuen, wenn du das ab jetz' für immer bei dir trägs'." Skjörga umarmte Barn, drückte sich an ihn und gab ihm einen Kuss, dass dem jungen Barbaren ganz schwindelig wurde. Dann stieß sie ihn kräftig vor die Brust. "Jetz' hau ab. Un' komm' als richtiger Krieger heim. Ich wart' vielleicht in deim Bett auf dich... "

Mit einem Zwinkern wandte sie sich ab und verschwand in der Dunkelheit.

 

*

 

Mit trägen Lidern stapfte Barn durch knirschenden Schnee dem Morgengrau entgegen. Er fühlte sich schwach und fror ganz erbärmlich.

Ho! Wenn er gewusst hätte, dass es als Krieger kaum anders war als als Bursche, der vor Sonnenaufgang von seiner missgelaunten Mutter nach Feuerholz geschickt wurde, hätte er sich die ganze Sache mit dem Balken und der Jagd und der Sau und dem Teufel und der Brücke noch einmal überlegt.

Aber da war er ja auch schon wieder, zufrieden gebettet in Skjörgas weichen Schoß, ihre warmen Hände in seinen Haaren. Er stolperte, erschrak und erkannte, dass er im Gehen eingeschlafen war und geträumt hatte.

"Ho, Barn, alter Kumpel, häng' nich' so durch!" kam von vorne die fröhliche Stimme von Joggurd.

Barn verkniff unwillig die Augen. Soviel Frohsinn an einem solchen Morgen war ihm völlig unverständlich!

Er blieb einen Moment stehen und holte so tief Luft, dass ihm fast schwindelig wurde. Dann straffte er seine breiten Schultern und stieß ein trotziges "Ho!" aus.

Was sollte er noch einmal tun? Irgendwohin gehen und irgendetwas rufen? Klar doch, bei Gruunz, wenn es sonst nichts war!

Mit weiten Schritten zog er an den anderen Jungkriegern vorbei und achtete nicht auf ihre spöttischen Rufe, die sich meist auf Dinge bezogen, die er der Meinung seiner Kumpels nach wohl nicht mehr abwarten konnte, mit Skjörga anzustellen.

 

Barn ging und ging und sah den Himmel über sich heller werden. Ein erster dunkelroter Schein schob sich wie das Widerleuchten eines fernen Brandes unter die Wolkenbäuche.

Als er die Waldspitze am weitauslaufenden Fuß des Tormanns passierte, glomm der Osten zu seiner Linken bereits in fahlem Orange. Ferne, zackige Gipfelketten zeichneten sich dort ab, Ausläufer der gewaltigen Bergriesen des Hochnorlandes, die bis weit nach Süden und Osten, nach Norik, Korst und Kümmerien reichten.

Und während Barn an den zackigen, ewig vom Wind durchheulten Schründen des Passwächters auf der rechten Seite vorbeilief, glühte der Horizont in strahlendem Gelb.

Dann lag nur noch die einsame, schwindelhohe Felsnadel des Götterzinkens zwischen ihm und den weiten, schneeüberzogenen Hügelketten der Weichlande.

 

Barn blieb stehen, berauscht vom Licht, der Weite und den Nachwirkungen von dreieinhalb schlaflosen Nächten.

Nach einer Weile des Schwankens und Stehens lief er weiter. Es war schön, so in den beginnenden Tag zu laufen. Er fühlte sich völlig entspannt und schwerelos. Trotzdem stolperte er manchmal und fiel zu Boden, schmeckte Erde und Schnee und Blut im Mund. Aber das war gut. Alles war gut. Er lief und lief und lief. Im Rhythmus seines Atmens wurden alle Empfindungen gleich. Schmerz und Freude, Müdigkeit und Rausch, alles verschmolz zu einer tiefen Bewusstlosigkeit, einem selbstvergessenen, allumfassenden Taumel. Er war nur noch wie ein Lichtstrahl, der dahinschoß auf seinem Weg in die Ferne des Morgens. Er konnte überall hingelangen.

 

Barn lief am Götterzinken vorbei. Unter seinen durchnässten Fußlappen stob der gefrorene Morgenschnee auf. Über die sanfter werdenden Hügel führte ihn seine ziellose Reise, hinunter in die weiten, noch im Griff des Winters erstarrten Marschen. Gegen Mittag streiften die ersten harten Büschel des grauen Grätgrases, die wie trotzige Igel unter dem Schnee ausharrten, seine Waden. Am späten Nachmittag wurden seine Schritte unstet, er fiel immer öfter, und schließlich blieb er in einem weichen Beerenbusch liegen. Er schlief eine Nacht, einen Tag und noch eine Nacht. Als er wieder erwachte, stand die Sonne schon hoch im Himmel. Er sprang sofort auf und begann weiterzulaufen, immer nach Süden. Irgendwohin sollte er, und seinen Namen rufen, erinnerte er sich. Dann würde er ein Krieger werden und konnte zurück nachhause, zu seinem Mädel und den Kumpels, zu Bier, Würfelspiel und gebratenen Schweinebeinen.

Während er weiter die drängende Kraft des Laufens spürte, wurde seine Erinnerung an den Zweck des Laufs langsam schwächer. Vor ihm tauchten neue Berge aus dem Weiß der Ebene auf. Das waren die Sonnenzacken, die Grenze zur zivilisierten Welt - was Barn natürlich nicht wusste. Dahinter lagen die Grenzstadt Brucken, das Burgenland und das Daal, die ganze Weite des sterbenden Großreichs Myr Mamon, das sich bis hinunter zog in die Länder, wo die Menschen dunkel waren und Schnee höchstens aus den Berichten Reisender kannten.

In dieser Nacht schlief Barn in einer Schneewehe, in der nächsten in der eingestürzten Wohnhöhle eines Schneekaters.

Am fünften Tag erreichte er die nördlichsten Ausläufer der Sonnenzacken. Er stillte seinen Durst an einem eiskalten Gebirgsbach und aß einen Hasen, über den er gestolpert war, roh und mit Fell.

Gegen Abend hatte er die Passhöhe, die Klödenkluft, erreicht und schlief dort unter dem jammernden Nordwind ein. Während der Nacht rollte ihn der Wind zwanzig Schritt weit den Felspfad hinunter nach Süden, über die unsichtbare Grenze der Nordprovinz von Myr Mamon.

 

So kam Barn Halmschmid von Täppenwinkel, den viele – selbst seine eigenen Leute - später nur 'Den Barbaren' nannten, zum ersten Mal in die zivilisierte Welt, einerseits ein gerühmter Kämpfer seines Dorfes mit einem eigenen Humpen und einem beschrifteten Hocker im Männerhaus, andererseits nicht wirklich zum Mann geworden, weil er vergessen hatte, seinen Namen vom Götterzinken hinauf zu Gruunz zu rufen.